Liebe und der Weg der Erkenntnis scheinen nicht viel gemeinsam zu haben, außer auf der höchsten Ebene der All-Liebe. Aber Liebe ist Teil unseres Lebens, nicht nur die Liebe zum Göttlichen, zur Menschheit, zur Natur, zu Notleidenden, zu Freunden und Familie. Das, was wir normalerweise unter Liebe verstehen, ist die Liebe zwischen zwei Menschen in einer Liebesbeziehung. Was ist damit? Welchen Stellenwert hat sie für den Wahrheitssucher?

Viele spirituelle Richtungen lassen sie einfach unter den Tisch fallen oder tun so, als handle es sich um eine Art pubertärer Erscheinung, welcher man um Gottes Willen nicht zuviel Beachtung schenken sollte – eine Art Kinderkrankheit, gegen die man hoffentlich im Laufe des Lebens immun wird. Diejenigen, die ihr ganz entwachsen sind, stehen in der spirituellen Hierarchie ganz oben – sei es nun im Christentum oder in östlichen Religionen.

Liebesbeziehungen

Ist es wirklich nötig, Liebesbeziehungen zu überwinden, um erleuchtet zu werden? Stellen sie auf dem Weg der Wahrheitssuche wirklich eine Gefahr dar? Sind sie notwendigerweise ein Hindernis auf der spirituellen Reise?

Ich meine, Nein, das sind sie nicht. Aber Tatsache ist, dass Liebesbeziehungen vielleicht die größte Herausforderung auf dieser Reise darstellen, die es gibt. Nicht umsonst hat man seit je her Mönchen und Nonnen, Swamis und Swaminis, Sadhus und Sadvis persönliche Bindungen verboten. Man ging davon aus, dass solche Bindungen – und neben der Beziehung von Mutter und Kind stellt eine Liebesbeziehung wahrscheinlich den Gipfel aller Bindungen dar – den Sucher von seiner Suche abbringen würden. Und es ist auch sehr wahrscheinlich, dass sie das tun. Das Gefühl der Liebe ist außerordentlich machtvoll, insbesondere wenn die Hormone mit ihm Spiel sind. Weil es so machtvoll ist, entwickeln wir so starke Bindungen an das Objekt unserer Gefühle, dass alles, was mit ihm im Zusammenhang steht, höchste Priorität in unserem Leben gewinnt. Spirituelles wird zur Nebensache.

Das ist zugegebenermaßen eine Gefahr für den Wahrheitssucher, aber wenn man sich dieser Herausforderung stellt, birgt die Liebe eine einzigartige Chance. Denn nicht die Liebe ist eine Gefahr, nicht einmal die Bindungen oder Wünsche, die entstehen – die Gefahr ist Identifikation. Identifikation womit? Nicht mit der Liebe, sondern Identifikation mit den Gefühlsreaktionen, vor allem mit der Verbundenheit und den Wünschen, die oft mit dem Gefühl der Liebe einhergehen.

Denn selbst wenn Spirituelles nicht zur Nebensache wird – etwa weil man seinen spirituellen Weg mit dem geliebten Menschen zusammen geht – selbst dann bleibt die Gefahr bestehen, sich mit den Gefühlsreaktionen zu identifizieren. Wer jedoch wach ist und wahrhaft auf der Suche nach sich selbst, merkt gerade in einer Beziehung sehr schnell, wenn dies der Fall ist – aus dem einfachen Grunde, weil er sich (wieder einmal) mit etwas identifiziert, was er nicht ist. Und alles, was er nicht ist, ist vergänglich; Frustration ist also vorprogrammiert, weil der Grad der Verbundenheit schwankt. Jede Frustration – nicht nur in einer Beziehung – ist ein klarer Hinweis auf Identifikation.

Die Transformationskraft der Liebe

In dieser Situation hat der Mensch drei Optionen: 1. Sich wehrlos dem Wechselbad seiner Gefühle zu überlassen, was ihn nach und nach so fertig macht, dass er seinen eigenen Regungen gegenüber (und denen seines Partners) immer unempfindlicher wird. Vielleicht geht er aber auch gleich zur nächsten Option über, 2. Flucht vor der Liebe. Er lässt Liebe nicht mehr zu, weil er sich dem Aufruhr der Gefühle, der damit verbunden ist, nicht gewachsen fühlt. 3. Sich dem Gefühl der Liebe mit allem, was dazu gehört zu stellen und die Chance zu ergreifen, sich durch sie wandeln zu lassen.

Die dritte ist eindeutig die wertvollste, gleichzeitig ist sie die schwierigste. Tatsächlich kommt sie als Option nur für diejenigen in Frage, die auf dem spirituellen Weg bereits fortgeschritten sind. Denn um sich der Transformationskraft der Liebe auszusetzen, muss man 1. den eigenen Gedanken und Gefühlen absolut ehrlich gegenüber stehen, 2. Man muss bereits ein gewisses Instrumentarium haben, um diese Gedanken und Gefühle aus der Perspektive der höchsten Wahrheit einordnen zu können und dazu sollte man 3. optimalerweise einen spirituellen Lehrer haben, der in der Lage ist, einem dabei zu helfen – was natürlich nur geht, wenn er/sie das Potential einer Liebesbeziehung für die Wahrheitssuche ermessen kann.

Liebe ist ein ganz besonderes Phänomen; sie selbst ist das Tor zum Himmel, doch die Identifikation mit den durch sie ausgelösten Bindungen und Wünschen ist das Tor zur Hölle. Doch wie verhindere ich diese Identifikation? Richtung Hölle laufen wir dann, wenn wir uns auf das Objekt unserer Liebe ausrichten statt auf die Liebe. Ein so attraktives Objekt wie ein geliebter Mensch, wird uns beinahe automatisch dazu verführen, uns auf ihn auszurichten – und dabei das Wichtigste zu vergessen: die Liebe selbst. Ich muss in der Lage sein, zu unterscheiden zwischen meinen Gefühlsreaktionen und dem, was die Liebe sagt. Die meisten Menschen sind dazu nicht in der Lage und gelangen dadurch unweigerlich in einen Gefühlswirrwarr, der die Liebe irgendwann erstickt. Wenn wir unsere Gefühlsreaktionen dagegen als das sehen können, was sie sind und uns vorbehaltlos der Liebe hingeben, kann keine Identifikation mit Bindung oder Wünschen entstehen – was allerdings nicht heißt, dass beides verschwindet, jedenfalls nicht sofort.

Ob dies in einer normalen Liebesbeziehung geschieht oder in der Verehrung des Göttlichen (Bhakti) – beides ist wertvoll. Allerdings: für die Erleuchtung reicht es nicht. Denn selbst wenn ich in vollkommener Hingabe mit meinem Geliebten, einem Gott, der Natur, der Existenz etc. eins werde, bleibt dies ein durch die Liebe herbeigeführter Zustand – ein wunderschönes Erlebnis, nach dem ich geradezu süchtig werden kann. Denn Zustände und Erlebnisse sind vergänglich, egal wie nicht-dual sie sich anfühlen; sie sind nicht das Ewige, das ich bin.

Erkenntnis

Die Nicht-Dualität, die ich bin, ist kein Gefühl, keine Erfahrung und kein Zustand. Wäre sie das, gäbe es mich als Fühlenden und das Gefühlte, mich als Erfahrenden und das Erfahrene, mich, der/die den Zustand hat und den Zustand – also Dualität. Die Nicht-Dualität, die ich bin, ist ungetrennt von mir, dem Subjekt, sie ist reines Wissen, reines Sein, ohne Objekt. Aber es gibt einen Teil in meinem Verstand, der in der Lage ist sie zu erkennen. Und Erkenntnis gewinne ich nicht durch Lieben. Erkenntnis gewinne ich durch einen Erkenntnisprozess, der mich befähigt, nach und nach all das, was ich nicht bin als Nicht-Ich zu erkennen, bis nur noch das eine Selbst, das ich bin, übrig bleibt.

Ganz gleich, welchen Weg jemand gegangen ist, ausschlaggebend für die Erleuchtung ist der Erkenntnisprozess, der den Weg begleitet oder zumindest abschließt. Das bedeutet, Erkenntnis kann für sich genommen zur Erleuchtung führen, Liebe nicht. Aber Liebe zu ignorieren, zu meiden, zu fürchten, zu verurteilen heißt, ein äußerst wirksames Instrument für den eigenen Erkenntnisprozess zurückzuweisen.

Nun, damit sich die Liebe als transformative Kraft eignet, muss sie außerordentlich kraftvoll, unerschütterlich und bedingungslos sein. Es gibt viele Liebesbeziehungen, und die wenigsten ergreifen den Menschen mit einer solchen Kraft. Das ist wunderbar, und niemand muss oder kann so eine Liebe produzieren. Sie ist absolut keine Voraussetzung für spirituelle Entwicklung. Wie gesagt, meistens ist sie eher das Gegenteil.

Doch wem auf seiner spirituellen Reise diese Form der totalen Liebe begegnet, egal zu wem, der kann sich ihrer Herausforderung stellen und mit ihr, seine Reise fortsetzen. Statt vor der Herausforderung davon zu laufen, gilt es, der Liebe tiefen Respekt zu zollen. Liebe in ihrer Essenz ist das Ewige, was wir sind. Und die Liebe, die in der Begegnung mit einem anderen erblüht, kann uns dieses Ewige erschließen – wenn – und nur dann – wenn wir uns der Liebe hingeben und sie von der Identifikation mit ihren Begleiterscheinungen befreien.

„..und er hob sein Haupt und blickte auf das Volk, und eine Stille fiel über sie.
Und er sprach mit großer Stimme :

Wenn die Liebe euch ruft, so folget ihr, ob ihre Wege auch hart und steil.
Und so ihre Flügel euch decken, so gebet euch hin,
ob ihr verborgenes Schwert euch auch Wunden schlage.
Und glaubet ihr, so sie zu euch spricht,
ob auch ihre Stimme eure Träume auseinanderjage,
wie der Nordwind die Gärten verwüstet.

Denn wie die Liebe euch krönt, so wird sie euch kreuzigen.
Und wie sie euch wachsen lässt, so wird sie euch zurückschneiden.
Wie sie sich erhebt zu eurer Höhe und liebkost eure zartesten Zweige, die in der Sonne zittern,
so wird sie herabsteigen zu euren Wurzeln,
die sich in die Erde klammern, und ihren Halt erschüttern.

Wie Kornähren sammelt sie euch.
Sie drischt euch, dass ihr nackend werdet,
sie siebt euch, dass ihr frei werdet von Schalen.
Sie malt euch weiß.
Sie knetet euch biegsam,
und dann weiht sie euch ihrem Feuer,
dass ihr werdet geheiligtes Brot zu Gottes heiligem Festmahl.

All dieses wird euch die Liebe tun, auf dass ihr kennet die Geheimnisse eures Herzens und werdet in diesem Wissen zu einem Bruchstück vom Herzen des Lebens.

Doch wenn ihr in eurer Furcht nur der Liebe Frieden suchet und der Liebe Lust,
so wäre es besser, ihr bedecket eure Blöße und wichet von der Tenne der Liebe
in die Welt ohne Jahreszeiten, wo ihr lachen werdet, doch nicht all euer Lachen,
und weinen, aber nicht all eure Tränen.

Nur sich selbst gibt die Liebe und nimmt nur von sich selber.
Die Liebe besitzt nicht, noch will sie besessen werden, denn die Liebe genügt der Liebe.

Wenn ihr liebet, so sollt ihr nicht sagen: Gott ist in meinem Herzen, sondern:
Ich bin im Herzen Gottes.
Und denkt nicht, ihr könnet richten den Lauf der Liebe,
denn Liebe, wenn sie euch würdig erfindet, richtet euren Lauf.

Liebe hat kein anderes Verlangen als nur: sich selbst zu erfüllen.
Doch so ihr liebet und dennoch müsset Verlangen haben, so sei es dies:
Zu schmelzen und zu sein wie fließendes Wasser, das singet sein Lied in der Nacht.

Zu wissen um das Weh allzu großer Zärtlichkeit,
verwundet zu werden durch euer eigenes Verstehen der Liebe,
und zu bluten, willig und mit Freuden.
Des Morgens aufzuwachen mit beschwingtem Herzen und
Dank zu geben für einen neuen Tag der Liebe.
Des Mittags zu ruhen und zu überdenken den Rausch der Liebe.
Heimzukehren am Abend voll Dankbarkeit, und dann zu schlafen,
ein Gebet für den Geliebten in eurem Herzen und einen Lobgesang auf euren Lippen.

aus „Der Prophet“ Khalil Gibran

zuletzt editiert am 20.10.2018