Das letzte Essay endete mit den Worten:

Ich kann jetzt mein Augenmerk auf das einzige richten, was mir tatsächlich fehlt, nämlich die Erkenntnis dessen, was ich ohnehin schon bin. Und wie mache ich das? Ich wende mich denen zu, denen diese Erkenntnis anscheinend nicht mehr fehlt. Nur ein Lehrer, der um unsere eigentliche Nicht-Dualität weiß, kann mir helfen, die Erkenntnis zu erlangen. Wieso? Weil ich selbst meine Erlebnisse und Erfahrungen nur aus der Perspektive meiner Unwissenheit deuten kann und dadurch stets zu falschen Schlüssen komme. Wenn ich alleine auf die Wahrheit stoßen könnte, hätte ich sie schon gefunden. Ich brauche unbedingt ein Korrektiv. Nur jemand, der die Unwissenheit überwunden hat, kann mir die Perspektive des Wissens vermitteln, das mir fehlt.

Aber könnte ich nicht auch einfach spirituelle Texte studieren? Nein, denn in meiner Unwissenheit bin ich nicht in der Lage, selbst echte Quellen des Wissens richtig zu interpretieren. Das ist leider so. Natürlich kann und werde ich spirituelle Bücher lesen und spirituellen Lehrern zuhören, solange ich „meinen“ Lehrer noch nicht gefunden habe. Aber besser ist es, ihn zu finden.

Jeder Sucher hat eine unterschiedliche Vorstellung und unterschiedliche Erwartungen bezüglich eines spirituellen Lehrers. Die einen suchen nach einem Erlöser, der ihre Welt für sie in Ordnung bringt. Andere wollen einen strengen Lehrmeister, der sie darin bestätigt, dass mit der Einhaltung von Regeln und Ritualen, sich auch irgendwann die Erleuchtung einstellen wird. Wieder andere suchen jemanden, der ihnen durch seine Methoden besondere „spirituelle“ Erfahrungen verschafft; sie gehen davon aus, dass jede besondere Erfahrung sozusagen eine Mini-Erleuchtung ist und dass sich aus all diesen Mini-Erleuchtungen irgendwann die „richtig große“  Erleuchtung ergibt. Einige Sucher verlieben sich einfach in einen Lehrer und „folgen ihrem Herzen“, egal, was der Lehrer von ihnen verlangt. Andere lehnen die Vorstellung einer Schüler-Lehrer-Beziehung grundsätzlich ab, entweder prinzipiell oder weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben.

Einige Sucher stellen sich unter einem Lehrer jemanden vor, bei dem sie ihren Eigenwillen aufgeben, ihren Verstand beiseite stellen und dem sie sich mit Haut und Haaren verschreiben. Diese Vorstellung halte ich erstens für nicht zeitgemäß und zweitens für überflüssig. Ganz abgesehen davon, dass sie im Sucher selbst großen Schaden anrichten kann, falls der „Meister“ seine Macht missbraucht.

Machtmissbrauch hat viele Gesichter: Wer seine Freiheit aufgeben muss, wer sich Regeln unterwerfen muss, die in sein persönliches Leben eingreifen, wer sich eingeschränkt, unmündig und gemaßregelt fühlt, mit einem Wort, wer sich nicht als das zeigen kann, was er ist, unterliegt Machtmissbrauch.

Es gibt auch subtilere Methoden von Machtmissbrauch. Eine sehr verbreitete ist die, den Schüler mit großen Versprechungen zu immer mehr Einsatz von Geld, Energie und Hingabe zu bewegen. So bleibt der Sucher, in dem oft vergeblichen Versuch, die spirituelle Karriereleiter erfolgreich zu erklimmen, ewig auf dem Weg, statt sich der Erkenntnis dessen, was er eigentlich ist, zu nähern.

Zu Machmissbrauch gehören stets zwei, einerseits der Schülers mit seiner Angst, Gier, Traumtänzerei oder Ehrgeiz, andererseits der so genannten Meister mit seinem Machthunger (hinter dem sich ebenfalls Angst, Gier, Traumtänzerei oder Ehrgeiz verbergen mag). Doch kann man die besonders verletzbare Position des Suchers nicht leugnen. Denn wie soll er, der ja noch gar nicht genau weiß, was er sucht und erst recht nicht, was ihn an sein Ziel bringen könnte, wissen, wer der Richtige für ihn sein könnte? Diejenigen, die jegliche Schüler-Lehrer-Beziehung ablehnen, geben darauf eine einfache Antwort – wie ein Leser schrieb: Kein äußerer Lehrer, Meister, Erleuchteter, Heiler ,Therapeut kann dir helfen – nur Beobachten und das Entwickeln des Zeugen – deines Inneren Meisters – wird weiterhelfen. Und relaxen und nicht folgen.

Doch ich gehe davon aus, dass es sich lohnt, einen Lehrer zu finden. Die Gründe hierfür habe ich am Ende des letzten Essays aufgeführt (siehe oben). Das vom Leser angesprochene „Entwickeln des Zeugen“ ist eine gute Idee, auch wenn ich es anders formulieren würde. Allerdings kann dies nur jemand tun, der den Zeugen bereits kennt. Und Kennenlernen tun wir ihn nicht aus uns selbst heraus, sondern indem uns diejenigen, die um ihn wissen, einen Zugang zu ihm eröffnen. Das sind dann die Lehrer.

Die ganze Missbrauchsthematik wird entschärft, wenn es, wie beim Vedanta, ums Erkennen geht und nicht ums Handeln. Der Lehrer lehrt, der Schüler lernt. Der Lehrer sagt nicht, dies ist zu tun und das ist zu lassen, sondern beantwortet die Fragen des Schülers logisch nachvollziehbar. Dabei geht es nicht um Regeln und Gesetze, sondern um Erklärungsmodelle für das, was der Schüler wahrnimmt. Wenn in den Vedanta-Schriften steht „Das Selbst ist alles, was ist“, dann entspricht das nicht dem, was der Schüler wahrnimmt. Es verlangt nach einer Erklärung. Der Lehrer kann sie dem Schüler geben. Aber der Schüler ist weder aufgefordert, ihm zu glauben, noch sich in seinem Handeln nach den Erklärungen des Lehrers zu richten. Der Schüler fragt so lange nach, bis ihm das Gesagte einleuchtet. Es geht einzig und allein ums Verstehen.

In dem Moment, wo der Verstand des Schülers das, was ist (die nicht-duale Realität) hundertprozentig erfasst, löst sich die vermeintliche Trennung zwischen Ich und Nicht-Ich auf, und zwar für immer. Weshalb das so ist? Weil diese Trennung (= Dualität) nichts anderes ist als das fehlende Wissen um die Nicht-Dualität. (Bitte diese zwei Sätze so lange lesen, bis sie verständlich sind, denn ich kann dies hier nur sehr verkürzt darstellen; es ist Teil dessen, was der Schüler vom Lehrer lernt – und dieser Lernprozess kann viele Jahre dauern. Fragen gerne per Email an mich).

Übrigens ist in der Advaita Vedanta Tradition keine Bezahlung für den Lehrer vorgesehen. Der Lehrer lebt von Spenden.

 

Wie finde ich meinen Lehrer?

Zunächst einmal muss man sich von der Vorstellung verabschieden, dass man mit absoluter Sicherheit den richtigen Lehrer finden kann. Man kann nur denjenigen finden, der im Moment der Richtige ist. Von da an muss man nur noch auf zweierlei achten:

ob man sich bedingungslos angenommen fühlt und

ob man das Gefühl hat, dass die Gespräche und Lehren einem etwas bringen.

Beides muss man bejahen können, ansonsten ist es besser, sich nach einem anderen Lehrer umzuschauen.

Warum ist es so wichtig, dass man sich bedingungslos angenommen fühlt? Weil man sonst nicht mit vollem Herzen dabei sein wird, einige Teile der Persönlichkeit müssen verborgen bleiben. Das führt zu einer inneren Spaltung, aufgrund derer auch die gewonnenen Erkenntnisse nie total sein werden, ein Teil des Minds bleibt von ihnen unberührt.

Allerdings reicht es nicht, sich vom Lehrer nur bedingungslos angenommen zu fühlen. Bedingungslos angenommen hat einen vielleicht auch die eigene Oma. Wer nicht gleichzeitig das Gefühl hat, dass er durch die Gespräche und Lehren weiterkommt und sich der Erkenntnis dessen, was er ist, nähert, der sollte seine Beziehung zum Lehrer ebenfalls hinterfragen.

Nun sind Lehrer rar, die den beiden Kriterien in vollem Umfang gerecht werden. Dennoch lohnt es sich, diese Kriterien im Blick zu behalten. Gleichzeitig gibt es eine Dimension, die man mit einer nüchternen „Kosten-Nutzen-Rechnung“ nicht in den Griff bekommt, die Dimension des Herzens. Eine meiner Schülerinnen schrieb mir

Woher weiß man genau, ob man den richtigen Lehrer gefunden hat? Diese Frage würde ich heute für mich so beantworten: Manche Menschen fragen sich: liebe ich diesen Menschen oder liebe ich ihn nicht?  Woher weiß ich, ob ich eine Person liebe?  Ich habe für mich diese Antwort gefunden: Die Frage stellt man glaube ich nur,  wenn man noch nicht oder nicht mehr liebt. Denn wenn man liebt, dann weiß man es,  ist sich sicher, stellt sich diese Frage nicht. Genauso würde ich das mit einem Lehrer sehen. Man weiß, wenn man seinen Lehrer gefunden hat – dass es der Richtige ist.

In gewissem Sinne hat sie Recht, wenn man den Lehrer gefunden hat, der für einen „stimmt“, fragt man nicht „Ist es der Richtige?“. Allerdings ist der Schluss, den sie zieht, nicht ganz folgerichtig. Um bei ihrem Beispiel mit der Liebe zu bleiben: Richtig ist, dass man nur dann fragt, ob man jemanden liebt, wenn man nicht oder nicht mehr liebt. Man kann also aus dieser Frage Rückschlüsse auf die Qualität der eigenen Liebe ziehent. Aber nicht auf die Qualität dessen, den man liebt, darauf, ob man den Richtigen liebt.

Auch die Frage, ob jemand der richtige Lehrer für einen ist, stellt man sich vielleicht nicht. Das bedeutet aber nur, man hat denjenigen gefunden, den man jetzt grad braucht. Es bedeutet nicht, dass der Lehrer gut, kompetent, erleuchtet, reif und weise ist. Und es bedeutet auch nicht, dass er nicht vielleicht versuchen wird, seine Macht zu missbrauchen. Eine Garantie für einen „richtigen“ Lehrer (oder Geliebten) in diesem Sinne gibt es nicht.

Es ist besser, sich diese Tatsache von vorneherein klar zu machen. So wie dies der Liebe keinen Abbruch tun wird, so wird es auch die Beziehung zum Lehrer nicht in Frage stellen. Aber es bedeutet, dass wir der Herzensdimension nicht unseren nüchternen Verstand opfern (jedenfalls nicht ganz…). Und genau das ist ja das Anliegen des Advaita Vedanta. Denn ohne einen klaren, logisch operierenden Verstand können wir diesen Weg gar nicht gehen.

Noch einmal zurück zu der Frage: Wie finde ich meinen Lehrer? Die meisten Sucher haben bereits viele Lehrer besucht, sich immer mal wieder für einen begeistert, aber der richtige Kick fehlte dann doch. Wie im letzten Essay angedeutet, herrscht kein Mangel an Angebot, das heißt, es gibt genug Lehrer. Aber wie erkennt man den eigenen Lehrer, welche Kriterien legt man an? Eine Leserin schrieb: Wie erkennt der Schüler den Lehrer/Meister?

Um das Thema ein wenig systematischer anzugehen, schlage ich Folgendes vor:

Zuallererst sollte man so genau wie möglich bestimmen, was man bei einem Lehrer eigentlich sucht. Dann die infrage kommenden Lehrer besuchen, ihre Aussagen studieren und sich die Menschen genau betrachten, die sich als ihre Schüler bezeichnen. Das erste der beiden obigen Kriterien kann man oft schon nach wenigen Treffen anlegen: Fühle ich mich hier frei? Oder gibt es Regeln und Maßregeln, mit denen ich nicht einverstanden bin bzw. gefällt mir vielleicht die Art nicht wie die Einhaltung der Regeln eingefordert wird. Gibt es einen Verhaltenskodex, der mir das Gefühl von Enge oder Unmündigkeit vermittelt. Fühle ich mich verurteilt vom Lehrer und/oder seinen Schülern?

Wer derlei Gefühle hat, kommt allerdings nicht umhin, sie auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, um auszuschließen, dass man sich nur von den eigenen Ängsten ins Bockshorn jagen lässt. Das bedeutet, trotz der eigenen Unsicherheit etwas zu sagen oder zu tun, von dem man annimmt, dass es wahrscheinlich von der Gruppe oder dem Lehrer missbilligt wird. Ist die Reaktion so wie erwartet, ist es wahrscheinlich ohnehin besser, möglichst bald das Weite zu suchen.

Wer einen infrage kommenden Lehrer gefunden hat, sollte eine Zeitlang andere Lehrer und Richtungen loslassen. Denn die Lehrweise eines Lehrers kann ihre Wirkung nur dann entfalten, wenn man sich ganz auf sie einlässt. Doch ist es gut, sich einen Zeitrahmen zu setzen, ich schlage ein halbes Jahr vor, und dann neu zu entscheiden, ob man den eingeschlagenen Weg weiter verfolgen möchte. Wenn die Entscheidung positiv ausfällt, ist ein weiterer Zeitrahmen von 3 Jahren nützlich. Es ist wichtig, sich auch nach drei Jahren ernsthaft der Entscheidung zu stellen: Will ich dabei bleiben, weil es mich weiterbringt und weil ich mich hier frei fühle, oder will ich nur dabei bleiben, weil ich mich hier schön eingerichtet habe?

Eine Leserin fragt: Ist es wichtig, dass der Lehrer erleuchtet ist oder kommt es nur auf mein Vertrauen oder Hingabe an?

Wie gesagt, kommt es auf sehr viel mehr an als auf Vertrauen und Hingabe. Doch sind Vertrauen und Hingabe unabdingbar – allerdings nicht als blindes Vertrauen und blinde Hingabe. Vertrauen und Hingabe sind wichtig, damit der Lehrer mit dem Schüler arbeiten kann. Doch der Verstand des Schülers muss scharf sein und wach bleiben, er muss sich frei fühlen, all seine Zweifel anzusprechen und abzuklären.

Zur Frage der Erleuchtung des Lehrers eine Gegenfrage: Wer beurteilt, ob ein Lehrer erleuchtet ist? Ich gehe davon aus, dass erstens kein Sucher je beurteilen kann, ob ein Lehrer erleuchtet ist oder nicht und zweitens, dass es derart viele Definitionen von Erleuchtung gibt, dass es besser ist, das ganze Thema auf sich beruhen zu lassen. Statt sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob ein Lehrer erleuchtet ist, sollte der Sucher lieber die obigen Kriterien anlegen. Wenn er sich mit einem Lehrer wohl fühlt, ihn vielleicht sogar liebt, und obendrein auch noch von ihm profitiert, dann ist das mehr als genug. Die Hauptsache ist, dass der Lehrer ihm voraus ist. Sollte er das irgendwann nicht mehr sein, dann kann sich der Schüler immer noch einen anderen Lehrer suchen.1

 

Gibt es Menschen, die keinen Lehrer brauchen?

Ja, die gibt es. Menschen, die in ihren vergangenen Leben bereits „vorgearbeitet“ haben, wie etwa Ramana Maharshi, brauchten offensichtlich keinen Lehrer. Doch ist dies ungeheuer selten. Daneben gibt es aber auch Menschen, die keinen Lehrer mehr brauchen. Sie sind durch eine oder mehrere Schüler-Lehrer-Schulen gegangen und haben erkannt, wer sie in Wahrheit sind. Damit ist der Weg nicht zu Ende, aber der Anfang vom Ende des Weges ist erreicht. Diese Menschen, ich nenne sie erwacht, sind unter Umständen in der Lage auf einen Lehrer zu verzichten. Allerdings nur dann, wenn sie vor dem Erwachen sehr gut vorbereitet waren. Alle anderen, denen ein stabiles Fundament fehlt, brauchen weiterhin jemanden, mit dem sie ihr Erleben reflektieren können, denn ohne ein stabiles Fundament[1] wird ihr Wissen immer wieder scheinbar durch alte Verhaltens- und Denkgewohnheiten verschleiert werden. Nur ein Lehrer kann ihnen helfen, durch diese Gewohnheiten hindurchzuschauen und zu erkennen, dass ihre wahre Natur davon in keiner Weise berührt wird.

Fußnote:

  1. Worin dieses stabile Fundament besteht, davon wird in einem späteren Essay die Rede sein.