Der Titel dieses Essays sollte eigentlich Entidentifikation lauten (und so wird er auch im Englischen heißen). Aber Entidentifikation ist ein Wort, das im Deutschen leider nicht existiert. Es kommt zwar im Text nicht vor, aber ich verwende es dennoch gerne, weil Ent-Identifikation, also das Zurücknehmen seiner Identifikationen für den spirituellen Sucher ein unentbehrlicher Schlüssel auf dem Weg ist.

Zunächst einmal: Was ist eigentlich Identifikation? Die wörtliche Übersetzung macht deutlich, dass beim Identifizieren etwas mit etwas anderem gleichgesetzt wird. Hier einige Beispiele:

Wenn ich kurz nacheinander jeweils einem Zwilling eines eineiigen Zwillingspaares begegne und meine, es handle sich beides mal um dieselbe Person, dann habe ich Zwilling A mit Zwilling B gleichgesetzt oder identifiziert.

Wenn ich auf 25 Hundefotos meinen eigenen Hund finden soll und ich deute auf eines, dann habe ich meinen Hund mit dem Hund auf dem Foto gleichgesetzt, habe also meinen Hund identifiziert.

Wenn mir beim Anblick eines weinenden Menschen die Tränen kommen, dann setze ich seine und meine Gefühlswelt gleich, ich identifiziere meine mit der seinen.

Wenn ich davon ausgehe, dass meine Firma, mein Land, meine Rasse oder meine Religion das einzig Wahre ist, dann setze ich gar meine ganze Person mit der jeweiligen Firma, dem Land, der Rasse oder der Religion gleich; ich identifiziere mich damit.

Was hat das alles mit der Wahrheitssuche zu tun?

Der Wahrheitssucher ist auf der Suche nach sich selbst. Die östlichen Mystiker und Weisen, insbesondere das Vedanta, weisen ihn darauf hin, dass er etwas anderes ist als er annimmt, dass er sich also mit etwas identifiziert, was er nicht ist. Da fast alle Menschen diese Fehlidentifikation miteinander teilen, sind es immer nur wenige, die anfangen, sie zu hinterfragen. Zu diesen wenigen gehören die Leser dieser Essays.

Ein Sucher, der weiß, dass das, was er sucht, nicht irgendwo anders in Zeit und Raum ist, sondern sein eigentliches Selbst, ein solcher Sucher geht so vor, dass er alles aussortiert, was nicht er selbst ist. Logischerweise kann am Ende dieses Prozesses nur das übrig bleiben, was sich unter all seinen irrigen Vorstellungen verbirgt, denn sein wahres Selbst ist ja immer schon da.

Um seine irrigen Vorstellungen als solche erkennen zu können, muss er wissen, durch was sie sich auszeichnen. Auch hier beginnt man mit einer Negativ-Definition: Was kann ich nicht sein? Wieder liefert einfache Logik die Antwort: Alles, was Objekt ist, kann nicht ich selbst sein, weil ich immer das Subjekt bin, welches ein Objekt wahrnimmt.

Der Schlüssel liegt also im Unterscheiden zwischen Subjekt und Objekt. Was ist „Ich“ und was ist „Nicht-Ich“? Nun, Objekte zu finden, ist leicht. Ich setze meine fünf Sinne ein und sehe, höre, spüre, rieche und schmecke eine Vielfalt von Objekten. Wenn ich meinen Mind hinzuziehe, dann erschließt er mir noch weitere Objekte: Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Erkenntnisse. All dies kann ich wahrnehmen, also kann es nicht „ich“ sein. Es handelt sich um Objekte meiner Wahrnehmung.

Es lohnt sich, hiermit ein wenig zu experimentieren: Bin ich mein Körper? Bin ich meine Gefühle? Bin ich meine Gedanken? Logischerweise nicht, denn all dies kann ich wahrnehmen. Das wird allerdings kaum jemanden davon überzeugen, dass er weder Körper, noch Gefühle, noch Gedanken ist.

Warum nicht? Zwei Antworten:

1. Wenn man sich seit Millionen von Leben mit Körper, Gedanken und Gefühlen gleichgesetzt hat, dann wird man nicht in der Lage sein, allein aufgrund einer logischen Überlegung damit aufzuhören. Somit sind wir wieder bei der Identifizierung angelangt. Die Identifizierung mit dem, was wir nicht sind, ist extrem hartnäckig – weil sie seit Urzeiten ein- und ausgeübt wurde.

2. Diejenigen, die nur erkennen, was sie alles nicht sind, landen in einer Art Wüste, in einer öden Leere. Aus welchem Grund landen wir in der Wüste? Weil wir uns auf diese Weise als bloßes Negativum definieren. Doch etwas in uns weiß: Der Mensch ist kein Negativum. Auch wenn er weder Körper, noch Geist, noch sonst irgendetwas Wahrnehmbares ist, so ist er doch unzweifelhaft da. Was auch immer er sein mag: Er ist. Deshalb lassen wir uns so lange nicht von unserem logischen Gedankengang überzeugen, wie wir nicht das Wissen erlangen, auf welche Weise wir „da“ sind – obwohl wir all das nicht sind, was wir immer dachten: Körper, Energien, Gefühle, Gedanken usw.

Hier verbirgt sich der nächste Schritt in unserem Erkenntnisprozess. Hier sehen wir auch, wie wichtig es ist, sich nicht voreilig mit irgendwelchen Schlussfolgerungen abzufinden. Advaita Vedanta verlangt Genauigkeit. Wenn mir etwas klar ist, aber eben nicht ganz klar, dann ist das nicht gut genug. Wenn ich etwas verstehe, aber mir dieses Verständnis in einigen Situationen nicht zur Verfügung steht, dann ist es noch nicht vollständig.

Die nächste Frage in meinem Erkenntnisprozess lautet: Wenn ich unzweifelhaft bin, was ist es dann, was ich bin? Ich habe erkannt, dass ich nicht meine Gedanken und Gefühle sein kann, weil ich sie wahrnehme. Zunächst einmal ist es wichtig zu erkennen, dass da tatsächlich etwas ist, das sie wahrnimmt. Bitte gleich mal überprüfen! Und dann weiter fragen: Was ist das, was sie wahrnimmt?

Könnte das nicht ein Teil des Minds sein, der einen anderen Teil desselben Minds wahrnimmt? Das können wir nur entscheiden, wenn wir mehr über das wissen, was wir suchen – das wahre Selbst – und wie es sich vom Mind unterscheidet. Um mehr darüber zu erfahren, müssen wir den Aussagen derer trauen, die die Wahrheit kennen. Dieses Vertrauen wird uns in die Lage versetzen, ihre Aussagen als Arbeitshypothese zu verwenden, damit wir mit unseren Reflektionen weiterkommen. Wohl bemerkt: Es geht nicht darum, etwas zu glauben, sondern darum, uns solange auf das zu stützen, was wir aus vertrauenswürdiger Quelle erfahren, bis wir es logisch entweder untermauern oder verwerfen können.

Warum muss ich mich an die Aussagen derer halten, die die Wahrheit kennen? Ganz einfach – weil sie behaupten sie zu kennen und ich dies von mir nicht behaupten kann.

Mit brillanter Klarheit zeigt sich die Wahrheit in den Upanishaden 1, den gechannelten Texten der vedischen Seher. Sie bringen die Einsicht in die Nicht-Dualität des Seins auf den Punkt und sind seit Jahrtausenden Grundlage aller weiteren Texte des Advaita Vedanta (und das sind unzählige). Allerdings hat es keinen Sinn, sich ohne Lehrer, Sankritkenntnisse und Anleitung ans Studium dieser Texte zu machen. Doch vorausgesetzt man hat diese Anleitung, was findet man in solchen Schriften? Da steht zum Beispiel, das wahre Selbst sei ohne Sinnesorgane, ohne Lebensenergie (Prana), ohne Mind, ungeboren, eigenschaftslos, zeitlos (also ewig), formlos (also unendlich) und daher eins ohne ein zweites. – Da ich auf der Suche nach dem Subjekt bin, kann ich davon ausgehen, dass das Subjekt irgendwie mit dem wahren Selbst zu tun hat.

Um eine Antwort auf unsere Frage zu finden, vereinfache ich die obigen Aussagen folgendermaßen: Das Selbst ist neutral – ohne Farbe, Form, Eigenschaften, Energien, Meinungen, Einstellungen, sich selbst ewig gleich, nicht-dual.

Im Unterschied zum Selbst ist der Mind nie komplett neutral, er nimmt stets eine Position zu dem Objekt seiner Wahrnehmung ein. In Abgrenzung zum Selbst ist es also relativ einfach zu bestimmen, ob das, was wahrnimmt, der Mind ist, der den Mind wahrnimmt.

Zumindest wissen wir jetzt also, wenn wir auf der falschen Spur sind.

Nun können wir den nächsten Schritt tun, denn wenn wir entdecken, dass das, was den Mind wahrnimmt, keine Position einnimmt, dann wissen wir, dass es nicht der Mind sein kann. Damit sind wir dem gesuchten Subjekt wieder auf der Spur. (Ob es sich um das Selbst handelt, wissen wir allerdings noch nicht.)

Dieses neutrale Subjekt nennt man im Vedanta das Zeugen-Bewusstsein (Sakshi).

Unterscheidung zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen

Die Form wird wahrgenommen und das Auge ist es, das sie wahrnimmt.
Das Auge wird wahrgenommen und der Mind ist es, der es wahrnimmt.
Der Mind in seinen verschiedenen Ausformungen wird wahrgenommen und das Zeugen-Bewusstsein ist wahrhaftig das, was ihn wahrnimmt.
Aber das Zeugen-Bewusstsein wird von nichts und niemandem wahrgenommen.

Drig Drishya Viveka, Vers 1

Das Bezeugen oder Zeugen-Bewusstsein ist somit das letztgültige Subjekt; es wird sich nicht bei genauerer Betrachtung als Objekt entpuppen, so wie andere scheinbare Subjekte (Körper, Mind usw.), die ja alle wahrgenommen werden können. Und wer das Zeugen-Bewusstsein kennt, weiß: Es weist alle Kennzeichen dessen auf, was laut den Upanishaden das Selbst auszeichnet.

Doch es kann noch nicht das wahre Selbst sein, denn es befindet sich immer noch in der Dualität: hier das Bezeugen (Subjekt), da das Bezeugte (Objekt). Das wahre Selbst dagegen ist advaita, nicht-dual.

Wer sich selbst als Zeugen-Bewusstsein erkannt hat, das vollkommen neutral auf die Welt sich ständig ändernder Objekte schaut, dessen Mind wird sich weniger und weniger mit der Welt der Objekte identifizieren. Nach und nach werden sich alle Identifikationen verabschieden – bis nur noch eine übrig ist: die mit dem Zeugen-Bewusstsein selbst.

Der Weg zur Erleuchtung hat also mehr Stadien als sich diejenigen vorstellen, die meinen, die Erleuchtung könne unterschiedslos jeden von jetzt auf gleich überkommen.

Das erste Stadium auf dem spirituellen Weg ist die Vorbereitung, die den Sucher überhaupt erst aufnahmefähig macht für die Erkenntnis der Wahrheit (Karma Yoga – es geht um auszuführende Handlungen, z.B. Meditation).

Das zweite Stadium beginnt, wenn der Sucher vorbereitet ist und sich gezielt der Erkenntnis der Wahrheit zuwendet (Jnana Yoga, der Weg der Erkenntnis). Der Sucher lernt immer deutlicher zu erkennen, was er ist und was nicht.

Wenn der Sucher auf dem Weg der Erkenntnis irgendwann beginnt, sich mit dem Zeugen-Bewusstsein zu identifizieren, tritt er in das dritte Stadium ein, in welchem sich nach und nach alle seine üblichen Identifizierungen auflösen.

Das vierte Stadium beginnt, wenn die Identifikation mit dem Zeugen-Bewusstsein vollständig an die Stelle der anderen Identifizierungen getreten ist. Es ist jetzt vollkommen klar, wie das ist, was meine wahre Natur ist. Doch selbst wenn ich jetzt mit „dem Richtigen“ identifiziert bin, muss sich auch diese letzte Identifikation auflösen – denn solange Identifikation da ist, halte ich mich immer noch für ein getrenntes Ich. Ich weiß nun hundertprozentig, dass ich weder Körper, noch Lebensenergie bin, noch Gefühle oder Gedanken, noch Intellekt und höhere Einsicht, noch irgendwelche Glücksgefühle, nicht einmal die beseligenden Zustände, die ich vielleicht im spirituellen Bereich erlebe. Ich weiß, dass ich all das nicht bin, aber um mein wahres Selbst weiß ich solange nicht, wie eine Ich-Idee vorhanden ist – selbst wenn dieses Ich das Zeugen-Bewusstsein ist.

In all diesen Stadien braucht der Sucher Hilfe – am besten durch einen Lehrer, der dem eigenen Erkenntnisstand voraus ist, denn es ist schwierig, die eigenen Identifikationen zu durchschauen. Und nur darum geht es: Alle Identifikationen als solche zu erkennen. Eine Identifikation, die durchschaut ist, löst sich auf wie ein Traum sich auflöst, sobald man in den Wachzustand eintritt.

Ganz am Ende des Weges wird Identifikation als solche losgelassen und damit jegliche Vorstellung eines getrennten Ichs: Der Zeuge geht, was bleibt, ist reines Bewusstsein.

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  1. Essay 12/2010