Warum sollte ich mir die Frage stellen, wer oder was ich bin?
Muss das sein? Was habe ich davon? Reicht es nicht, dass ich bin?
Tatsächlich reicht es. Wer in Frieden damit ist, einfach zu sein – ohne irgendetwas erreichen zu wollen, der braucht sich nicht fragen, wer er ist. Er ist bei sich angekommen.
Die meisten sind jedoch nicht in Frieden, weil sie nicht bei sich angekommen sind. Obwohl man selbst sich ja am allernächsten ist, es also die einfachste Sache der Welt sein sollte, bei sich selbst zu sein, neigen wir dazu, uns selbst ständig irgendwo außerhalb zu suchen. Merkwürdigerweise ist es so, dass ausgerechnet das Sein, das einfache „Ich bin“ ausgesprochen schwierig zu fassen ist.
Woran liegt das? Wir sind es nicht gewohnt. Vielmehr sind wir gewohnt, alles, was wir erfassen wollen, zum Gegenstand unseres Denkens und Fühlens zu machen. Das funktioniert normalerweise sehr gut – außer in diesem einen Fall. Denn das, was wir eigentlich sind, kann unmöglich Gegenstand unseres Denkens und Fühlens sein. Weshalb nicht? Weil wir es SIND. Es ist nichts, was wir haben, es ist das einzige, was wir sind.
Ich habe einen Körper, ich habe Energie, ich habe Gedanken, ich habe Gefühle – und während ich all dies habe, bin ich da. Mal habe ich viel Energie, mal wenig, mal bin ich gesund, mal krank, mal fühle ich Liebe, mal ist mir alles egal, mal denke ich nach, mal bin ich frei von Gedanken im Tiefschlaf. All diese Zustände passieren mir. Aber wer oder was dieses „Ich“ ist, dem sie passieren, weiß ich nicht. Nur eins ist unleugbar: Auch wenn ich nicht weiß, wer oder was ich bin, so weiß ich doch, dass ich bin, dass ich da bin.
Die Logik sagt mir, dass ich etwas anderes sein muss, als diese Zustände – nämlich ein gewisses ungreifbares Sein, das sich stets gleich bleibt. Doch selbst meine logische Einsicht überzeugt mich nicht automatisch davon, dass ich weder Körper, noch Energie, weder Handlungen, noch Gedanken oder Gefühle bin. Denn abzüglich Körper, Energie, Handlungen, Gedanken oder Gefühlen – was soll denn da übrig bleiben?!
Dass da tatsächlich etwas bleibt, bezeugen alle großen Seelen, alle Mystiker, alle Erleuchteten. Und sie werden nicht müde zu betonen, dass diese Erkenntnis nicht nur ihnen, sondern jedem möglich ist.
Aber was bringt es mir, klar zu wissen, dass dieses ungreifbare „Ich“ das einzige ist, was ich bin? Ist das nicht bloße Hirnakrobatik?
Nein, das ist es nicht. Denn nur wenn ich mein eigentliches Selbst erkannt habe, komme ich zur Ruhe. Solange ich mich als das definiere, was ich habe, also als Körper, Energien, Gedanken oder Gefühle, werde ich stets darauf aufmerksam, dass mir noch etwas fehlt. Ich werde nie alles haben. Etwas drängt mich deshalb ständig vorwärts. Das mag zeitweise unterhaltsam und spannend sein. Irgendwann sind wir dessen jedoch überdrüssig. Wir wollen endlich Frieden.
Wieso aber sollte Frieden das Ergebnis der Suche nach meinem Selbst sein? Die Weisen und die Schriften des Advaita Vedanta und des Buddhismus ebenso wie die Mystiker aller Religionen sagen: Das Selbst ist komplett, ihm fehlt nichts. Sobald wir es als unsere eigentliche Natur entdeckt haben, können wir uns zurücklehnen und entspannt dem Lauf der Welt zuschauen. Wir müssen nichts mehr erreichen, weil wir alles haben – wir sind vollständig – und können locker und frei am Spiel des Lebens teilnehmen.
In den spirituellen Essays wird es immer wieder darum gehen, wie man sich dieser Entdeckung, dieser Erkenntnis annähern kann.
Tun versus Erkennen
Unser ganzes Leben, ja alle unsere vergangenen Leben lang, haben wir damit verbracht, nach dieser Art von Frieden zu suchen. Mensch sein, bedeutet, in Unruhe sein, keinen Frieden haben. Das liegt daran, dass der Mensch nicht um seine eigentliche Natur weiß.
Doch damit nicht genug: Er weiß nicht um seine eigentliche Natur und er weiß nicht, dass er es nicht weiß und dass mit dem Wissen darum, alle seine Probleme gelöst wären. Statt an seiner Unwissenheit leidet er an seiner vermeintlichen Unvollständigkeit und möchte sie beheben. Also versucht er, Ziele zu erreichen, von denen er sich Vollständigkeit verspricht und damit verbunden, das Gefühl von Frieden.
Er baut sich ein Eigenheim und hofft, dass es ihm Frieden beschert. Er macht einen Universitätsabschluss und hofft, dass er ihm Frieden beschert. Er sucht nach der großen Liebe und hofft, dass sie ihm Frieden beschert. Er schafft ein Kunstwerk und hofft, dass es ihm Frieden beschert. Er kümmert sich um seine Gesundheit und hofft, dass sie ihm Frieden beschert. Er will die Welt verbessern und hofft, dass ihm und der Welt dadurch Frieden beschert wird.
All dies ist sinnvoll. Allerdings wird sich der erhoffte Friede stets nur für eine Weile einstellen – womit sich die wenigsten Menschen zufrieden geben. Sobald sich der erreichte Friede wieder verabschiedet, peilen sie ein neues Friede verheißendes Projekt an – und sei es nur, dass sie den Fernseher einschalten. Doch jeder durch Tun hergestellte Zustand von Frieden ist vorübergehend.
Die gute Nachricht ist: Immer währender Friede lässt sich finden.
Allerdings nicht durch Tun. Aber immer währender Frieden lässt sich durch Erkennen finden: Nur die Erkenntnis dessen, was ich eigentlich bin, lässt mich dauerhaft zur Ruhe kommen. Ich bin ja schon das, was ich suche. Ich muss es nicht herstellen. Das Problem ist: Ich weiß es nicht – nicht wirklich, nicht immer oder überhaupt nicht.
Was mir also fehlt, ist eine innere Gewissheit, die sich durch nichts und niemanden wieder verflüchtigt, die so tief in mir ist, wie die Gewissheit, dass ich da bin. Eine solche innere Gewissheit zu erlangen, ist Ziel der spirituellen Suche. Alle anderen Ziele mögen gut und richtig sein, doch sie führen mich stets zurück auf den Weg, halten mich im Stadium der Suche gefangen.
Wie erlange ich nun diese innere Gewissheit? In diesen spirituellen Essays geht es um nichts anderes, denn das Advaita Vedanta bietet eine Fülle von Denkansätzen, die dazu da sind, dem Sucher bei der Erkenntnis seiner wahren Natur zu helfen.