Wer eine Freude an sich fesseln möchte,

der stutzt dem Leben die Flügel;

aber wer die Freude küsst, wie sie ihm zufliegt,

lebt im Sonnenaufgang der Unendlichkeit.

 

William Blake benennt hier in wunderbar poetischer Weise die größte Schwierigkeit aller Menschen und weist gleichzeitig auf die  Möglichkeit hin, sich über sie zu erheben und ein Leben im Sonnenaufgang der Unendlichkeit zu führen.

Doch wie jeder bestätigen wird, sind diejenigen, die im Sonnenaufgang der Unendlichkeit leben, selten; die Versuchung, jede Freude, die uns das Leben schenkt, festhalten und konservieren zu wollen, ist allzu groß. Egal wie oft wir erleben, dass dies ein Ding der Unmöglichkeit ist, die meisten meinen weiterhin, dass sie es nur noch einmal und ein wenig anders versuchen müssten, dann würde es schon irgendwie klappen.

Nun gibt es diese Fixierung auf Freude auf verschiedenen Ebenen. Aber zunächst einmal brauchen wir eine Definition: Was ist Ānanda/Freude überhaupt, worauf beruht sie? Um dies zu beantworten, muss man zuerst bestimmen, auf welcher Ebene wir uns bewegen. Denn:

Einerseits ist Ānanda eine Erfahrung,

die wie alle Erfahrungen, kommt und geht.

Andererseits ist Ānanda dasselbe wie dein wahres Selbst;

und da das wahre Selbst ungetrennt ist von allem,

ist Ānanda dasselbe wie Alles.

Wie stets im Advaita Vedānta beginnen wir mit dem Einfachen, also unserer Erfahrungswelt: der erfahrenen Freude, oder besser, den erfahrenen Freuden, denn da sie stets auf- und abtauchen, erleben wir viele verschiedene Freuden.

Freuden

Eine Freude auf der Erfahrungsebene beginnt bei dem kleinen Moment, der dir ein Lächeln aufs Gesicht zaubert, etwa, weil nach vielen Regenstunden die Sonne durch die Wolken blitzt. Oder bei dem wohligen Gefühl, dass dich durchströmt, wenn du durchgefroren, ein heißes Getränk zu dir nimmst, oder durchgeschwitzt einen stillen kühlen Raum betrittst. Es gibt viele solcher Freuden, und wer auf sie achtet und sie wertschätzt, hat automatisch ein glücklicheres Grundgefühl als wer sie missachtet und gering schätzt. An einzelne dieser kleinen Freuden klammert man sich meist nicht, aber wenn es insgesamt zu wenig werden, dann zeigt sich doch, wie stark die eigene Fixierung auf sie ist. Die einen reagieren mit Niedergeschlagenheit und Frust, andere mit schlechter Laune und Ärger.

Handelt es sich bei den verminderten oder ausbleibenden Freuden um solche mit mehr Gewicht – eine (nicht bestandene) Prüfung, ein (überbuchter) Urlaubsflieger, ein (im Schloss abgebrochener) Haustürschlüssel, ein Computercrash, der Trennungswunsch des Partners oder gar die Diagnose einer unheilbaren Krankheit ­– in solchen Fällen sind die Reaktionen besonders gravierend. Aus Niedergeschlagenheit wird Depression, aus Frust wird Verzweiflung, aus schlechter Laune wird Gereiztheit, aus Ärger wird Wut.

All dies fällt im Vedānta unter rāgā, d.h. jemand, der von rāgā regiert wird, ist jemand, der auf die Freuden im Leben fixiert ist. Was braucht man, wenn man an dieser Fixierung leidet? Vairāgya oder Vi-rāga – die Fähigkeit, sich über die Fixierung auf rāgā zu erheben. Und was braucht man, um das zu können? Im Folgenden zähle ich nur kurz einiges auf, was einem dabei hilft.

  1. Man braucht Realismus, und Realismus ist Ausdruck von Reife. Nur ein reifer Mensch kann vairāgya haben. Das Parade-Gegenbeispiel ist ein Kind im Ungleichgewicht oder in der Trotzphase. Es hat keinerlei Frustrationstoleranz und keinerlei vairāgya. Wie entsteht Reife? Reife reift, man kann sie nicht aus dem Boden stampfen, sie braucht ihre Zeit. Reife entsteht durch das langjährige Praktizieren von Karma Yoga 1.
  2. Man braucht einen friedvollen mind, shama. Dieser entsteht durch Meditation und Gebet.
  3. Man braucht die Fähigkeit, die eigenen Sinne so zu zügeln, dass sie einen nicht durchs Leben schleifen, dama. Diese Fähigkeit beruht auf Entschlossenheit und Willenseinsatz.
  4. Man braucht Unterscheidungsfähigkeit, viveka. Diese beginnt mit der einfachen Fähigkeit zu bestimmen, was in einer Situation wichtig ist und was nicht.

Wer solche und andere Gegenmaßnahmen ergreift, wird es schaffen, nach und nach eine positivere Grundstimmung im Leben zu erlangen. Selbst wenn die Freuden sich regelmäßig wieder verabschieden, bleibt er gelassen und guten Mutes.

Aber eine nachhaltige Lösung ist das nicht. Um in dem Bild zu bleiben: Bestenfalls ist es ein Leben im Sonnenaufgang der Unendlichkeit. Das ist schon ganz schön gut! Doch Vedānta stellt noch etwas viel Besseres in Aussicht: ein Leben nicht nur im Aufgang der Unendlichkeit, ja, nicht einmal nur im Zenith der Unendlichkeit, sondern ein Leben als die Unendlichkeit selbst.

Unendlichkeit

Aber wieso denn eigentlich Unendlichkeit? Was hat Unendlichkeit mit dem Thema Freude zu tun? Sehr viel. Im Vedānta heißt es: Du bist sat-chit-ānanda. Und woanders wird dasselbe noch einmal in anderen Worten ausgedrückt: Du bist satyam-jnānam-anantam. Ānanda bedeutet Glückseligkeit, reine grundlose Freude. Ananta bedeutet Grenzenlosigkeit/Unendlichkeit.

Ananta und Ānanda werden quasi gleichgesetzt. Erinnere dich an Momente großer Freude in deinem Leben, und du merkst, wie sich alles in dir ausdehnt, dein Herz wird weit und weiter, du lächelst, strahlst, vielleicht breitest du die Arme aus als wolltest du die Welt umarmen. Und je größer die Freude ist, desto weiter fühlst du dich. Und das ist nur die erfahrene Freude.

Nun stelle dir das Grenzenlose vor, die Unendlichkeit. Das ist an sich ein Ding der Unmöglichkeit, aber denke in die Richtung. Und wenn du dir dann noch vorstellst, du selbst seist dieses Grenzenlose, dieses Unendliche, bekommst du einen Geschmack davon, wieso dies gleichgesetzt wird mit Ānanda, reiner, grundloser Freude.

Und was sagt die Logik? Sie sagt: Ist doch klar, in der Unendlichkeit ist ja alles drin. Wenn ich Unendlichkeit bin, dann fehlt mir nichts, und wohin sollte mir dann etwas verloren gehen? Es gibt ja neben mir nichts anderes. Nur weil mir normalerweise ständig etwas fehlt, bin ich ständig auf der Suche nach freudvollen Erfahrungen und will sie unbedingt festhalten, wenn ich sie erlangt habe. Aber wenn ich alles bin, brauche ich nichts mehr festzuhalten. Ich bin ja alles, mir kann gar nichts mehr verloren gehen – und natürlich ist das dasselbe wie reine, grundlose Freude.

Das Ananta, was du bist, zeigt sich also als Ānanda. Wenn du nicht erleuchtet bist, dann weißt du nicht um deine wahre Natur als ananta. Wenn du erleuchtet bist, dann weißt du es. In beiden Fällen gibt es Erfahrungen von Freude, ānanda. Der Unterschied besteht darin, dass du ohne das Wissen um dich als ananta, das Gefühl hast, die Freuden suchen und festhalten zu müssen. Mit dem Wissen um dich als ananta bist du frei von dieser Vorstellung, weil du weißt, dass du, ananta, die ewige Quelle jeder Freude bist.

Ja, wirklich: die ewige Quelle jeder Freude.

Fußnoten:

  1. Essays zu Karma Yoga: Was kann ich tun? (7-2011), Hingabe (5-2011), Schritt für Schritt (6-2012), Das große Spiel des Lebens (2-2013), Disziplin (7-2013), Umgang mit Identifikationen (8-2014), Gott? (8-2012), Die Wahrheitssuche und die Zeit (9-2011)