Advaita-Sucher im Westen wollen herausfinden, ob es stimmt, dass sie weder Körper noch Geist, sondern in Wahrheit eins, ewig, frei und alles durchdringend sind. Sie interessieren sich vor allem für die Antwort auf die Frage: „Wer oder was bin ich?“ Wer oder was die Welt ist, ist ihnen erst einmal egal.

Wenn ich aber eine Ahnung davon bekomme, dass ich in Wahrheit eins und alles durchdringend bin, kann ich die Frage nach dem, was da als zweites in meiner Wahrnehmung auftaucht, nicht mehr ignorieren: Was ist mit der Welt?

Die Erkenntnis, dass ich grenzenlos in Zeit und Raum bin (eins und durchdringend), ist unvollständig, wenn in ihr keine Erklärung für das enthalten ist, was irgendwie ja auch da ist. Meine wahre Natur ist nicht-dual – aber Körper/Geist, andere Lebewesen, das Meer, die Kontinente, der Weltraum, Gegenstände und vielleicht auch noch feinstoffliche Wesen – was ist damit? Da herrscht doch die pure Dualität! Wenn der Mind hierfür keine befriedigende Erklärung findet, bleibt ein Gefühl der Unsicherheit über die Erkenntnis der Nicht-Dualität bestehen.

Die Welt

Was ich mit der „Welt“ meine, ist all das, was ich oben aufgezählt habe. Ich fasse unter dem Begriff Welt alles zusammen, was nicht eins, ewig, frei und alles durchdringend ist – mit einem Wort: Alles (Wahrnehmbare). „Alles“ schließt also meinen Körper, meine Energie, meinen Geist, meine Gefühle mit ein, ebenso wie Körper, Energie, Geist und Gefühle aller anderen Lebewesen. „Alles“ schließt die Gesamtheit aller organischen und anorganischen Materie ein, ebenso wie die Gesamtheit aller Energie und aller wirksamen Gesetzmäßigkeiten im Universum.

Wer von sich sagt, dass er weiß, was er/sie in Wahrheit ist, sollte überprüfen, ob seine Erkenntnis wirklich glasklar ist. Solange der Mind unsicher ist, wie er sich die Wahrnehmung der Dualität erklären soll, bleibt die Erkenntnis ein wenig unscharf. Und demjenigen, der die Erkenntnis noch nicht hat, wird sie einfacher gemacht, wenn er versteht, wieso er einerseits Dualität erlebt und andererseits die Wahrheit nicht-dual sein soll.

Unwirklich, Wirklich und Weder-Noch

Advaita Vedanta bietet dem Mind Erklärungsmöglichkeiten, mit denen dieser vollkommen entspannen kann, weil sie jegliche Widersprüche auflösen. Ein Schlüssel, den man geradezu als Generalschlüssel bezeichnen kann, ist die Unterscheidung von Unwirklichkeit, absoluter Wirklichkeit und relativer Wirklichkeit.

Unwirklich ist alles, was logisch nicht möglich ist oder was es (zumindest bisher) nicht gibt, zum Beispiel das einem Schildkröten-Ei entschlüpfende Elefantenbaby.

Absolut wirklich (sanskrit: satya) ist allein Sein-Bewusstsein-Grenzenlosigkeit – die eine Realität, die kein Zweites kennt, allem zugrunde liegt, alles durchdringt und unabhängig von allem ist. Grenzenlosigkeit bedeutet: nicht begrenzt durch Zeit, durch Raum oder durch eine spezifische Form und Funktion.

Alles andere, also „Alles“ im obigen Sinne, ist relativ wirklich (sanskrit: mithya). Aber nicht irreal oder unwirklich. Relativ real bedeutet, dass seine Wirklichkeit bedingt ist durch die eine absolute Wirklichkeit. Alles hängt von ihr ab und ohne sie gäbe es keine von ihr abhängende relative Wirklichkeit. Wie soll man sich das konkret vorstellen?

Mithya – relative Wirklichkeit

Die gesamte wahrnehmbare Welt besteht gemäß dem Vedanta aus grobstofflicher (zum Beispiel Haus, Auto, Berg), feinstofflicher (zum Beispiel Gedanken oder Energie) oder feinst-stofflicher Materie (das Potential jeglicher Manifestation). All dies kommt uns entgegen als bunte Vielfalt, sich ständig verändernd, ständig entstehend und wieder vergehend. Und alles ist ganz offensichtlich da.

Aber es ist vielfältig, nicht eins. Es ist vergänglich, nicht ewig. Es hängt von anderem ab, ist in diesem Sinne nicht unabhängig/frei. Und alles durchdringend ist es auch nicht. Also kann es nicht zur Kategorie „absolut real“ (satya) gehören.

Greifen wir uns ein Teil grobstofflicher Materie heraus: ein Auto. Es ist offensichtlich vorhanden, wir können damit von A nach B fahren, es mit Benzin befüllen, es reparieren usw. Nun betrachten wir genauer, was ein Auto eigentlich ist. Wir zerlegen es mental in seine Bestandteile: Karosserie, Räder und Reifen, Fenster, Inneneinrichtung, Motor usw. Keins dieser Bestandteile ist für sich genommen ein Auto und auch alle zusammen auf einem großen Haufen sind kein Auto. „Auto“ ist ein bloßer Name für etwas, das sich aus anderen Formen zusammensetzt.

Mehr nicht? Mehr nicht.

Okay, kein Auto zu finden.

Aber ein Auto ist nicht unwirklich. Es ist vorhanden, es ist da. Diese Art von Dasein nennt man relative oder auch funktionale Wirklichkeit (sanskrit: mithya).

Wir nehmen uns nun die Bestandteile des Autos vor, beispielsweise einen Reifen. Was ist ein Reifen? Wie beim Auto werden wir keinen Reifen finden, selbst wenn wir alle Bestandteile eines Reifens nebeneinander legen oder miteinander vermischen. Wir haben dann zwar Kautschuk, Ruß, Drahtgeflecht, Mineralöl, Weichmacher usw., aber wo ist eigentlich der Reifen? Gibt es den wirklich keine Substanz, die Reifen heißt? Nein, auch der Reifen ist mithya.

Weiter: Sind die Bestandteile des Reifens mehr als nur mithya? Wir nehmen Ruß. Was ist Ruß? Kohlenstoff; also ist Ruß ebenfalls mithya, ihm liegt etwas anderes zugrunde. Und was ist Kohlenstoff? Atome. Und ein Atom? Masse und Energie, letztlich Quarks, Strings usw. Dies sind zumindest die kleinsten Bestandteile, die man bisher kennt. Die Wissenschaft wird wahrscheinlich weiterhin kleinere und feinere „Bausteine“ ausfindig machen, sie mit neuen Namen belegen und neue Theorien über sie formulieren. Was für uns zählt ist: Wir finden weder Kohlenstoff, noch Atome, noch Energie – immer liegt noch etwas anderes zugrunde, auf das man eine jeweilige Form reduzieren kann.

Das Interessante ist, dass je kleiner und feiner die Bestandteile, desto ähnlicher werden sich die Grundbausteine. Niemand ist in der Lage, einem Elektron anzusehen, ob es aus einem Blatt, einem Tier, einer Gummi-Ente oder einer Gewehrkugel stammt, ob es von etwas Lebendem oder einer Leiche herrührt. Alles sieht gleich aus.

Ein Vorschlag: Überzeuge dich selbst davon, dass alles, was du hier auf der Welt vorfindest, mithya ist. Suche etwas, was nicht mithya ist. Spiele alles, was dir einfällt durch.

Satya – absolute Wirklichkeit

Advaita Vedanta unterscheidet Namen und Formen, die mithya sind, von dem, was allen Namen und Formen (= Allem) zugrunde liegt. Das, was ihnen zugrunde liegt nennt man satya, die absolute Realität. Man kann es auch mit „Wahrheit“, „Sein“, „Bleibendes“ übersetzen. Auch wenn Teile der Wissenschaft bereits dahinter gekommen sind, dass es so etwas wie satya geben muss, wird die Wissenschaft niemals  in der Lage sein, satya zu bestimmen. Was die Wissenschaft bestimmen kann, sind stets nur Formen von Materie (fein, grob, feinst), die sich über kurz oder lang als etwas herausstellen werden, dem etwas anderes zugrunde liegt.

Das, was Vedanta satya nennt, ist dagegen keine Materie. Allerdings ist das nicht der Hauptgrund, warum die Wissenschaft es nicht ausfindig machen wird, doch sogar auf wissenschaftlich fassbarer Ebene spiegelt sich das wider, was Vedanta postuliert, auch wenn eine Widerspiegelung von Vedanta noch kein Vedanta ist:

Das materielle Universum ist vielfältig. Advaita Vedanta nennt diese Vielfalt mithya.

Was ihm zugrunde liegt ist immer dasselbe. Advaita Vedanta nennt es satya.

Jede Form ist vergänglich. Advaita Vedanta nennt sie mithya.

Das, was den Formen zugrunde liegt, bleibt bestehen, auch wenn die Form vergeht. Advaita Vedanta nennt das, was bestehen bleibt, satya.

Materie in jeder Form ist abhängig von einer ihr zugrunde liegenden Substanz. Diese Substanz ist für ihr Dasein nicht auf eine materielle Form angewiesen, sie ist unabhängig, frei.

Advaita Vedanta nennt das Abhängige mithya, das Unabhängige satya.

Alle Formen von Materie sind durchdrungen von dieser einen Grundsubstanz, während diese von nichts durchdrungen wird.

Advaita Vedanta sagt, dass es in der Natur von mithya liegt, durchdrungen von satya zu sein, während es in der Natur von satya liegt, alles mithya zu durchdringen.

Das Problem auf der materiellen Ebene ist, das man stets nur annimmt, man habe die eine, letzte Grundsubstanz gefunden, dann aber doch wieder eine andere findet.

Vedanta sagt, weil die eine (nicht-materielle) Grundsubstanz

  • absolut eins,
  • absolut unvergänglich ist,
  • allem zugrunde liegt und
  • alles durchzieht,

deshalb ist sie das, was „Alles“ in seiner Essenz ist. Es gibt nichts, was nicht eigentlich diese Grundsubstanz ist. Daher kann man sie nicht ausfindig machen, denn die Wissenschaft sucht nach Objekten und wird nur Objekte finden. Diese eigentliche Grundsubstanz ist jedoch kein Objekt, denn in ihrer Essenz, sind ja Wissenschaft und Wissenschaftler nichts andere, als diese Grundsubstanz.

Alle Objekte sind mithya. Satya ist das eine, einzige Subjekt. Und weil es das einzige ist, ist es das, was wir selbst eigentlich sind.

Das Verhältnis von satya und mithya

Gehen wir noch einmal zurück zu unserem Autobeispiel. Wir haben herausgefunden, dass Ruß Kohlenstoff ist.

Also: Ruß = Kohlenstoff

Logischerweise müsste man die Gleichung umkehren können:

Kohlenstoff = Ruß.

Aber so stimmt es eben nicht.

Kohlenstoff kann ein Diamant, eine Bleistiftmine oder einfach ein Stück Kohle sein, nicht nur Ruß.

Ein anderes Beispiel: Fensterscheibe. Fensterscheibe = Glas ist richtig (im Falle des Autos). Aber Glas = Fensterscheibe ist falsch.

Und ebenso wie wir Fensterscheibe = Glas nicht umdrehen können, weil Glas # Fensterscheibe ist, ebenso wie wir Ruß = Kohlenstoff nicht umdrehen können, weil Kohlenstoff # Ruß ist, so ist jedes mithya-Objekt in seiner Substanz satya, aber satya ist kein mithya-Objekt.

Ist die Welt nun eine Illusion oder nicht?

Okay, zurück zur Eingangsfrage: Ist die Welt eine Illusion? Nicht, wenn damit gemeint ist, sie sei irreal. Die Welt, so wie sie uns erscheint, ist mithya. Es handelt sich ganz einfach um eine unvollständige Wahrnehmung der Realität; die Welt ist etwas anderes als wir denken.

Ein Tsunami ist nichts als Wasser. Aber ist das ein Grund, uns nicht vor ihm schützen? Auch ein Tautropfen ist nichts als Wasser. Aber ist das ein Grund, seine Schönheit nicht zu bewundern?

Der relativen Realität der Welt liegt satya zugrunde. Wir können die Welt wahrnehmen, uns an ihren Erscheinungsformen erfreuen oder uns nötigenfalls vor ihnen schützen. Gleichzeitig können wir sie als mithya durchschauen und um das ihnen zugrunde liegende satya wissen, das absolut real und nicht-dual ist:

Sat – Chit – Ananta, Sein – Bewusstsein – Grenzenlosigkeit.