Die Sicht auf die Welt der meisten Sucher im Westen ist durchzogen von einer Mischung aus Psychologie und Esoterik, von so genannten alltagspsychologischen Konzepten, an denen er sein Verhalten ausrichtet. Welche das genau sind, variiert von Sucher zu Sucher, aber es gibt einige, worüber sich die meisten einig sind.

  1. Ich sollte gut für mich sorgen; das mache ich, indem ich so viele meiner Wünsche erfülle wie möglich.
  1. Wenn etwas in meinem Leben nicht so läuft, wie ich es gerne hätte, dann ist das ein Zeichen dafür, dass ich etwas nicht richtig mache. Ich sollte dann mein Verhalten ändern, denn wenn ich anders bin, werden sich auch die Umstände in die gewünschte Richtung ändern.
  1. Um meine Wünsche/Bedürfnisse zu erfüllen und meine Probleme zu lösen, sollte ich sie möglichst offen ansprechen (insbesondere in Beziehungen).

Sicherlich gibt es noch viel mehr Konzepte, die im Hirn des westlichen Suchers herumschwirren, aber ich werde hier erst einmal diese drei besprechen. Ihnen allen liegen drei Vorannahmen zugrunde.

  1. Für das, was in meinem Leben passiert, bin ich allein zuständig.
  2. Psychologische Grundmuster sind gewichtig; wenn sie nicht zu einem befriedigenden Leben führen, muss man sie verändern.
  3. Probleme sind entweder Ausdruck meiner Unfähigkeit, meine Wünsche zu erfüllen oder mich so zu ändern, dass sie sich von selbst erfüllen.

Viele werden bei diesen drei Punkten mit dem Kopf nicken. Alltagspsychologisch mögen sie etwas für sich haben, logisch sind sie allerdings nicht. Nehmen wir den ersten Punkt: „Für das, was in meinem Leben passiert, bin ich allein zuständig.“ Das klingt doch sehr reif und erwachsen. Es hat nur einen Fehler: Es ist völlig unlogisch. Logisch ist, dass ich für mein Handeln verantwortlich bin; aber was dann daraus wird, liegt keinesfalls in meinem Zuständigkeitsbereich. Niemand ist zuständig für das, was in seinem Leben passiert.

Wenn es regnet und ich einen Regenschirm mitnehme, dann bedeutet das keineswegs, dass ich trocken bleiben werde. Vielleicht gibt es einen Sturm, der den Regenschirm unbrauchbar macht – weil er ständig umklappt oder weil er mir wegfliegt oder weil der Regen quer unter den Schirm fegt. Vielleicht rutsche ich irgendwo aus, verstauche mir den Fuß und liege hilflos auf dem Weg während der Regen auf mich hernieder prasselt. Oder ich vergesse den Schirm in der Straßenbahn. Oder ich stehe gut geschützt unter meinem Schirm an der Ampel und ein Auto fährt mit Karacho durch die Pfütze vor mir.

Tatsache ist, der Mensch ist ausgesprochen hilflos. Es gibt dermaßen viel, worauf er keinen Einfluss hat, dass das wenige, worauf er Einfluss hat, kaum nennenswert erscheint. Satz A muss also eigentlich lauten: Für mein Handeln bin ich allein zuständig – Aus, Schluss, Ende. Für alles Weitere bin ich nicht zuständig. Damit ist auch der erste Teil von Punkt C aus der Diskussion.

Punkt B und der zweite Teil von Punkt C laufen auf die Aussage hinaus: „Ich muss meine Persönlichkeit verändern, um Erfolg zu haben.“ Nun, das mag sein. Oder auch nicht. Es lassen sich für beides Argumente finden; der Mind ist ungeheuer erfinderisch im Herstellen von Kausalbeziehungen. Es lohnt sich, öfter mal zu überprüfen, ob die angenommene Kausalität tatsächlich besteht.

„Ich habe diesen Menschen nur getroffen, weil ich dort hingegangen bin, wo ich ihn getroffen habe.“ Sicher? Keineswegs. „Wenn ich mich nicht getraut hätte, offen meine Meinung zu sagen, wäre alles unter den Teppich gekehrt worden.“ Sicher? Nein, auch das ist nicht sicher. „Hätte ich das Geld nicht angelegt, wäre ich jetzt ein armer Mann.“ Bestimmt? Wer weiß? „Hätte ich die ganze Persönlichkeitsarbeit nicht gemacht, wäre ich jetzt ein psychologisches Wrack und mein Leben eine Katastrophe.“ Keine dieser Aussagen muss zutreffen. Denn auch hier kommt wieder die Unwägbarkeit des Lebens ins Spiel. Eine Kausalbeziehung zwischen meiner Persönlichkeit und den Ereignissen meines Lebens herzustellen, ist allein aufgrund der erforderlichen Datenmenge unmöglich. Auch der zweite Punkt und der zweite Teil von Punkt 3 sind also logisch nicht haltbar.

Welche Implikationen hat all dies für die Suche nach der Wahrheit?

Beide Aussagen,

  1. Im Leben geht es um die Erfüllung meiner Wünsche.
  2. Ich kann erreichen, was ich will, wenn ich mich ändere.

kommen der Wahrheitssuche in die Quere.

  1. Solange es dem Wahrheitssucher um die Erfüllung seiner Wünsche geht, so lange steht ihm nicht die für die Wahrheitssuche notwendige Energie zur Verfügung. Wie im Januar-Essay von 2011 ausgeführt, gibt es nur einen einzigen Wunsch, welcher der Wahrheitssuche dient: den, die Wahrheit zu finden. Alle anderen Wünsche mögen gut und schön sein, man darf sie auch gerne haben, wer jedoch meint, dass es im Leben um die Erfüllung dieser Wünsche geht, dem ist der Wunsch nach der Wahrheit nicht wichtig genug. Wer sich wundert, warum er die Wahrheit noch nicht gefunden hat, obwohl er sie doch sucht, der sollte sich fragen, welche anderen Prioritäten dafür sorgen, dass der Wunsch nach der Wahrheit immer wieder in den Hintergrund gerät.

  Das letzte Essay hat gezeigt, dass uns zumeist die Wünsche nach Sicherheit und Wohlbefinden dominieren. Es hat aber auch gezeigt, dass das eigentliche Hindernis nicht die Wünsche an sich sind, sondern die Identifikation mit ihnen. Wünsche an sich sind natürlich, erst wenn wir meinen, sie müssten unbedingt erfüllt werden, werden sie zum Problem für den Wahrheitssucher. Daher ist die Vorstellung, dass einen psychisch gesunden Menschen die Fähigkeit auszeichnet, dass er um die Erfüllung seiner Wünsche bemüht ist, recht hinderlich – auch wenn man dies als die Fähigkeit bezeichnet „gut für sich zu sorgen“.

  1. Verkompliziert wird dies durch die Vorstellung, es läge wahrscheinlich ein psychologischer Defekt vor, falls es einem nicht gelingt, den eigenen Wünschen nachzukommen – verbunden mit der Idee, dass man diesen beheben könne (und sollte). Beides verwickelt den Sucher in das endlose Bestreben, der ersten Vorannahme (es gehe um die Erfüllung seiner Wünsche) nachzukommen, indem er an seiner Persönlichkeit herumdoktert. Die beinahe unbegrenzte Fähigkeit des Minds, Kausalbeziehungen herzustellen und das ebenfalls beinahe unbegrenzte Angebot an Persönlichkeitsverbesserungsmethoden sorgen dafür, dass die echte spirituelle Suche immer wieder aufgeschoben wird.
  1. Ein dritter hinderlicher Punkt verbirgt sich in der Aussage „Um meine Wünsche/Bedürfnisse zu erfüllen und meine Probleme zu lösen, sollte ich sie möglichst offen ansprechen.“ Die Vorstellung, ich sollte meine Wünsche möglichst offen kommunizieren, basiert ja auf der Idee, dass es im Leben darum gehe, diese Wünsche zu erfüllen. So entsteht ganz schnell die Annahme, dass nur weil ich ein bestimmtes Bedürfnis habe, ich auch automatisch ein Recht darauf habe, dass mein Gesprächspartner ihm entspricht. Dieser Trugschluss führt zu allen möglichen Verwicklungen, welche die Energie des Wahrheitssuchers ebenfalls über Gebühr in Anspruch nehmen.

Die optimale Einstellung des Wahrheitssuchers lautet:

Die Wahrheit zu finden, also: zu erkennen, wer ich wirklich bin, hat eine hohe Priorität in meinem Leben. Um sie erkennen zu können, wünsche ich mir eine gesunde finanzielle Basis, eine angenehme Lebenssituation und ein gutes Gewissen. (siehe letztes Essay)

Meine Ziele und Wünsche bewegen mich zum Handeln. Ich tue, was ich kann, um das zu erreichen, was ich will. Doch was bei meinem Handeln wirklich herauskommt, überlasse ich den Gesetzen des Universums, die weder ich noch irgendein anderer Mensch alle kennen kann.

Eine solche Haltung entspannt, ohne dass irgendjemand sich verrenken muss, um seine Wünsche „auszulöschen“. Wünsche zu haben ist natürlich und motiviert zum Handeln. Wünsche und ihre Erfüllung sind allerdings nicht Sinn und Zweck des Lebens – jedenfalls nicht für den, der sich selbst erkennen will. Das Leben zur Erfüllung seiner Wünsche zwingen zu wollen, indem man sich bemüht, die eigene psychologische Struktur zu verändern, ist reine Energievergeudung.

Doch die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit ist nicht notwendigerweise „schlecht“. Im Westen gehört sie meistens zur Vorbereitung des Suchers; Persönlichkeitsmuster, die die Wahrheitssuche behindern oder unmöglich machen, müssen auf jeden Fall zuerst bearbeitet werden. Das Problem entsteht dann, wenn die psychologische Arbeit zum Selbstläufer wird (weil man sich so daran gewöhnt hat oder weil man sie für spirituelle Arbeit hält). Oder wenn sie eingesetzt wird, weil man sich fit machen will, um mehr Sicherheit und Wohlbefinden zu kreieren. Selbst dies ist okay, wenn man wirklich nur an Sicherheit und Wohlbefinden interessiert ist. Aber wer eigentlich die Wahrheit sucht, wird sie so nicht finden.

Denn das Gesuchte, also das wahre Selbst, ist kein Teil der Persönlichkeitsstruktur. Es ist überhaupt kein Teil, sondern das, was allen Teilen zugrunde liegt. Man kann es entdecken, aber nicht durch psychologische Arbeit; nötig ist vielmehr, deren Begrenztheit anzuerkennen und sich über sie hinauszubewegen.