Für die meisten Menschen, die ich kenne, ist Zeit, bzw. der Mangel an Zeit ein zentrales Thema. Woran liegt das?
Die Möglichkeiten dessen, was man mit seiner Zeit machen kann, sind in unserer globalisierten Welt schier unendlich – ganz besonders für diejenigen, die in einer der wohlhabenden Nationen zuhause sind. Wer Anfang des letzten Jahrhunderts irgendwo am Rande einer deutschen Stadt ein bescheidenes Leben führte, dessen Tages-, Jahres- und Lebenslauf war meist fest geregelt. Man wusste, was von einem erwartet wurde, man wusste, was man unter der Woche bzw. am Sonntag zu tun hatte, wann die Schul- die Lehr- die Arbeitsphase des Lebens beginnen und enden würde und was danach vorgesehen war. Freizeit gab es für die meisten ohnehin nur in beschränktem Ausmaß und die Angebote, wie sie zu gestalten sei, hielten sich ebenfalls in bescheidenem Rahmen. Zeit war daher für die meisten kein Thema, sie war da.
Erst mit der Industrialisierung und zunehmenden Technisierung unseres Lebens hat sich dies geändert und zwar für beinahe alle Menschen, die sich aktiv im Arbeitsleben befinden und für alle, die noch in der Ausbildung sind – egal ob im Kindergarten oder in der Universität. Interessanterweise verschärft sich die Lage meist für diejenigen, die sich in irgendeiner Weise auf einen spirituellen Weg begeben. Egal wie er aussieht – auf einmal wird die Zeit noch knapper.
Das ist auch nicht anders zu erwarten – schließlich eröffnet sich ein völlig neues Feld, das beackert werden will und die meisten spirituellen Wege versprechen wertvolle Schätze, die wir auf diesem Feld finden werden.
Mit der Wahrheitssuche im engeren Sinne sieht es ein bisschen anders aus, denn sie ist ein absolutes „Luxusunternehmen“ – sie hat keinerlei praktischen Nährwert. Gut, wir finden vielleicht die Wahrheit, aber da es sich um die Wahrheit handelt, ist sie auch jetzt schon da; sie zu finden, bedeutet weder, dass wir auf einmal übersinnliche Kräfte entwickeln, noch reich und berühmt werden, noch der Liebe unseres Lebens begegnen. Mit einem Wort: Die Wahrheit ist zu nichts zu gebrauchen. Wer Zeit in ein solch zweifelhaftes Unternehmen steckt, muss verrückt sein – jedenfalls vom Standpunkt der (westlichen) Gesellschaft aus. Dennoch gibt es Menschen, die es tun.
Und nicht wenige von ihnen kommen in Bedrängnis, weil sie Zeit für ihre Suche haben möchten, die sie nicht zu haben scheinen. Die Frage, wer man eigentlich wirklich ist, kann man sich natürlich in allen Lebenslagen stellen, eigentlich benötigt sie keinen besonderen Rahmen. Da es sich jedoch um eine außergewöhnliche Frage handelt, braucht sie Nahrung, damit sie nicht wieder in Vergessenheit gerät oder auf der inneren Prioritätenliste immer weiter nach unten rückt.
Diese Nahrung besteht zum einen aus Handlungen, die den Menschen in die Lage versetzen, sich dieser Frage wirklich zu stellen. Dazu gehören Meditation, Gebet und andere Übungen, die den Mind (= Gedanken- und Gefühlskomplex) von überflüssigem Ballast befreien, der den Erkenntnisprozess stört oder sabotiert. Die Hauptnahrung besteht jedoch darin, sich diese Frage immer wieder zu stellen: Wer oder was bin ich wirklich? Wer sich allerdings hinsetzt und immer nur fragt „Wer bin ich?“ „Wer bin ich?“ wird höchstwahrscheinlich keine Antwort finden. Das Advaita Vedanta gibt eine bestimmte Methodik vor, wie man dieser Frage nachgeht, um tatsächlich auch irgendwann die Antwort zu finden.
Die Frage nach meiner eigentlichen Natur methodisch anzugehen, braucht Zeit. Deshalb waren die echten Wahrheitssucher Indiens immer Menschen, die sich aus allen verpflichtenden Zusammenhängen gelöst hatten. Sie hatten kein Eigentum und lebten von Almosen. So ist es meist heute noch. Allerdings ist dieses Modell eingebunden in eine Gesellschaft, die es für selbstverständlich hält, dass Wahrheitssucher einen wichtigen oder sogar den wichtigsten gesellschaftlichen Beitrag leisten und daher unbedingt unterstützenswert sind. Im Westen haben wir kein vergleichbares gesellschaftliches Muster, allein schon deshalb, weil Wahrheitssucher hier noch nie einen anerkannten Status hatten.
Im traditionellen Advaita Vedanta gibt es nur zwei Lebensmodelle, das weltliche und das spirituelle. Wir aber hängen in der Mitte, mal mehr auf der weltlichen, mal mehr auf der spirituellen Seite. Wir wollen beides, brauchen Zeit für beides und versuchen einen äußerst schwierigen Balanceakt. Wie bewältigt man ihn am besten? Dazu muss man das eigene Leben unter bestimmten Gesichtpunkten untersuchen, die eigenen Werte bestimmen und entsprechende Prioritäten setzen.
Fragen, die dabei helfen:
In welcher Lebensphase befinde ich mich?
Baue ich etwas auf – familiär, beruflich oder in anderer Hinsicht? Oder versuche ich das, was ich aufgebaut habe, zu erhalten? Oder bin ich schon dabei, „zurückzubauen“ – die Kinder stehen auf eigenen Füßen, die Eltern sind versorgt oder gestorben, ich bin in Rente usw.? –Wem oder was fühle ich mich verpflichtet?
Was sind meine Ziele und Werte?
- Das Lebensnotwendige, Sicherheit – Bis zu welchem Grad will ich mich abgesichert fühlen, wo fängt es an und vor allem, wo hört es auf?
- Lebensqualität – auf welche Dinge will ich nicht verzichten?
- Übergeordnetes – wofür stehe ich, welche ethischen Maßstäbe sind mir wichtig, wofür setze ich mich ein?
- Herauszufinden, wer ich wirklich bin
Und jetzt die Prioritätenliste. Sie wird mir helfen, meine Zeit in das zu investieren, was mir wirklich am Herzen liegt. Welche Kriterien lege ich an, um meine Prioritäten zu bestimmen?
In der Regel fühlen wir uns am wohlsten, wenn die Prioritäten unserer Werte zu den Prioritäten der Lebensphase passen, in der wir uns befinden. Wer etwas aufbaut, setzt andere Prioritäten als wer es erhält oder schon zurückbaut. Je eingebundener ich in bestimmte Lebenszusammenhänge bin, je mehr Menschen und Projekten ich mich verpflichtet fühle, desto eher werden die ersten drei Werte Priorität für mich haben. Je weniger eingebunden ich bin, je weniger Verpflichtungen ich habe, desto eher kann der letzte Wert zu meiner Priorität werden. Warum? Weil, wie gesagt, die Suche nach meiner eigentlichen Natur ein reines Luxusprojekt ist.
Die meisten Menschen, die sich aufmachen, um herauszufinden, wer sie wirklich sind, befinden sich nicht mehr in der Aufbauphase ihres Lebens, sondern in der mittleren oder letzten Phase – so wahrscheinlich auch die meisten Leser dieser Essays. Das ist natürlicherweise so, denn je näher man der letzten Lebensphase kommt, desto weniger Verpflichtungen und desto leichter wird es, sich dem letzten Ziel zu widmen. Doch jede Lebensphase sollte zu einem guten Abschluss gebracht werden. Wer seine Kinder unversorgt lässt, sich um die alternden Eltern nicht kümmert, seine Arbeit nachlässig macht, seine Schulden nicht bezahlt, den eigenen Körper und sein Eigentum nicht pflegt bzw. gesund/in Stand hält, der wird meist nicht in der Lage sein, die entsprechende Lebensphase gut abzuschließen.
Hier spielt ein anderes, typisch westliches Problem mit dem Thema Zeit eine wichtige Rolle: Ungeduld. Advaita Vedanta geht davon aus, dass es besser ist, das gut zu tun, was in der derzeitigen Lebensphase und Lebenslage offensichtlich getan werden muss, als sich etwas aufzuladen, was zu einer anderen Lebensphase und Lebenslage gehört. Beispiel: Wer kleine Kinder zu Hause hat, der verwendet einen Großteil seiner Energie darauf, für sie da zu sein. Seine primäre spirituelle Übung heißt Mutter/Vater/VersorgerIn zu sein. Spirituelle Fragen sind zweitrangig.
Im Advaita Vedanta nennt man so etwas „Karma-Yoga“, was jedoch nichts mit dem zu tun hat, was wir normalerweise unter Karma verstehen. Karma-Yoga heißt einfach das Yoga des Handelns und bedeutet, jegliche Handlungen, die ich ausführe als spirituelle Übung zu betrachten. Was das genau bedeutet, werde ich in einem späteren Essay beschreiben. Karma Yoga dient der Vorbereitung des Suchers auf den eigentlichen Erkenntnisweg und gilt als unverzichtbar. Es ist also keinesfalls Zeitverschwendung, selbst wenn es ein halbes Leben lang dauert.
Doch angenommen, ich befinde mich in der „richtigen“ Lebensphase und – lage und stelle fest, dass ich gerne mehr Zeit für meine Wahrheitssuche schaffen möchte als ich es offensichtlich tue. Zunächst einmal: bei der Erstellung meiner Prioritätenliste ist Ehrlichkeit unverzichtbar. Wir müssen davon ausgehen, dass das, worin wir am meisten Zeit investieren, auch die höchste Priorität in unserem Leben hat. Manchmal lohnt es sich, zwei Listen zu machen: eine für den prozentualen Anteil meiner realen Zeitinvestition und eine für das, was mir wünschenswert erscheint. Wenn beides auseinanderklafft, dann hat man es sich zumindest klar gemacht; oft verlagern sich bereits dadurch die Gewichtungen.
Wie sieht nun die Prioritätenliste eines Menschen aus, der sich auf die Suche nach seiner eigentlichen Natur begibt, erwachen will, erleuchtet werden will? Hauptkennzeichen: sie ist kurz. Es gibt nur wenige Punkte auf ihr und „Herauszufinden, wer ich wirklich bin“ steht ziemlich weit oben. Besser ist es, wenn es ganz oben steht. Und am besten, wenn es der einzige Punkt auf der „Liste“ ist. (siehe > Januar-Essay)
Zugegeben, das alles ist kein Patentrezept für mehr Zeit. Aber gerade die Wahrheitssucher, die sich darüber beklagen, dass Ihnen für das Spirituelle oft die Zeit fehlt, müssen zuallererst bestimmen, wo sie stehen und sich klar machen, welchen Stellenwert ihre Wahrheitssuche eigentlich haben kann und hat. Wenn andere Aufgaben vorrangig zu erledigen sind, dann ist es besser, sie als spirituelle Übung zu begreifen als auf Teufel komm raus Zeit abzuknapsen, um sich durch Meditation oder den Besuch spiritueller Retreats weiterzuentwickeln. Aber wenn der Wahrheitssuche nichts im Weg steht als gewohnheitsmäßige Zeitvergeudung, weil man die falschen Prioritäten setzt, dann ist es an der Zeit, dies zu ändern.