Die meisten spirituellen Sucher kennen den Begriff Karma, aber nicht alle verstehen dasselbe darunter. Im Advaita Vedanta ist Karma eindeutig definiert. Zunächst einmal als Begriff: Karma ist ein Sankrit-Wort und heißt Tun, Handeln, Tat – sonst nichts. Ich möchte hier jedoch das beschreiben, was wir im Westen normalerweise unter Karma verstehen. Die Vorstellung, die die meisten westlichen Sucher von Karma haben, umfasst etwa Folgendes: Schicksal, Lernaufgabe für dieses Leben, Strafe für das in früheren Leben Angerichtete.
Das Karma-Konzept des Advaita Vedanta
Die Voraussetzung für Karma ist Reinkarnation: Jedes Wesen durchläuft viele Inkarnationen, im Laufe derer es sich spirituell weiterentwickelt. Der Mensch ist ein Wesen, das aus freiem Willen handeln kann. Das bedeutet, dass seine Handlungen (Karmas) Konsequenzen haben: jede Handlung ist Ursache und hat eine Wirkung. Dieses Ursache-Wirkungs-Gesetz liegt dem Karma-Gesetz zugrunde.
Wenn es regnet, wird der Boden nass. Wenn ich zu wenig schlafe, werde ich müde. Wenn ich das Licht einschalte, wird es hell. Die Wirkung solcher Handlungen ist unmittelbar, wir wundern uns nicht, dass sie eintritt und oft ist sie beabsichtigt. Es gibt aber auch andere Kausalzusammenhänge. Wenn ich täglich ins Sonnenstudio gehe, werde ich braun. Erste Wirkung. Später bekomme ich eine schrumpelige Lederhaut. Zweite Wirkung. Und wenn ich Pech habe, bekomme ich irgendwann Hautkrebs. Dritte Wirkung. Die Wirkungen unserer Handlungen treten also nicht immer sofort ein, auch erkennen wir den Zusammenhang zwischen Handlung und Wirkung nicht immer.
Genauso ist es mit dem Karma: In dem Kontinuum vieler Leben treten einige Wirkungen einiger unserer Handlungen erst in späteren Leben ein. Wenn ich in einem Leben viele positive Handlungen vollzogen habe, aber keine Gelegenheit hatte, ihre Früchte zu ernten, werden diese mir in einem anderen Leben zukommen. Ebenso mit negativen Handlungen und deren Früchten. So entstehen aus unserer begrenzten Perspektive heraus manchmal paradoxe Situationen, in denen jemand ständig etwas erntet, was er scheinbar überhaupt nicht verdient hat – sowohl im positiven wie im negativen Sinne.
Das Karmagesetz funktioniert aus sich selbst heraus, es braucht keinen, der es in Gang setzt, reguliert oder gar korrigiert. Es ist ein neutrales Gesetz wie etwa das Gesetz der Schwerkraft.
Fragen und Antworten
Wer bestimmt, was positive oder negative Handlungen sind?
Grundsätzlich ist das positiv, was niemanden zu Schaden kommen lässt oder Schaden abwendet; negativ ist das, was Schaden anrichtet oder nicht abwendet, obwohl es möglich wäre. Der eigene Maßstab für ethisches Handeln kann nur sein: Ich denke und handle so, wie ich mir wünsche, dass andere in meiner Situation denken und handeln sollten. Ich behandle andere so, wie ich von ihnen behandelt werden möchte. Ob das Ergebnis dieser Haltung tatsächlich immer optimal ist, spielt dabei keine Rolle. Hauptsache, mein Motiv ist authentisch.
Welche Wirkungen meiner in früheren Leben vollzogenen Handlungen kommen jeweils zum Tragen?
Die, die ins Gefüge der jeweiligen Zeitqualität passen.
Und was ist mit dem Rest?
Der wartet auf eine passende Zeitqualität.
Nicht alles kann zu jedem Zeitpunkt erlebt werden und nicht immer ist es möglich, genau die Umstände mit genau der Art von Menschen zu erleben, die ich vielleicht erleben muss.
In jedem Leben häufe ich doch auch wieder neues Karma an – was ist damit?
Ja, in jedem Leben wird Karma angesammelt und nach dem Tod des Körpers dem individuellen Karmapaket hinzugefügt. Aus diesem Paket gibt’s dann jeweils ein kleines Päckchen mit in die nächste Inkarnation.
Dann werde ich ja nie damit fertig, mein ganzes Karma aufzuarbeiten!
Stimmt. Die einzige Möglichkeit, kein Karma mehr anzuhäufen und mit einem Schlag alles bisherige Karma hinter sich zu lassen, ist die Erleuchtung.
Kann ich mein Karma abwenden oder ungültig machen?
Nein. Karma muss erlebt werden.
Was ist, wenn ich meine Aufgabe gelernt habe?
Karma ist das Ernten der Früchte früherer Handlungen, es ist keine Lernaufgabe. Wer aus seinen Fehlern lernt, wird sie nicht wiederholen und daher diese Art von Karma nicht noch einmal ansammeln; wer nicht daraus lernt, wird die Fehler wiederholen und ähnliches Karma auch in späteren Leben zu bewältigen haben. Aber beide werden in diesem Leben ihr Karma ernten müssen. Es ist bereits verursacht und wird in jedem Fall seine Wirkung entfalten.
Dann hab ich ja gar keinen freien Willen!
Doch – schließlich ist es der freie Wille, mit dem Karma geschaffen wird. Weder der Kampfhund, der ein Kind tot beißt, noch das Cholerabakterium, das eine verheerende Epidemie auslöst, sammelt Karma an, denn sie haben keinen freien Willen. Der Mensch dagegen verfügt über einen freien Willen. Allerdings es gibt Dinge im Leben, die man ändern kann und andere, die man nicht ändern kann. Erstere unterliegen dem freien Willen, letztere sind Ausdruck von Karma.
Der Mensch kann seinen freien Willen auf dreierlei Weise so nutzen, dass er zumindest kein weiteres negatives Karma ansammelt:
- indem er das, was er nicht ändern kann, gelassen als sein Karma annimmt und das Beste daraus macht.
- indem er gute Handlungen säht, um irgendwann einmal gutes Karma zu ernten.
- indem er nach der Erleuchtung strebt, die ihn über jegliches Karma erheben wird.
Wie finde ich heraus, ob etwas Karma ist oder meinem freien Willen unterliegt?
Ausprobieren. Die Frage stellt sich uns ohnehin nur bei negativem Karma. Denn wer möchte schon herausfinden, ob er die überraschende Millionenerbschaft durch seinen freien Willen wieder ungültig machen kann? Aber wenn ich beispielsweise krank werde, ist allein dies Ausdruck von Karma. Natürlicherweise werde ich versuchen, wieder zu gesunden. Aber wenn ich feststelle, dass ich die Krankheit nicht kurieren kann, muss ich auch das als mein Karma anerkennen.
Ist die Vorstellung von Karma nicht eine duale Vorstellung?
Ja. Das Karma Gesetz ist nur eine Hilfsvorstellung, die dem Sucher ermöglicht, sich die Welt zu erklären, was wiederum den Geist entspannt und frei macht für die Erkenntnis der allem zugrundeliegenden nicht-dualen Wirklichkeit.
Diese Hilfsvorstellung unterstützt den Sucher auch bei der Entwicklung bestimmter Eigenschaften – allem voran Gelassenheit – die ihm ebenfalls in seinem Erkenntnisprozess dienen. Grundsätzlich geht es Advaita Vedanta immer nur um diesen Erkenntnisprozess.
zuletzt editiert am 05.12.19