In unserer vernetzten Welt haben wir jederzeit Zugang zu beinahe jeder nur möglichen Information. In spiritueller Hinsicht ist dies manchmal ein Segen, manchmal nicht. Für den, der genau weiß, was er braucht, ist es ein Segen. Den, der es nicht weiß, führt es in ein Labyrinth – was vor allem daran liegt, dass er gar nicht weiß, dass er sich in einem Labyrinth befindet.

Jeder Mensch, auch der nicht-spirituelle, ist auf der Suche nach dem, was er eigentlich ist, weil jeder Mensch instinktiv weiß, dass nur dieses Wissen ihm Frieden schenken wird. Er ahnt, dass er mehr ist als das begrenzte, abhängige Wesen, als das er sich erlebt. Aber Genaueres weiß er nicht, im Gegenteil: Was ihm in die Wiege gelegt wurde, ist pure Unwissenheit um seine wahre Natur. Er ist also angewiesen auf Information. Insofern der oben erwähnte Segen, denn Information ist, wie gesagt, im Überfluss vorhanden.

Nun zum Labyrinth: Jemand, der sich verirrt hat, kann von Glück sagen, wenn er eine Landkarte dabei hat – allerdings nur, wenn er weiß, wo er sich befindet. Ansonsten ist die Karte völlig nutzlos. Ebenso muss der spirituelle Sucher erst einmal erkennen, wo er steht. Was ihm dabei zunächst klar wird, ist, dass er ein permanentes Gefühl der Unvollständigkeit hat, immer fehlt noch etwas. Das ist sein Status Quo.

Wird ihn das an sein Ziel bringen? Nein, noch nicht. Ebenso wie der Verirrte braucht der Sucher noch eine zweite Information. Er muss wissen, wo er hin will. Jedoch selbst das reicht nicht. Es muss die richtige Karte sein. Der Verirrte, der weiß, wo er steht, wohin er will und die richtige Karte dabei hat, kommt wahrscheinlich an sein Ziel. Der spirituelle Sucher, der sich unvollständig fühlt, der weiß, dass er sich vollständig fühlen will und Informationen darüber erhält, wie dieses Gefühl der Vollständigkeit erreicht werden kann, wird dennoch nicht unbedingt sein Ziel erreichen. Hier endet unsere Analogie.

Warum erreicht er sein Ziel nicht? Weil er seinen Ist-Zustand noch nicht völlig erfasst hat. Der Sucher weiß um das Symptom – das Gefühl der Unvollständigkeit – aber nicht um die „Krankheit“, also die Ursache des Symptoms. Wenn er das Symptom behandelt, mag es vorübergehend verschwinden. Doch weil die ihm zugrunde liegende „Krankheit“ bestehen bleibt, wird das Symptom immer wieder auftauchen. Erst mit dem Wissen um die Ursache entscheidet sich, ob der Sucher eine Chance hat, sein Ziel, Vollständigkeit, zu erreichen. Solange er das Symptom behandelt – „es fehlt was“ –, wird er wahrscheinlich in der Fülle der Angebote, die ihm Vollständigkeit versprechen, untergehen.

Ist es Energiearbeit, die er braucht? Feng Shui? Oder Mentaltraining? Oder Pendeln? Sollte er sich der Lichtarbeit zuwenden oder lieber Kontakt mit Elementarwesen suchen? Die buddhistischen Schriften sind sehr inspirierend, auch der Talmud ist toll, aber irgendwie scheint beides nicht zu greifen. Verbirgt sich die Vollständigkeit vielleicht in einer der vielen alternativen Heilmethoden oder doch eher bei gechannelten Wesenheiten? Und wie wäre es mit Engeln? Man könnte es auch mit Magie versuchen oder ganz einfach die Karten befragen. Meditieren ist ja sehr wohltuend, aber wahrscheinlich muss man noch andere Meditationen ausprobieren, damit es wirklich fruchtet. Sufi Whirling zum Beispiel oder die Frage „Wer-bin-ich?“ kontemplieren. Der letzte Satsangbesuch ist auch schon ein wenig her, mal eben im Internet checken, welcher spirituelle Lehrer als nächstes durchreist. Aber wahrscheinlich muss man erst noch eine gesunde Grundlage schaffen; eine handfeste Psychotherapie, das wär’s doch! Primärarbeit und wegen der Partnerschaft später dann Tantra. Allerdings wird es sicher nicht funktionieren, wenn man nicht auch seine Familie aufstellt, vergeben lernt und die eigenen vergangenen Leben erforscht. Psychodrama soll ja auch sehr effektiv sein. Und dann natürlich Quantenheilung, das ist doch der neueste Hit. Gestern der Abend mit Mantrasingen und Zitaten aus den Upanishaden war sehr erhebend, aber vielleicht reicht auch gekonnte Affirmation? Ist da nicht ein neues Buch herausgekommen? Die Visionssuche nächstes Wochenende findet leider nicht statt. Naja, vielleicht bringt es ja der Klosterurlaub auf Korsika. Da könnte man dann auch die tibetische Todesmeditation ausprobieren.

Dieser innere Dialog wirft ein Licht auf das Labyrinth, in dem sich der Sucher sein Leben lang aufhalten kann, sofern er genug Zeit und Mittel hat – immer von einer Hoffnung in die nächste wechselnd, immer wieder den Geschmack von Vollständigkeit auf der Zunge, doch nie die immerwährende Vollständigkeit findend. Da er nicht die Ursache, sondern nur das Symptom kennt, wird ihm die Vollständigkeit immer wieder abhanden kommen.

Die alles entscheidende Frage ist: Wo liegt die Ursache für das Gefühl der Unvollständigkeit? Wenn das Gefühl der Unvollständigkeit darauf beruhen würde, dass tatsächlich etwas fehlt, dann müsste man nur das Fehlende finden und die Unvollständigkeit wäre behoben. Auf dieser Überlegung beruht die Suche. Das Problem ist, dass keiner mit Sicherheit sagen kann, was fehlt, und so ist der Sucher darauf angewiesen, eins nach dem anderen auszuprobieren; ein frustrierendes Unterfangen, denn die meisten kommen nie dahinter, was das Fehlende ist.

Vedanta dagegen geht davon aus, dass das Gefühl der Unvollständigkeit nicht auf einer tatsächlichen Unvollständigkeit beruht. Wieso ist es dann da? Antwort: Es beruht auf einem Denkfehler – dem Fehler zu denken, weil es sich so anfühlt, müsse tatsächlich etwas fehlen. Es kann sich aber auch deshalb so anfühlen, weil wir unsere eigentliche Vollständigkeit nicht erkennen können. Vedanta sagt, dass wir bereits vollständig sind, nichts fehlt; dass wir dies jedoch nicht wissen und deshalb ständig das Gefühl haben, dass etwas fehlt. Weil wir nicht wissen, dass eigentlich gar nichts fehlt, sind wir unablässig auf der Suche nach dem Fehlenden, das uns vollständig machen soll. Und übersehen dabei die vollkommene Fülle, die wir bereits sind.

Nun gibt es keinen Beweis dafür, dass es so ist. Es steht in den Upanishaden, die Erleuchteten behaupten es, aber wer weiß ?? Zunächst einmal gilt es, klar zu konstatieren, dass alle Antworten richtig oder falsch sein können. Als nächstes lohnt es sich, das eigene Leben Revue passieren zu lassen. Die meisten haben schon unendlich viele Dinge ausprobiert und immer wieder die gleiche Erfahrung gemacht: Das Versprochene mag sich einstellen, aber es ist nicht geblieben. Das Gefühl, es fehle etwas, ist nach wie vor da. Natürlich kann man seine Suche in gewohnter Weise fortsetzen, und vielleicht, vielleicht, ist ja irgendwann das Richtige dabei.

Man könnte aber auch etwas anderes versuchen: einfach mal davon ausgehen, dass man etwas sucht, was man schon ist. Etwas haben will, das man schon hat. Und dann?

Dieser Schwenk ist eine Revolution, denn mit einem Schlag kann man aufhören, ständig nach neuen Wegen und Methoden irgendwo in der psychologisch-esoterisch-spirituellen Szene zu suchen. Es geht nicht mehr ums Tun, denn kein Tun kann mir das verschaffen, was ohnehin schon da ist. Ich muss nirgendwo mehr hin. Da Tun nicht die Lösung ist, kann ich all die oben aufgezählten Wege ad acta legen. Das heißt nicht, dass ich aufhöre zu meditieren, Reiki zu geben, Mantras zu singen oder ab und zu eine Session zu nehmen – ich verspreche mir nur nicht mehr, dass mich irgendetwas davon von dem Gefühl befreien wird, es fehle mir etwas. Übrigens heißt es auch nicht, dass alles, was ich bereits ausprobiert habe, reine Energieverschwendung war. Viele dieser Methoden helfen dem Sucher bei der Vorbereitung auf den Erkenntnisweg (wenn auch nicht alle).

Ich kann jetzt mein Augenmerk auf das einzige richten, was mir tatsächlich fehlt, nämlich die Erkenntnis dessen, was ich ohnehin schon bin. Und wie mache ich das? Ich wende mich denen zu, denen diese Erkenntnis anscheinend nicht mehr fehlt. Nur ein Lehrer, der um unsere eigentliche Nicht-Dualität weiß, kann mir helfen, die Erkenntnis zu erlangen. Wieso? Weil ich selbst meine Erlebnisse und Erfahrungen nur aus der Perspektive meiner Unwissenheit deuten kann und dadurch stets zu falschen Schlüssen komme. Wenn ich alleine auf die Wahrheit stoßen könnte, hätte ich sie schon gefunden. Ich brauche unbedingt ein Korrektiv. Nur jemand, der die Unwissenheit überwunden hat, kann mir die Perspektive des Wissens vermitteln, das mir fehlt.

Aber könnte ich nicht auch einfach spirituelle Texte studieren? Nein, denn in meiner Unwissenheit bin ich nicht in der Lage, selbst echte Quellen des Wissens richtig zu interpretieren. Das ist leider so. Natürlich kann und werde ich spirituelle Bücher lesen und spirituellen Lehrern zuhören, solange ich „meinen“ Lehrer noch nicht gefunden habe. Aber besser ist es, ihn zu finden.

Das nächste Essay handelt von der Suche nach dem Lehrer. Was für einen Lehrer bräuchte ich, wie finde ich ihn/sie und wie sieht die Arbeit mit ihm/ihr aus.