Immer wieder fragen mich meine Schüler, warum sich so wenige Leute dafür interessieren, wer oder was sie wirklich sind. Für sie ist das kaum zu verstehen, weil es für sie die wichtigste Angelegenheit der Welt ist. Die kurze Antwort: Es kann nicht anders sein, es liegt in der Natur der Sache.

Wer sich ernsthaft auf die Suche nach seiner wahren Natur, dem wahren Selbst, begibt, wird sehr bald davon erfahren, dass der Preis für das Erlangen dieses Ziels, das eigene „Ich“ ist. Das hört sich erst einmal harmlos an und man liest schnell darüber hinweg. Doch liegt genau hierin der Grund verborgen, weshalb die meisten Menschen sich lieber nicht weiter dafür interessieren, wer oder was sie in Wahrheit sind. Es erscheint sicherer, bei dem Ich zu bleiben, das man schon so lange kennt.

Was ist das Ich? Alles, aber auch alles, was man im Leben erlebt, hängt an diesem Ich. Das persönliche Ich ist das, was alles erleidet. Aber es ist auch das, was alles genießt. Das persönliche Ich versagt und erreicht einige Ziele nicht. Aber das persönliche Ich ist auch das, was erfolgreich ist und andere Ziele erreicht. Das heißt, wer das persönliche Ich loslässt, lässt in gewisser Hinsicht auch die Hoffnung auf Glück und Erfolg los.

Auch wer herausfinden will, wer oder was er in Wahrheit ist, hat ein Ziel. Nur ist dieses Ziel anders. Warum? Zum einen ist es ein Erkenntnisziel. Man will nicht irgendwo anders hin, sondern man will erkennen, dass man schon da ist, wo man hinwill. Zum zweiten werden sich diejenigen mit diesem Ziel allmählich klar darüber, dass sie ihr Ziel niemals erreichen werden, wenn sie ihr persönliches Ich mitnehmen wollen.

Das heißt, das persönliche Ich, das sich dieses Ziel setzt, weil es meint, dann endlich frei und in Frieden zu sein, genau dieses Ich wird nicht ans Ziel gelangen. Denn der gesuchte Frieden und Moksha, die höchste Freiheit, ist kein Zustand, den das persönliche Ich erlebt – in der Weise, wie die Erfüllung eines Wunsches das persönliche Ich vorübergehend in einen Zustand des Friedens versetzt.

Der Wahrheitssucher, der vollumfänglich erkennen will, wer er wirklich ist, interessiert sich nicht für vorübergehende Zustände. Er befindet sich daher in einem Dilemma, das ihm gar nicht immer voll bewusst ist: Er/Sie will etwas, was er/sie nie erleben und genießen wird. Nie.

Nur diejenigen, die sich vollkommen klar darüber sind, dass die üblichen Ziele (mehr Sicherheit, mehr Lebensqualität, mehr Engagement für Gemeinnütziges) ihnen keinen ewig währenden Frieden und keine vollkommene Freiheit schenken werden, nur sie lassen sich auf diesen merkwürdigen Handel ein. Sie sind bereit, das einzige zu suchen, was ewigen Frieden und absolute Freiheit verheißt – sogar um den Preis ihrer Ich-Identifikation.

 

Was bedeutet es, das persönliche Ich hinter sich zu lassen?

Die weitverbreitete Angst vor dem Tod zeigt, dass die Vorstellung, das Ich loszulassen, außerordentlich bedrohlich ist. Viele sagen, dass sie keine Angst vor dem Tod selbst haben, sondern vor Krankheit und Siechtum: den körperlichen Schmerzen oder der Angewiesenheit auf andere Leute vor ihrem Tod. Aber ist das wirklich die einzige Angst?

Eine kleine Übung: Genau in diesem Moment klopft der Tod an – JETZT. Seine ganze Ausstrahlung, sein Wesen, machen unmissverständlich deutlich, dass es der Tod ist, der da vor einem steht. Und er sagt, er käme wahrscheinlich in der nächsten Woche vorbei, um einen zu holen. Ohne Krankheit, ohne Siechtum, einfach so. Dann ist er weg.

Wie wäre die eigene Reaktion? Wahrscheinlich kein „Okay, mir geht’s ja gut, ich bin nicht krank. Dann kann ich ja in Ruhe abtreten.“ (Eher kommt es zu einem „Wieso denn jetzt schon? Mir geht’s doch gar nicht so schlecht!“)

Die meisten werden mit irgendeiner Form von Abwehr reagieren: Wie kann man es noch verhindern? Schock, Angst, Hoffnung? Immerhin hat er bei der Ankündigung „wahrscheinlich“ gesagt. Und vielleicht war es ja doch nur ein Hirngespinst. Aber was, wenn nicht?!

Falls man sich irgendwann damit abfindet, dass man den Tod nicht verhindern kann, dann wird einem auf einmal klar, dass man nichts, gar nichts, mitnehmen kann. Und sogleich kommt die Frage auf, ob es nicht doch irgendetwas gibt, das man mitnehmen darf? Man will das persönliche Ich mitnehmen, wenigstens einen kleinen Teil davon. Man will es unter keinen Umständen hinter sich lassen.

Die einen stellen sich feinstoffliche Welten vor, in denen sie mit ihrem Ich im Gepäck weiterleben werden. Andere trösten sich mit der Vorstellung von besseren zukünftigen Inkarnationen ihres Ichs. All dies will ich nicht kritisieren, denn es sind natürliche Vorstellungen. Mir geht es hier nicht darum, den Umgang mit Tod und Sterben zu diskutieren. Worauf es mir ankommt, ist, dass es für fast niemanden eine angenehme Vorstellung ist, das eigene Ich loszulassen.

Man hat in dieses Ich so viel hinein investiert: so viel erlebt, es so toll weiterentwickelt, so viel gelernt, so viel erkannt. Und nun? Alles für die Katz! Man hat außerdem Bindungen an Menschen, an Tiere, an Situationen. Nichts davon ist jetzt noch von Bestand. Ebenso wenig wie das angesparte Geld auf dem Konto, die schönen Kleider im Schrank, das tolle Auto vor der Tür, die nagelneue Wohnungseinrichtung. Alles wird unwiederbringlich verschwinden. Die gesamte Vergangenheit und alle Zukunftsprojekte sind mit einem Schlag null und nichtig.

Vielleicht macht dieses Beispiel deutlich, wie unendlich wichtig einem das eigene Ich ist. Um es ein bisschen nüchterner auszudrücken: wie identifiziert man mit diesem Ich ist.

Tatsächlich ist die Ich-Identifikation die eine Identifikation, die allen anderen Identifikationen zugrunde liegt. Anders kann es ja auch gar nicht sein, denn egal womit man sich identifiziert, das persönliche Ich ist mit im Spiel, denn es ist der Bezugspunkt jeglicher Identifikation.

Okay, und nun gibt es einige Leute, die ihr wahres Selbst erkennen wollen. Das bedeutet nichts anderes als dass sie sich freiwillig auf einen Prozess einlassen, dessen Ende ihr Ich garantiert nicht erleben wird. Warum tun sie das? Sie haben einen einleuchtenden Grund dafür: Sie sind davon überzeugt, dass es etwas Besseres gibt.

Das persönliche Ich, von dem bisher die Rede war, hat gravierende Nachteile, die alle darauf beruhen, dass es in der Dualität lebt. In der Dualität gibt es Trennung und daher ein nagendes Gefühl des Mangels und der möglichen Bedrohung durch das Andersartige. Da das  persönliche Ich nicht Alles ist, fehlt immer etwas oder es könnte einem genommen werden. Da es „andere“ gibt, kann man sich zwar verlieben, was schön ist, aber auf die meisten der „anderen“ sollte man lieber ein wachsames Auge haben, denn sie sind einem durchaus nicht immer wohl gesonnen. Obendrein herrscht in der Dualität Endlichkeit. Nichts bleibt, denn nur das Zeitlose ist ewig. Endlichkeit mag ja ganz angenehm sein, was Probleme betrifft, aber ebenso endlich sind auch alle angenehmen, schönen Situationen. Immer wieder werden sie dem persönlichen Ich abhanden kommen. Und der Aspekt der Endlichkeit, den die meisten am bedrohlichsten empfinden, ist natürlich der Tod.

Weshalb wir trotz alledem so am persönlichen Ich hängen, liegt einzig und allein daran, dass wir daran gewöhnt sind und uns nichts anderes vorstellen können. Nun haben die Leser dieser Essays bereits von der Möglichkeit gehört, die Identifikation mit dem persönlichen Ich zurückzulassen – etwas, was automatisch und ohne weiteres Zutun geschieht, sobald die Erkenntnis des wahren Selbst vollständig ist. Die Leser dieser Essays haben also die einmalige Chance, sich über die gewohnheitsmäßige Identifikation hinauszubewegen.

 

Wahres Selbst – persönliches Ich

Das wahre Selbst ist das, was wir in Wahrheit sind. Dagegen ist das persönliche Ich nur das, wofür wir uns halten. Wir müssen also nichts tun, um das wahre Selbst zu werden. Wir müssen nur erkennen, was alles zum persönlichen Ich gehört und verstehen, wieso wir dieses persönliche Ich nicht sein können. Glücklicherweise ist das möglich.

Sobald das Verständnis über das, was wir nicht sind, komplett ist, und jemand uns auf das hinweist, was (nach all dem, was wir nicht sind) immer noch da ist, vollzieht sich augenblicklich der Wandel: die Idee eines persönlichen Ichs löst sich auf und das wahre Selbst „tritt an seine Stelle“. Tatsächlich war es die ganz Zeit bereits da, doch solange wir mit einem persönlichen Ich identifiziert waren, konnten wir es nicht erkennen.

Wie erlangt man das vollständige Verständnis dessen, was man nicht ist? Diese Essays beruhen auf dem Advaita Vedanta. Das Advaita Vedanta ist eine ausgefeilte Methodologie. Sie gründet sich darauf, was vor Tausenden von Jahren in den indischen Upanishaden zum Ausdruck gebracht wurde (dem sogenannten Vedanta) und was im Advaita Vedanta mithilfe von Logik verifiziert wird. Das heißt, der Mind des Suchers wird trainiert, um die Wahrheit zu erkennen. Das Advaita Vedanta geht davon aus, dass dies nur mit einem Lehrer zusammen funktionieren kann, da der Suchende nur deshalb noch sucht, weil seine Identifikationen die Erkenntnisfähigkeit behindern. Er braucht jemanden, der seine Annahmen in Frage stellt und seine Vorstellungswelt erweitert. Dies muss jemand sein, der die Identifikation mit dem persönlichen Ich zurückgelassen hat und vollkommen im wahren Selbst ruht. Außerdem sollte er/sie ein guter Lehrer sein und sich mit den Grundlagen des Advaita Vedanta und der Lehrmethode auskennen.

So jemanden zu finden, ist möglich. Wenn der Wunsch danach tief im eigenen Herzen brennt, dann wird sich der Lehrer, der zu einem passt, im Außen zeigen.

zuletzt editiert am 20.10.2018