Die meisten spirituellen Sucher sehnen sich nach Stille, zunächst nach Stille in ihrer Umgebung, doch mehr und mehr nach Stille in ihrem eigenen Kopf. In unserer hektischen Welt, überflutet von einer nicht abreißenden Welle von Informationen, aufgefordert stets und ständig up to date zu sein und Millionen von Namen und Fakten abrufbereit zu haben, ist unser Kopf (Mind) kaum noch in der Lage, sich zu entspannen und abzuschalten.

Deshalb ist Meditation für viele Sucher so attraktiv und wohltuend, ebenso wie der Aufenthalt in der Natur. Zunächst wird nur währenddessen Stille erlebt; doch je öfter man meditiert oder sich in der Natur aufhält, desto mehr kehrt im Mind auch dann Ruhe ein, wenn man gerade nicht meditiert oder durch Berge und Wälder wandert. Dennoch gibt es immer wieder Situationen, in denen man völlig im aufgewühlten Mind verloren zu gehen scheint und die Stille schmerzlich vermisst. Warum nur bleibt die Stille nicht? Warum werde ich nicht endlich erleuchtet und hab meine Ruhe?

Erleuchtung

Hinter dieser Frage steht die Vorstellung, dass Stille im Kopf und Erleuchtung dasselbe sind. Wie alle Vorstellungen über das, was Erleuchtung ist, so ist auch diese falsch. Warum? Weil sie einem unerleuchteten Mind entspringt. Wo liegt der Haken? Der Haken liegt in dem, was der unerleuchtete Mind für Stille hält. Wenn man unter Stille einen erfahrbaren Zustand versteht, dann hat sie mit Erleuchtung nichts zu tun.

Warum nicht? Weil die so genannte Erleuchtung kein Zustand ist (der kommt und geht), sondern unsere eigentliche Natur – die weder kommt, noch geht, sondern immer schon war und immer sein wird. Unsere eigentliche Natur ist Ewigkeit.

Aber die Stille, die wir kennen, ist ein vergänglicher Zustand, egal wie „tief“ sie ist. Sie spiegelt das, was wir suchen, aber sie ist es nicht, sonst würde sie bleiben. Es ist wichtig, das zu wissen, denn die Verwechslung von erfahrbarer Stille mit Erleuchtung sorgt dafür, dass der Wahrheitssucher sich ständig in die verkehrte Richtung orientiert. Er meint, dass die Stille, die er erfährt, irgendwann so tief ist, dass sie wunderbarerweise zur Erleuchtung selbst wird.

Gedanken und Gefühle

Stille und Gedanken oder Gefühle scheinen sich gegenseitig auszuschließen. Also versucht der Sucher, so oft wie möglich den schnatternden Mind abzustellen und die Stille, sobald sie auftaucht, aufrecht zu erhalten. Dieses Vorgehen kann ausgesprochen frustrierend sein, einfach, weil es letztlich scheitern muss. Einen Zustand, gleich welcher Art, kann man nicht aufrechterhalten. Ein Zustand ist notwendigerweise etwas, das vergeht. Glücklicherweise muss man auch gar nichts aufrechterhalten, denn das, was wir eigentlich sind, ist kein Zustand. Es ist das einzige, was bestehen bleibt, ohne dass man auch nur das Geringste dafür tun müsste, weil wir es ja bereits sind.

Im Umkehrschluss ist also alles, was wieder vergeht, auf gar keinen Fall das, was wir eigentlich sind. Und auf gar keinen Fall das, was der Wahrheitssucher sucht. Er sucht das Bleibende, das Ewige. Das Problem ist, dass wir dieses Bleibende, Ewige, offensichtlich nicht erkennen, und schon gar nicht erkennen wir es als unsere eigentliche Natur.

Aber kennen wir überhaupt irgendetwas, das bleibt? Genau dies ist eine der wichtigsten Fragen, die man sich im Advaita Vedanta stellt: Was bleibt? Was ist ewig? Dazu sortiert man erst einmal alles Vergängliche aus – und kommt ziemlich bald zu dem frustrierenden Ergebnis, das anscheinend alles vergänglich ist.

Das, was unseren Mind beschäftigt, ist dabei sogar besonders vergänglich, jedenfalls vergänglicher als grobstoffliche Materie. Im Mind herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, Auftauchen und Abtauchen von Gedanken, Gefühlen, vielfältigsten Zuständen. Mit ein bisschen Übung kommt dieser laufende Wandel zu einer relativen Ruhe, und im Tiefschlaf kommt er vorübergehend ganz zum Erliegen. Die Ruhe ist relativ – doch was ist absolut? Der Tiefschlaf geht vorbei – doch was bleibt?

Es gibt etwas, das bleibt: Das Bewusstsein all dieser unterschiedlichen Gedanken, Gefühle und Zustände. Sie alle werden ja wahrgenommen, und dieser Wahrnehmung liegt das zugrunde, was wir im Advaita Vedanta Bewusstsein nennen [1]. Bei allem, was je in unserer Wahrnehmung auf- oder abtaucht, ist es stets mit dabei.

 

Ein Experiment

Schauen Sie auf ein grobstoffliches Objekt, also einen Gegenstand, ein Lebewesen oder eine Naturerscheinung (Wasser, Stern, Stein). Konzentrieren Sie sich darauf.

Nun hören Sie auf, sich darauf zu konzentrieren, Sie entspannen Ihren Blick. Das Objekt ist weiterhin da, aber Ihr Blick hat keine Richtung mehr, ist weich und weit. Auch Wahrnehmung ist weiterhin da, aber ungerichtet.

Sobald Sie die Ausrichtung auf ein Objekt beenden, werden Sie bemerken, dass die Wahrnehmung unmittelbar zu Ihnen selbst zurückkehrt.

 

Nehmen Sie nun ein bestimmtes grobstoffliches Objekt, nämlich Ihren eigenen Körper. Konzentrieren Sie sich darauf, fühlen Sie ihn. Nun hören Sie auf damit. Wieder bleibt das Objekt Körper, ebenso wie die Wahrnehmung davon, aber diese ist weit und weich.

Sie können jetzt eine interessante Entdeckung machen, die Ihnen zuvor vielleicht nicht zugänglich war: Mit dem Beenden der Konzentration kehrt die Wahrnehmung unmittelbar zu ihnen selbst zurück. Und auf einmal ist eindeutig klar, dass dieses „Sie selbst“ etwas anderes ist als der Körper.

 

Als nächstes machen Sie das Experiment mit einem feinstofflichen Objekt, zum Beispiel mit einem Gefühl (Angst, Wut, Trauer) oder einer Sinneswahrnehmung (Schmerz, Lust). Konzentrieren Sie sich darauf. Und dann hören Sie auf, sich darauf zu konzentrieren. Auch dieses Objekt kann bleiben, ebenso wie die Wahrnehmung davon, aber diese ist jetzt weit und weich.

Und auch hier werden Sie merken, dass die Wahrnehmung unmittelbar zu Ihnen selbst zurückkehrt – also weg vom Objekt, hin zum Subjekt. Sie können erkennen, dass Sie weder Gefühle, noch Gedanken, noch Sinneswahrnehmungen sind.

Wie bei Ihrem eigenen Körper haben Sie bei diesem Experiment die Möglichkeit, eine besondere Entdeckung zu machen. Denn selbst wenn Sie nicht mehr auf ein bestimmtes Objekt, beispielsweise ein Gefühl, konzentriert sind, können sie dieses dennoch klar wahrnehmen – jedenfalls falls es sich um ein starkes Gefühl handelt. Aber sie werden merken, dass es ein anderes Wahrnehmen ist als das, was Sie kennen. Das übliche Wahrnehmen geht nämlich einher mit einer Identifizierung mit dem Gefühl. Das reine Wahrnehmen ist dagegen frei von Identifizierung. Im reinen Wahrnehmen löst sich die Identifizierung mit dem Wahrgenommenen.

Bezeugen

Dieses reine Wahrnehmen nennt man Bezeugen. Das Bezeugen hat einfach keine Aktien in dem, was es wahrnimmt. Es ist losgelöst vom Objekt der Wahrnehmung. Wenn Sie von diesem Standpunkt aus leben würden, dann wären sie innerlich losgelöst von allem Geschehen – selbst wenn Sie es weiterhin wahrnehmen. Sie denken, fühlen, handeln weiter, jedoch ohne Identifikation.

Ohne Identifikation bedeutet nicht, ohne zu denken, ohne zu fühlen, ohne zu handeln. Es bedeutet nur, dass Sie das Denken, Handeln und Fühlen nicht als Ausdruck Ihres Selbst ansehen. Vielmehr sind Gedanken, Handlungen und Gefühle bloße Objekte der Wahrnehmung. Wahrnehmung wiederum ist Ausdruck von Bewusstsein. Und Bewusstsein ist unser eigentliches Selbst. Durch die obige Übung oder in der Meditation können Sie eine Ahnung davon bekommen.

Die Identifikation, die normalerweise stattfindet, wenn man etwas wahrnimmt, lässt sich auf eine einfache Formel bringen: Das Wahrgenommene wird als etwas betrachtet, was „ich“ habe. Ich bin wütend, ich bin traurig, ich spüre Schmerz oder Lust. Im Bezeugen dagegen sind Wut, Angst, Trauer, Schmerz oder Lust nichts als Phänomene, die im Mind auftauchen – was nicht bedeutet, dass sie ihre jeweilige Qualität verlieren (so ist Schmerz weiterhin schmerzlich, Lust lustvoll). Dieses Ich erlebt sich als getrennt von allem anderen. Aber im Bezeugen ist das separate Ich abwesend.

Bezeugen ist reines Subjekt, ohne Bindung an ein Objekt. In der Essenz ist Bezeugen reines Bewusstsein, ohne jegliche Identifikation. Wenn Sie sich in Ihre reine Subjektivität – Bewusstsein – hineinfallen lassen und jegliche Neigung aufgeben könnten, sich mit irgendwelchen Objekten zu identifizieren, dann wären Sie am Ende des Weges angelangt. Denn Bewusstsein ist das, was Sie ohnehin sind.

Falls Sie das Bezeugen kennen, jedoch nicht permanent im Bezeugen leben, dann wissen Sie, dass auch dies ein Zustand ist. Wenn das Bezeugen aber doch so „nah“ an dem ist, was wir eigentlich ohnehin sind, warum bleiben wir nicht dort? Dazu muss man fragen „Wer ist es, der nicht dort bleibt?“ Antwort: „Der Mind.“ Denn wir sind ja schon das dem Bezeugen zugrunde liegende Bewusstsein. Nur der Mind ist seit Ewigkeiten daran gewöhnt, sich mit wahrgenommenen Objekten zu identifizieren und dies dann “Ich“ zu nennen; damit wird er nicht so schnell aufhören.

 

Bewusstsein

Gehen wir noch einmal zurück zum obigen Experiment. Sie beenden die Konzentration und die Wahrnehmung kehrt zu Ihnen selbst zurück. Da könnte sie eigentlich bleiben und alles wäre wunderbar. Aber nein, sobald die Wahrnehmung zu Ihnen selbst zurückgekehrt ist und Sie in Ihrer eigentlichen Subjektivität ruhen, wird der Mind sofort „zugreifen“ und das Wahrnehmen wieder zum Objekt machen. Nicht mehr Sie, das Selbst, ist dann Subjekt, sondern der Mind, der sich dieses neu entdeckte  „Subjekt“ zueigen machen möchte. Und in dem Augenblick ist es zum Objekt geworden.

Der Mind will es „haben“. Der verzweifelte Ausruf einer meiner Schülerinnen ist typisch: „Aber ich will das wirklich fühlen, spüren!“ Wir vertrauen dem, was wir fühlen oder spüren können, mehr als dem reinen Sein, reinen Bewusstsein, das wir sind. Die Crux ist: Was immer wir fühlen oder spüren können, ist unter Garantie nicht das, was wir sind, eben weil wir es fühlen und spüren. Etwas Gefühltes ist Objekt der Wahrnehmung, es ist niemals das Subjekt, unser eigentliches Selbst, das wir suchen.

Das Problem mit dem Bewusstsein ist also nicht, dass es schwer zu finden ist. Das Problem ist, dass man es nicht greifen, sondern nur sein kann (weil man es eben ist).

 

Was hat das alles mit der Stille zu tun? Und was ist das für eine Stille, die immer wieder in Zusammenhang mit der Erleuchtung genannt wird? Am ehesten ist sie uns zugänglich als Bezeugen, als reines Wahrnehmen und als Ruhen in diesem Wahrnehmen. Ob nun Gefühle, Gedanken, Sinneseindrücke oder aber Stille in dieser Wahrnehmung auftauchen, ist dabei vollkommen unerheblich.

Immer wenn das Wahrnehmen sich auf ein Objekt ausrichtet, gleich welcher Art, besteht die Möglichkeit der Identifizierung – was nichts anderes ist, als die Vorstellung von einem separaten Ich. Als separates Ich zu leben, bedeutet, in Unfrieden zu leben, in einem mehr oder weniger subtilen Kampf mit den anderen separaten Ichs.

Nur wenn das Wahrnehmen die Objekte Objekte sein lässt besteht die Chance, das eine, ungeteilte Bewusstsein als das wahre Selbst zu erkennen. Die Erkenntnis, dass es nichts außerhalb meines Selbst – Bewusstsein – gibt, bringt Frieden, und diesen Frieden kann man als Stille bezeichnen.

 

Fußnote:

[1] Siehe Essay 3, 2011 „Bewusstsein“