Unter den Wahrheitssuchern gibt es zwei Gruppen. Die einen lieben es, ihren Mind zu kultivieren und eine scharfsinnige Buddhi zu entwickeln.1 Sie wollen die heiligen Schriften studieren und mithilfe der vom Lehrer angewandten Lehrmethode durch und durch verstehen. Die anderen lieben das Gefühl der Hingabe und wollen sich vor allem in Liebe verströmen. Beide Gruppen neigen dazu, die jeweils andere Gruppe geringzuschätzen. Doch sind die logisch funktionierende Buddhi und die Hingabefähigkeit wie zwei Flügel. Mit nur einem Flügel kann man nicht fliegen. Gemäß dem Vedanta muss man beide Flügel einsetzen; nur dann wird der Wahrheitssucher zum Wahrheitsfinder.

Letztlich gibt es den rein intellektuellen Typus unter den Suchern ebenso wenig wie den reinen Hingabe-Typus. Alle Menschen haben etwas von beiden. Wer eher zum Hingabe-Typus gehört, ist im spirituellen Bereich emotionsgesteuert, und er/sie setzt in diesem Bereich alles ein, nur nicht seinen Intellekt. Der Hingabe-Ansatz prägt alle Religionen der Welt, und so fehlt auch den meisten Wahrheitssuchern erst einmal eine gut funktionierende Buddhi.

Daher sind die meisten Essays so angelegt, dass sie die Buddhi herausfordern und stärken. Wie Ihr wisst, habe ich aber auch immer wieder über die Wichtigkeit der Hingabe geschrieben, die man im Gebet übt, die aber letztlich in der vollständigen Hingabe der eigenen Ich-Idee mündet.

In diesem Essay geht es vor allem um die Sucher, denen der intellektuelle Zugang leicht fällt, die aber mit dem Aspekt der Hingabe auf Kriegsfuß stehen.

Der emotionale Mind (Manas) und die Buddhi

Über die Buddhi als Ressource des Erkenntnissuchers habe ich schon oft geschrieben, und die Qualität dieser Ressource ist tatsächlich ausschlaggebend für Moksha. Ein Mind, der von Manas, dem emotionalen Mind, regiert wird, ist nicht erkenntnisfähig.

Die intellektuell starken Sucher verfügen oft über die ideale Buddhi, um den Weg der Erkenntnis erfolgreich zu beschreiten. Wenn sie dennoch nicht ans Ziel kommen, dann liegt das daran, dass der zweite Flügel lahmt: die Bereitschaft zur Hingabe. Sie wissen alles, verstehen alles, können alles erklären, aber die höchste Erkenntnis fehlt, und das wissen sie natürlich auch.

Nun, dass diese Sucher intellektuell so gut sind, bedeutet nicht, dass sie frei von emotionalen Fixierungen sind. Es mag sogar so sein, dass solche emotionalen Fixierungen die Buddhi für sich vereinnahmen. Im psychologischen Sprachgebrauch nennt man das „Emotionen werden rationalisiert“, d.h. sie kommen scheinbar als Buddhi daher.

Meistens entlarvt eine scharfsinnige Buddhi dieses Manöver recht schnell und lässt sich die Regierungsgeschäfte nicht aus der Hand nehmen. Aber nicht immer gelingt es ihr, und dann scheint es nur so, als hätte die Buddhi die Oberhand. Tatsächlich werden die wertvollen Fähigkeiten der Buddhi gar nicht mehr dazu eingesetzt, die Wahrheit zu erkennen, sondern vor allem dazu, die eigenen Emotionen in Schach zu halten – was kurzzeitig funktioniert, aber eben nur kurzzeitig. Letztlich bleibt emotional alles beim Alten. Und erkenntnismäßig leider auch: Die Erkenntnis der Wahrheit bleibt aus.

Deshalb lohnt es sich – ohne allzu tief in die psychologischen Hintergründe einzusteigen – diese emotionalen Fixierungen genauer zu analysieren.

Macht und Machtlosigkeit

Emotionale Fixierungen sind desto einflussreicher, je länger sie existieren und je kraftvoller die Erfahrungen sind, die ihnen ursprünglich zugrunde liegen. Solche frühkindlichen oder PastLife-Fixierungen haben ihren Ursprung in  Ohnmachtserfahrungen. Das klingt dramatisch und ist es manchmal auch. Aber oft sind es die vielen, ganz gewöhnlichen Situationen in der Kindheit oder im Leben überhaupt, die einem klarmachen, wie machtlos man ist.

Jeder erlebt diese Situationen. Sie können zu einer Fixierung werden (allerdings nicht notwendigerweise), und dann ist das Leben dominiert von der Haltung „Ich will so etwas auf keinen Fall wiedererleben!“ (dvesha) oder „Ich will unbedingt, dass dies oder das geschieht, nur dann bin ich sicher!“ (raga)2

Warum sie zur Fixierung werden, ist hier unerheblich, denn was zählt, ist das Ergebnis: die Fixierung hat einen im Griff.

Die psychologische und die spirituelle Lösung

Raga/dvesha – „ich will unbedingt“ oder „ich will auf keinen Fall“ – ist der Treibstoff, der Manas in Gang hält. Es gibt viele Methoden, die raga/dvesha schwächen, und wenn man eine gefunden hat, die für einen funktioniert, dann sollte man sie einsetzen.

Die Frage ist: Gibt es einen Schlüssel, der raga/dvesha nicht nur schwächt, sondern aushebelt? Antwort: Ja, den gibt es, aber nicht jeder ist bereit, ihn einzusetzen.

Es geht also um Machtlosigkeit und ihre Folgen. Die spirituelle Lösung unterscheidet sich hier von der psychologischen. Die psychologisch wirksame Maßnahme besteht darin, dem Menschen klar zu machen, dass er/sie tatsächlich doch etwas ausrichten kann. Auf neudeutsch heißt das Empowerment, Selbstermächtigung. Dies ist sinnvoll und wird die Fixierung schwächen, aber es wird die Fixierung nicht aushebeln.

Was der Fixierung ihre Macht nimmt, ist genau das Gegenteil: Das Anerkennen der eigenen, existentiellen Hilflosigkeit. Dies verlangt sehr viel Reife: Ich muss abstrahieren von den besonderen Erlebnissen der Machtlosigkeit, die ich hatte und die in mir eine Reaktion hervorgerufen haben – welche als emotionale Fixierung meiner spirituellen Erkenntnis jetzt im Wege steht

Stattdessen gilt es nun, anzuerkennen, dass die Machtlosigkeit, die ich erlebt habe, eine einfache Tatsache des Lebens ist, nicht mehr und nicht weniger. Das heißt, anzuerkennen:

Ich BIN hilflos.

Immer.

Das ist kein Drama.

Es ist Fakt.

Ich habe die Macht, dies oder jenes zu tun. Aber ich habe keine Macht darüber, ob am Ende das herauskommt, was ich mir vorgestellt hatte. Niemand hat diese Macht. Alle Lebewesen sind betroffen von derselben existentiellen Hilflosigkeit.

Der Schlüssel

Doch nicht einmal diese Einsicht reicht aus. Es braucht noch einen weiteren wichtigen Schritt: die Bitte um Hilfe.

Indem Advaita Vedanta dem Sucher das Gebet ans Herz liegt, baut es ihm eine Brücke und sagt:

Ja, die Hilflosigkeit ist eine Tatsache, die du anerkennen, benennen und fühlen musst. Das ist der erste Schritt.

Und: Du darfst, ja, du sollst sogar, um Hilfe bitten.

Warum „sollst“? Weil erst in dem ausgesprochenen, gefühlten „Bitte hilf mir!“ die volle Anerkennung der existentiellen Hilflosigkeit verborgen liegt.

Wen um Hilfe bitten? Das Göttliche, also die Gesamtheit aller natürlichen Gesetzmäßigkeiten, die in diesem Universum gelten, und die man gerne personifizieren darf.3

Und warum wirkt das? Weil, wie Swami Paramarthananda sagt, ein emotionales Problem eine Lösung auf emotionaler Ebene braucht. Und Beten ist genau das.

Wenn allerdings das Anerkennen der eigenen Hilflosigkeit halbherzig ist, dann wird der Hilferuf es erst recht sein. Das Gebet ist dann kein Bitten sondern ein bloßer Ausdruck von raga/dvesha, ein „Hilf mir, dass alles so wird, wie ich es will bzw. dass das, was ich nicht will, auch nicht passiert.“ Damit kann es nicht mehr als Schlüssel dienen, um raga/dvesha auszuhebeln.

Dass der Betende auch mal um konkrete Hilfe bittet, ist menschlich und okay. Aber grundsätzlich sollte stets klar sein:

Die Bitte um Hilfe ist kein Einfordern von diesem oder jenem, sondern ein bedingungsloses Sich-Öffnen für das, was das Leben bringt – verbunden mit der Bitte, man möge in der Lage sein, es bestmöglich zu bewältigen.

Das Leben ist niemandem etwas schuldig, siehe Essay 12–2014.4 Wer diese Tatsache zutiefst versteht und annimmt, ist ein reifer Mensch. Und nur ein reifer Mensch hat den Kopf frei für den Erkenntnisweg.

Wer den Kopf frei dafür hat, sich um die Erkenntnis zu bemühen, der kann sie erlangen. Und meine Erfahrung ist: Wenn so ein Mensch sich darum bemüht, wird er die Erkenntnis erlangen.

Fußnoten:

  1. Genaueres zu Manas und Buddhi, steht im Juni-Essay, 2018
  2. raga/dvesha, siehe Essay 09-2017, Buddhi-Fitness-Training
  3. Zum Thema Gott und Beten gibt es die folgenden Essays:

    05-11 Hingabe

    06-12 Schritt für Schritt

    08-12 Gott?

    12-13 Dankbarkeit

    02-13 Spiel des Lebens

    12-14 Vertrauen

    02-15 Das größere Ganze

    07-15 Christentum-Advaita Vedanta

  4. Vertrauen, Essay 12-2014