Was braucht der Sucher, um die Wahrheit zu erkennen? Der Sucher braucht ein solides Fundament aus verschiedenen Eigenschaften – wie Gelassenheit oder Unterscheidungsfähigkeit. Vor allem aber braucht er einen Wunsch. Das mag viele überraschen, einen Wunsch?!

Wünsche gelten bei der spirituellen Suche oft als Hindernis. Aber ebenso wie Advaita Vedanta den Verstand als unverzichtbares Instrument schätzt, wenn er in der richtigen Weise eingesetzt wird, so wertschätzt Advaita Vedanta auch das Wünschen, wenn es in die richtige Richtung geht.

Der Sinn des Lebens besteht gemäß dem Advaita Vedanta darin, dass wir unsere wahre Natur erkennen, also erleuchtet werden. Wer sich auf die Suche nach der Wahrheit machen will, wer seine wahreNatur entdecken will, kurz, wer diesen spirituellen Weg gehen will, der muss auch den Wunsch haben, anzukommen.

Dieser Wunsch ist unser höchstes Gut! Die Sehnsucht nach der Wahrheit muss brennen – nur dann haben wir die Chance, dass sie sich uns offenbart. Nur dann gehen wir weiter, auch wenn der Weg mal steinig ist. Das Feuer der Sehnsucht muss brennen und immer wieder angefacht werden, auf dass es alle Hindernisse auf dem Weg verzehrt.

Advaita Vedanta fordert den Sucher also auf, dieser Sehnsucht Raum zu geben und alles zu tun, was sie nährt. Viele Menschen spüren sie – sie wissen jedoch nicht, was sie mit ihr anfangen sollen. Die einen versuchen auf verschiedenste Weise, ihre Sehnsucht zu stillen – durch Essen, durch Beziehungen, durch esoterische Rituale usw. Andere stellen sich über ihre Sehnsucht, bezeichnen sie als kindisch oder unerfüllbar. Beide stehen ihr hilflos gegenüber, denn hier im Westen gibt es kaum Angebote, die dem Sucher systematisch unter die Arme greifen.

Eins der wichtigsten Anliegen des Advaita Vedanta besteht darin, Klarheit zu schaffen. Das bedeutet, eindeutige Definitionen bereit zu stellen, für alles, was dem Sucher auf dem Weg begegnet. So definiert es auch diese Sehnsucht:

„Die Sehnsucht nach der Befreiung (moksha) ist der Wunsch,

 frei von der Identifikation mit der Unwissenheit zu sein,

 angefangen von der Ich-Identität bis hin zum grobstofflichen Körper selbst –

durch die Erkenntnis der eigenen wahren Natur.“

Vivekachudamani 27

Ein Zitat aus dem zweiten Teil des November-Essays:
Nur die Erkenntnis dessen, was ich eigentlich bin, lässt mich dauerhaft zur Ruhe kommen. Ich bin ja schon das, was ich suche. Ich muss es nicht herstellen. Das Problem ist: Ich weiß es nicht – nicht wirklich, nicht immer oder überhaupt nicht.
Was mir also fehlt, ist eine innere Gewissheit, die sich durch nichts und niemanden wieder verflüchtigt, die so tief in mir ist, wie die Gewissheit, dass ich bin. Eine solche innere Gewissheit zu erlangen, ist Ziel der spirituellen Suche. Alle anderen Ziele mögen gut und richtig sein, doch sie führen mich stets zurück auf den Weg, halten mich im Stadium der Suche gefangen.

Der erste Schritt ist also, die eigene Sehnsucht willkommen zu heißen und bereit zu sein, alles zu tun, was notwendig ist, um sie zu stillen.

Der zweite Schritt besteht darin, anzuerkennen, dass das, was mir fehlt eine Erkenntnis ist, und dass keine noch so schöne Erfahrung mir diese Erkenntnis bescheren wird. Wie aber erlange ich sie dann?

„Unter allen Methoden, die zur Befreiung führen,

ist die Hingabe die höchste.

Ernsthaft darum bemüht zu sein, die eigene wahre Natur zu erkennen

– das nennt man Hingabe.“

Vivekachudamani 31

Was heißt das konkret? Zuallererst heißt es: Wenn ich bisher nicht darum bemüht war, meine eigentliche Natur zu erkennen, dann muss ich umdenken. Denn solange ich Erfahrungen, Hochgefühlen, Dramen nachjage, komme ich nicht weiter. Auch wenn es frustrierend ist, weil ich ja noch nichts habe, was an seine Stelle tritt: Wenn ich die Erkenntnis der höchsten Wahrheit will, muss ich damit aufhören. Ich muss die Frustration aushalten, dass mein bisheriges Bemühen mich nicht an mein Ziel gebracht hat – auch wenn ich Jahre damit zugebracht habe, auch wenn ich all meine Energie, mein Geld und meinen Ehrgeiz in meine Jagd nach Erfahrungen investiert habe. Sicher, ich bin um intensive Erfahrungen reicher, habe fantastische Gefühle gekostet und dramatische Tiefpunkte durchlitten. Aber so kann es ewig, Leben um Leben, weiter gehen.

Wenn ich den Weg vollenden will, dann muss ich mich umorientieren. Am Anfang dieser Umorientierung steht die Frustration, doch am Ende steht die Freiheit:

„Zwei sind es, verborgen im Geheimnis des Unendlichen:

die Unwissenheit und die Erkenntnis.

Die eine ist vergänglich, die andere unsterblich.“

Svetasvatara Upanishade

Im Wissen, dass unsere Unwissenheit vergänglich ist, können wir uns daran machen, sie zu beheben, um die Freiheit zu erlangen.

zuletzt editiert am 20.10.2018