In den spirituellen Essays auf dieser Seite geht es um die Wahrheitssuche. Diese Verknüpfung ist nicht selbstverständlich, denn die meisten spirituell orientierten Menschen verstehen unter Spiritualität etwas ganz anderes als die Suche nach der Wahrheit. Tatsächlich wissen sie mit dem Begriff Wahrheitssuche oft genauso wenig anzufangen wie die Unspirituellen. Spirituelle Orientierung schließt die Wahrheitssuche also nicht automatisch mit ein.

Spiritualität ist ein weiter Begriff, und jeder versteht darunter etwas anderes1. Damit klar ist, wie ich die beiden Begriffe verwende, definiere ich hier Spiritualität als das Interesse oder den Glauben oder die Hingabe an ein übergeordnetes (oft göttliches) Prinzip und einen übergeordneten Sinn – meist verbunden mit der Anerkennung übersinnlicher Phänomene und dem Umgang damit, um ein besseres oder sinnvolleres Leben zu haben.

Die Wahrheitssuche dagegen definiere ich als die Suche nach der Erkenntnis dessen, was allem Sein zugrunde liegt. Die Wahrheitssuche im Vedanta ist die Suche nach der Erkenntnis des wahren Selbst – im Gegensatz zu dem, was man üblicherweise für das eigene Ich hält. Dieses persönliche Ich ist begrenzt durch Körper und Geist, während das wahre Selbst Reines Sein-Reines Bewusstsein-Grenzenlosigkeit ist. Das wahre Selbst ist also alles, was ist: advaita, nicht-zweierlei.

Den Unterschied zu verstehen zwischen der bisherigen Identität und dem bereits vorhandenen, aber noch nicht erkannten wahren Selbst, ist das, was auf dem Erkenntnisweg des Advaita Vedanta geschieht. Wenn das Verständnis komplett ist, fällt die auf einem Irrtum basierende Identität weg und wird durch das vollumfängliche Wissen um die eigene Wahrheit ersetzt.

Der Weg der Erkenntnis

In diesen Essays ist häufig von der „Erkenntnisarbeit“ die Rede, aber wer sie selbst nicht kennt, kann sich oft wenig darunter vorstellen. Tatsächlich ist es schwierig zu erklären, wie Erkenntnisarbeit funktioniert. Zunächst einmal lässt das Wort an eine recht trockene Angelegenheit denken, die den meisten wenig verlockend erscheint.

Menschen, die in der Forschung tätig sind, können sich schon eher denken, was an Erkenntnisarbeit so spannend ist. Wir haben es im Vedanta lediglich mit einem andersartigen Objekt zu tun als in anderen Forschungszweigen. Sie alle haben verschiedene Objekte, die sie untersuchen. Doch das Objekt im Advaita Vedanta ist überhaupt kein Objekt, sondern das Subjekt. Nun könnte man sagen, dass es auch in Psychologie um das Subjekt geht. Die Psyche ist jedoch für das Vedanta ebenfalls ein Objekt.

Ein Objekt hat zwei Kennzeichen:

1. Es ist wahrnehmbar.

2. Es ist veränderlich.

Das Subjekt dagegen ist nicht wahrnehmbar, es ist vielmehr das, was wahrnimmt. Und es war, ist und wird immer dasselbe sein, unterliegt also keinerlei Veränderungen.2

Wer versucht hat, sich selbst unter psychologischen Gesichtspunkten zu erkennen, erinnert sich vielleicht noch, wie faszinierend er/sie all die neuen Erkenntnisse fand, die da zutage traten: über die eigene Vergangenheit, über die Hintergründe für das eigene Verhalten, über die Vielschichtigkeit der eigenen Wahrnehmung usw. Eine neue innere Welt tat sich vor einem auf, die man unbedingt erkunden wollte.

Die Erkenntnisarbeit hin zum wahren Selbst ist hinsichtlich der Inspiriertheit, die man dabei empfindet, ähnlich. Doch dadurch, dass sie einen anderen Fokus hat, kreist sie nicht um das persönliche Ich und dessen Eigenarten. Man sucht auch keine Lösungen für Persönlichkeitsprobleme.

Die Erkenntnisarbeit des Advaita Vedanta kreist also nicht um das persönliche Ich. Sie kreist aber auch nicht um das wahre Selbst, da es ja kein Objekt ist. Ihr Objekt ist das Ausräumen all der Missverständnisse, die dazu führen, dass man das eigene Ich für das wahre Selbst hält. Und je mehr man das eigene Ich von diesen Missverständnissen befreit, desto deutlicher wird, was das wahre Selbst ist.

Schlange oder Seil?

Viele kennen die bekannte Analogie von dem Seil, das der Betrachter im Zwielicht der Dämmerung für eine gefährliche Schlange hält, mit allen dazugehörigen körperlichen und emotionalen Reaktionen, die diese Verwechslung mit sich bringt. Das Seil steht für das wahre Selbst. Die Schlange steht für das persönliche Ich, bestehend aus Körper, Gefühl und Geist und allem, was dieses Körper-Geist-System wahrnimmt und für real hält.

Wenn man nun die angebliche Schlange genauer beleuchtet, zum Beispiel mit einer guten Taschenlampe, dann steht das für die Erkenntnisarbeit, die das persönliche Ich genauer beleuchtet. Man stellt sich die Frage: Ist das da vor mir wirklich eine Schlange? Die bedrohliche Schlange entpuppt sich dann im besseren Licht als ungefährliches Seil.

Genau so fragt man in der Erkenntnisarbeit: Was ist dieses Ich eigentlich? Ist es vielleicht in Wirklichkeit etwas ganz anderes als ich dachte? Mit schärferem Blick entpuppt sich das persönliche Ich, mit all seinen Begrenzungen und Problemen, dann als grenzenloses wahres Selbst.3

Dabei ist es völlig unnötig, die Eigenarten der Schlange genauer zu untersuchen: Ist es eine Giftschlange oder gar eine Würgeschlange, oder doch eine Blindschleiche? Sieht sie angriffslustig aus oder hat sie einen vollen Bauch und ist harmlos? Unwichtig.

Es gibt keine Schlange. Es gibt nur das Seil.

Es gibt kein eingeschränktes problembehaftetes Ich. Es gibt nur das wahre Selbst, grenzenlos, ewig. Und da es das einzige ist, was es gibt, hat es kein einziges Problem – denn alle Probleme beruhen auf der Vorstellung von Getrenntheit.

Das ist Endpunkt der Erkenntnisarbeit.

Ausblick

Da die Erkenntnisarbeit für viele so unvorstellbar ist, ist dies nur das erste Essay von vielen, in denen es um die Erkenntnisarbeit geht. Folgende Fragen werden dabei eine Rolle spielen.

1. Was ist Erkenntnis?

2. Um welche Erkenntnis geht es im Vedanta?

3. Was ist Erkenntnis nicht?

4. Wie erlangt man die Erkenntnis, was ist Erkenntnisarbeit?

4.1 Was sind die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Erkenntnisarbeit?

4.2 Wie erkenne ich Fortschritte in der Erkenntnisarbeit?

4.3 Woher weiß ich, ob die Erkenntnisarbeit erfolgreich war?

4.4 Was ist ihr Ergebnis?

5. Wer oder was erlangt die Erkenntnis?

6. Muss man die Erkenntnis pflegen?

7. Kann die Erkenntnis wieder verloren gehen?

Vielleicht kommen noch mehr Themen dazu, ich lasse mich gerne anregen, andere Gesichtspunkte mit dazu zu nehmen.

Fußnoten:

  1. Siehe das Essay 2-2011, Spiritualität
  2. Weil das Ziel der Erkenntnisarbeit die Erkenntnis des Subjekts ist, dieses jedoch nicht wahrgenommen werden kann, kommt natürlich die Frage auf: Wie kann es erkannt werden? Ist das ganze Unternehmen nicht von Vorneherein zum Scheitern verurteilt? Dies ist eine berechtigte Frage, die anfangs noch vertagt werden muss, weil sie vieles voraussetzt, was man noch nicht weiß. Es gibt jedoch eine Antwort, und die Frage wird im Teaching zu gegebener Zeit ausführlich besprochen.
  3. Analogien haben ihre Grenzen. Das wahre Selbst ist kein Objekt wie das Seil. Ansonsten ist die Analogie jedoch gut zu gebrauchen.