Den meisten spirituellen Suchern begegnet irgendwann auf ihrer Reise das Thema „Herz“. Es geht darum, das Herz zu öffnen, mehr im Herzen zu sein, im Herzen verankert zu bleiben, mit den Augen des Herzens zu sehen, dem Herzen zu folgen, die Weisheit des Herzens zu finden und/oder aus dem Herzen zu sprechen. Das Herz ist ein ganz besonderes Kleinod und die meisten lieben es. Sie lieben es auch, ins Herz einzutauchen und verbinden damit ganz bestimmte Gefühle und Zustände.

Das Herz gilt als Ort der Gefühle, aber auch als Ort der Weisheit. Die Liebe ist hier zuhause, und für viele auch die Stille. Was das Herz genau ist, wissen die wenigsten, die meisten sind sich jedoch einig, dass es sich beim Herzen nicht um das physische Herz handelt – obwohl es auch nicht gänzlich davon abgekoppelt zu sein scheint.

Esoterisch entspricht dem, was wir (spirituelles) Herz nennen, das Herzchakra, ein feinstoffliches Zentrum, das sich in der Mitte des Brustkorbs befindet. Das Herzchakra ist wie alle Chakren vielschichtig. Ganz in der Mitte ist es still und klar, drum herum gibt es trübe Schichten, in denen Emotionen, Identifikationen, Unklarheiten usw. angesiedelt sind. Das heißt, der scheinbare Widerspruch, wenn die einen von einem Ort der Gefühle und Emotionen sprechen, die anderen von einem Ort der Stille, lässt sich bereits auf esoterischer Ebene auflösen – es handelt sich einfach um verschiedene Aspekte des Herzens.

 

Das Herz und die Buddhi

Und was ist das Herz für Advaita Vedanta? Hat es dort einen Platz – und wenn ja, hat es auf dem Weg der Erkenntnis überhaupt einen Wert? Schließlich scheint es, als wenn weder Gefühle noch Stille auf diesem Weg besonders beachtet werden.

Zuallererst gilt es zu klären, was Gefühle sind und was Stille ist. Ein Gefühl im Sinne von Vedanta ist eine Art Gedanke und entsteht als Reaktion auf Objekte. Die Liebe zu einem Menschen beispielsweise ist ein Gefühl. Auch Glück kann als Reaktion auf eine bestimmte Situation entstehen und ist dann ein Gefühl. Es gibt jedoch auch objektlose Liebe oder objektloses Glück. Sie würde man nicht als Gefühle bezeichnen. Sie transzendieren den Mind vollkommen und damit auch die Buddhi.1

In den Vedanta-Schriften kommt das Wort Herz vor und bezieht sich ausschließlich auf den innersten glasklaren Raum der Stille des Herzens. Im Vedanta ist Herz gleichzusetzen mit der Buddhi, dem höheren Mind. In diesem Sinne, ist die Buddhi die Stimme des Herzens.2 Allerdings hat diese Stimme des Herzens nichts mit Intuition zu tun, wie manche annehmen könnten. Intuition ist unzuverlässig, man weiß nie, ob sie auf Einbildung beruht. Die Buddhi ist da ein ganz anderes Kaliber. Sie ist glasklar und unbestechlich, sie lässt sich nie ein X für ein U vormachen, unterscheidet eindeutig, was wahr ist und was nicht. Ihr wichtigstes Instrument ist Logik, und selbst wenn sie einmal andere Instrumente vorzieht, basiert dies auf der logischen Einsicht, dass es im speziellen Fall das richtige ist.

Zunächst einmal mutet es merkwürdig an, eine Mind-Funktion als Herz zu betrachten, selbst wenn es sich um den höheren Mind handeln soll. Den Mind verbinden wir normalerweise nicht mit Stille, was allerdings zum großen Teil daran liegt, dass im Westen nicht zwischen den einzelnen Mind-Funktionen unterschieden wird. Es gibt durchaus Funktionen die alles andere als still sind. Stille hat nur dann eine Chance, wenn die Buddhi die Zügel in der Hand hat, statt der anderen Mind-Funktionen. Was genau ist Stille? Im Vedanta ist Stille der natürliche Zustand der Buddhi. Diese Stille ist uns jedoch nur unter bestimmten Umständen zugänglich, nämlich dann, wenn keine Identifikation im Weg ist.

Wer einem Säugling in die Augen schaut, kann meistens noch bis auf den Grund der reinen kristallklaren Stille der Buddhi sehen, denn im Mind eines Säuglings gibt es noch keine Identifikationen. Bezogen auf das obige esoterische Bild vom Herzchakra bedeutet dies, dass sich die eigene Identität mit jeder entstehenden Identifikation vom innersten Raum der Buddhi hin zur äußeren trüben Schicht um diese herum verlagert. Dies ist übrigens im Laufe unserer Sozialisation ein unvermeidbares Geschehen. Es muss allein deshalb so sein, weil Stille oder Buddhi nicht dasselbe wie Erleuchtung ist. Aber aus mehreren Gründen ist die Buddhi das Instrument, das Erleuchtung möglich macht3.

 

Die Suche nach Erkenntnis

Weil sie eine so unglaublich wichtige Funktion ist, habe ich die Buddhi bereits in mehreren Essays erwähnt. Allerdings erschien es da nie so als wäre sie gleichzusetzen mit der Stille des Herzens. Vielmehr wurde sie beschrieben als Erkenntnisfähigkeit, Unterscheidungsfähigkeit, Lernfähigkeit, Reflektionsfähigkeit. Sie fragt, hinterfragt und analysiert, wobei sie nach den Gesetzen der Logik operiert. Nichts davon würde man unmittelbar mit dem Herzen in Verbindung bringen.

Aber all dies ist Voraussetzung, damit Unklarheiten, Ungereimtheiten und Identifikationen sich auflösen können. Und nur ohne sie, offenbart sich der reine Herzensraum bzw. der natürliche Zustand der Buddhi. Die Unvereinbarkeit von Herz und Denken, die viele westliche Sucher proklamieren, ist deshalb überhaupt kein Thema im Advaita Vedanta. Ganz im Gegenteil: die der Buddhi eigenen mentalen Fähigkeiten eröffen den Weg ins Herz.

Nun werden viele einwenden, dass sie diesen Weg auch ohne Buddhi, allein durch Stille-Meditation, Herzens-Meditation oder andere Rituale finden. Das ist sicherlich der Fall. Doch ist für Advaita Vedanta dieser stille Herzensraum nicht Endziel, denn Vedanta geht es nicht um das Erlangen vergänglicher Zustände. Zwar werden die Fähigkeiten der Buddhi eingesetzt und dadurch öffnet sich ab und zu der Raum der Stille, aber beides dient dem, was über Buddhi, Herz und Stille hinausweist und um das es eigentlich geht: das Erkennen des wahren Selbst, das identisch ist mit dem Selbst von allem. Dieses Erkennen ist kein Zustand, der kommt und geht, sondern es ist das wissende Einssein mit dem, was ohnehin bereits der Fall und daher unvergänglich ist.

 

Stille

Obwohl Stille für Advaita Vedanta also kein Endziel ist, hat sie doch einen Wert und zwar im Sinne des geklärten Minds. Wenn der Mind von Identifikationen, Missverständnissen und Unklarheiten frei ist, ist er automatisch still. Das anvisierte Ziel ist daher ein geklärter Mind und nicht die Stille. An diesem geklärten Mind wird aktiv gearbeitet, tatsächlich ist man auf dem Weg der Erkenntnis hauptsächlich damit befasst, alle Identifikationen, Missverständnisse und Unklarheiten über die wahre Natur von Mensch, Gott und Welt aus dem Weg zu räumen.

Wenn der Fokus dagegen auf dem Erlangen von Stille liegt, dann wird man sich mit bloßen Zuständen von Stille zufrieden geben – die zwar schön sind, jedoch immer wieder vergehen und dann erneut hergestellt werden müssen. Dazu kommt, dass diejenigen die sich mit bloßen Zuständen von Stille begnügen wollen, über kurz oder lang eine unangenehme Überraschung erleben. Eine gute Weile lang mag sich die Stille stets weiter vertiefen oder mögen die angenehmen Zustände zunehmen. Doch irgendwann kehrt sich das Ganze um. Die Stille wird auf einmal oder nach und nach zu einer geradezu depressiven Bedrücktheit, die die bisher erlebte Schönheit überlagert.

Das ist nicht immer der Fall, aber wenn es passiert, dann liegt es daran dass die Buddhi mit der Fixierung auf Stille ihren Job verliert, der darin besteht, Unklarheiten zu beseitigen. Falls es gerade keine Unklarheiten gibt oder alle Unklarheiten beseitigt sind, ist sie ohnehin still. Doch solange Unklarheiten vorhanden sind, wird sie darauf drängen, diese zu klären. Wenn sie stattdessen still sein soll, führt dies zu steigender Unzufriedenheit.

 

Klarheit schaffen

Stellen wir uns eine Gruppe von Suchern vor, die ihr Leben lang fleißig meditiert hat oder eine Gruppe von Suchern, die sich in ihren Meditationen, Übungen und Ritualen direkt aufs Herz ausgerichtet hat. Beide Gruppen erleben wahrscheinlich Zustände von Stille und Frieden, die zwar wieder vergehen, die aber, wenn sie da sind, wunderschön und tief erfüllend sind.

Ein Teil beider Gruppen befasst sich gleichzeitig auch mit spiritueller Erkenntnisarbeit, ein anderer Teil lehnt dies als kopfig ab, setzt seine spirituelle Praxis fort und hofft, dass sich der Frieden von selbst immer weiter vertiefen wird und irgendwann wunderbarerweise bestehen bleibt. Dieser letzte Teil läuft Gefahr, irgendwann in eine Sackgasse zu geraten. Denn die Buddhi bemerkt die noch bestehenden Unklarheiten, Missverständnisse und Identifikationen und gibt keine Ruhe, weil sie diese aus dem Weg schaffen will.

Warum will sie das? So ist sie einfach, es ist ihr Potential. Und wir können von Glück sagen, dass die Buddhi so ist, wie sie ist. Denn allein ihrer Unbestechlichkeit haben wir es zu verdanken, dass wir uns aus unserer ursprünglichen Unwissenheit über die Natur von Gott, Mensch und Welt herausschälen und die ganze Wahrheit erkennen können.

Angesichts dieser außerordentlichen Qualifikation der Buddhi sind die Vorurteile einiger Sucher gegen den Kopf wirklich bedauerlich. Leider gibt es nicht wenige, die in ihrer herzzentrierten Arbeit das Herz mit Gefühlen gleichsetzen und sich die nüchternen Fragen und kritischen Einwürfe der Buddhi geradezu verbieten. Das bedeutet jedoch, dass sie sich irgendwann ganz in der trüben emotionalen Schicht des Minds verlieren und nicht weiterkommen.

 

Erkenntnisarbeit

Die Buddhi ist die Krönung menschlicher Fähigkeiten und sie sollte entsprechend wertgeschätzt werden. Der Mensch ist in der Lage, die Wahrheit zu entdecken – aber nicht durch irgendetwas was er tut, nicht einmal durchs Meditieren. Wäre die Wahrheit irgendwo anders in Raum und Zeit zu finden, dann könnten wir etwas tun, um sie zu finden. Aber die Wahrheit ist das, was wir eigentlich sind; keine unserer Handlungen wird uns ihr näher bringen, weil sie ja schon da ist. Was fehlt, ist allein die Erkenntnis, dass sie da ist. In diesem Fall hilft nur eins: die Erkenntnisfähigkeit schärfen, damit wir es erkennen.

Und wie schärft man sie?

1 – Das intensive, wirklich um Verständnis bemühte Lesen dieser Essays, ist bereits eine gute Übung. Jeder Satz, jede Aussage sollte klar sein (und wenn nicht, kann man ja nachfragen).

2 – Vor einem Jahr habe ich schon einmal über den spirituellen Lehrer geschrieben und erwähnt, dass Erkenntnisarbeit ohne einen Lehrer wenig Sinn macht. Die Buddhi ist lernfähig, aber sie braucht jemandem, von dem sie lernt, und tatsächlich will sie nichts lieber als das. Denn nur durch die Zusammenarbeit mit einem Lehrer, der um ihren Wert und um den Wert spiritueller Erkenntnisarbeit weiß, wird ihr Potential ganz ausgeschöpft.

 

Mit denen, die sich gegen die Idee eines Lehrers sträuben, verhält es sich übrigens ähnlich wie mit denen, die den Einsatz von Logik im spirituellen Bereich kategorisch ablehnen: Sie schöpfen ihre Möglichkeiten nicht aus, und, falls sie das Gefühl haben, auf ihrer spirituellen Reise gestrandet zu sein, ist das extrem schade. Denn es geht mehr, viel mehr.

 

Wenn alle Knoten, die das Herz einschnüren,

noch zu Lebzeiten gelöst werden, 

wird der Sterbliche unsterblich.

 

Katha Upanishade, 2.3.15

Fußnoten:

  1. Hierauf kann ich in einem anderen Essay eingehen.
  2. „Buddhi“ wird übersetzt als „Intellekt“, und es dürfte den meisten westlichen Suchern schwerfallen, den Intellekt als innersten Herzensraum zu betrachten. Deshalb bleibe ich lieber bei dem sympathischen Namen Buddhi.
  3. Hierauf kann ich in einem anderen Essay eingehen.