Für die meisten spirituellen Sucher ist Bewusstsein etwas Positives; sie wollen ihr Bewusstsein erweitern, erhöhen, vertiefen oder einfach bewusster werden. Aber wie mit so vielen anderen Begriffen – Seele, Spiritualität, Freiheit, Liebe, Wahrheit, Seligkeit, Energie – versteht auch hier jeder etwas anderes darunter. Im Advaita Vedanta wird jeder verwendete Begriff eindeutig definiert.
In unserem normalen Sprachgebrauch definiert man Bewusstsein, abhängig vom Kontext, höchst unterschiedlich. Im Allgemeinen liegt unserer westlichen Auffassung jedoch eine materielle Sicht zugrunde. Wir meinen, dass Bewusstsein abhängig vom Gehirn ist, dass man es zum Beispiel durch bestimmte Medikamente ausschalten kann oder es (zeitweilig) durch Drogen erhöhen und erweitern kann. Auch meinen wir, unser Bewusstsein lenken, es auf etwas ausrichten oder von etwas abziehen zu können.
Wir halten uns für bewusst, wenn wir uns daran erinnern, ob wir das Bügeleisen ausgeschaltet haben und für unbewusst, wenn wir es vergessen haben. Auch innere Vorgänge sollten uns stets bewusst sein – so halten wir uns für bewusster, wenn wir bemerken, dass in uns eine Emotion aufsteigt, als wenn wir dies erst im Nachhinein bemerken oder gar nicht.
Indem wir uns und die Welt um uns herum beobachten und immer genau wissen, was los ist, versuchen wir, unser Bewusstsein zu erhöhen oder zu erweitern. Wir meinen, dass Achtsamkeit eine Form höheren Bewusstseins ist und wollen unser Bewusstsein steigern, indem wir meditieren oder uns spirituelle Inspirationen holen. All dies bezeichnet man oft als „Bewusstseinsarbeit“. Meditation, Psychotherapie, Energiearbeit oder Methoden der Persönlichkeitsentwicklung werden herangezogen, um „Bewusstseinarbeit“ zu leisten. Doch was Bewusstsein eigentlich ist, wird selten erklärt.
Bewusstsein im Sinne von Advaita Vedanta
kann man weder erweitern noch verengen,
weder verlieren noch erhöhen,
weder mindern noch steigern.
Es lässt sich nirgendwohin richten
noch von etwas abziehen,
und wir können weder viel davon haben,
noch wenig, noch gar nichts.
Was wir verengen, erweitern, verlieren, mindern, erhöhen, vertiefen, ausrichten oder abziehen können, sind bestimmte Funktionen unseres Denkapparats, des Minds. Vor allem handelt es sich dabei um die bereits im letzten Essay erwähnte Buddhi. Eine gut funktionierende Buddhi ermöglicht uns zu lernen; sie ist deshalb auf dem Vedanta-Weg der Erkenntnis ausgesprochen wichtig. Am besten schärft man die Buddhi, indem man ihre Unterscheidungsfähigkeit schult. Zum Beispiel verwendet man eindeutig definierte Begriffe oder fragt so lange nach, bis man etwas ganz genau verstanden hat.
Die als „Bewusstseinsarbeit“ bezeichneten Prozesse spielen dabei keine Rolle. Das macht sie nicht wertlos, denn alles, was die drei anderen Funktionen unseres Denkapparats zur Ruhe bringt, trägt dazu bei, uns für die Erkenntnisarbeit des Advaita Vedanta fit zu machen. Der Weg lässt sich dann leichter gehen, jedoch was der Vorbereitung dient, ist noch nicht der Weg selbst.
Wie in vorherigen Essays erwähnt, ist der Vedanta-Weg kein Weg von Hier nach Da – ich muss kein Ziel in Zeit und Raum erreichen. Vielmehr will ich etwas erkennen, was immer schon war und immer sein wird: meine wahre Natur, das was ich in Wahrheit bin. Um dies zu entdecken, brauche ich eine funktionsfähige Buddhi und die Bereitschaft, sie auf meiner Wahrheitssuche einzusetzen. Bewusstsein habe ich schon – nämlich das, was Advaita Vedanta unter Bewusstsein versteht.
Advaita Vedanta zufolge ist
Bewusstsein der Urgrund unseres Seins.
Es ist in allem und durchdringt alles.
Ohne Bewusstsein gäbe es nichts.
Alles, was es gibt, ist seiner eigentlichen Natur nach Bewusstsein.
Und: Wenn es nichts gäbe,
gäbe es Bewusstsein weiterhin.
Da ich zu allem, was es gibt, dazugehöre, bin auch ich meiner eigentlichen Natur nach Bewusstsein – was die Frage nach meiner wahren Natur beantwortet. Aber wie ich selber weiß, kann ich sie deshalb noch lange nicht abhaken. Denn nur, weil ich es in den Vedanta-Schriften lese oder von einem spirituellen Lehrer höre, habe ich es noch nicht als wahr erkannt.
Falls ich bisher davon ausgegangen bin, dass ich mich irgendwohin entwickeln und über bestimmte Eigenschaften und Erfahrungen verfügen muss, um die Wahrheit zu finden, und falls ich dadurch die Wahrheit nicht gefunden habe, lohnt es sich, einen anderen Ansatz auszuprobieren: Ich gehe erst einmal davon aus, dass ich meiner eigentlichen Natur nach Bewusstsein bin – zwar habe ich es noch nicht erkannt, kann es aber erkennen, weil ich es ja bin.
Um zu erkennen, was ich bin, brauche ich allerdings keine „Bewusstseinsarbeit“ zu machen. Um zu erkennen, was ich bin, brauche ich folgendes – auch und gerade im spirituellen Bereich:
- die Bereitschaft meinen nüchternen Verstand einzusetzen,
- die Bereitschaft, Dinge zu Ende zu denken,
- die Bereitschaft, das, was ich glaube, zu hinterfragen und
- die Bereitschaft nachzufragen, wenn ich etwas nicht verstehe – so lange, bis ich es verstehe.
Energie und Bewusstsein
Energie und Bewusstsein werden oft in einen Topf geworfen, weil man weder das eine noch das andere mit den fünf Sinnen erfahren kann. Doch im Advaita Vedanta hat beides nichts miteinander zu tun. Energie ist ein feinstoffliches Phänomen, Energie ist Materie in sehr feiner Form. Bewusstsein dagegen ist nicht materiell, es existiert vollkommen unabhängig von jeglicher Materie, egal ob diese grob- oder feinstofflich ist.
Energie hat Eigenschaften, sie hat eine Färbung, sie kann dichter oder feiner sein, stärker oder schwächer, hoch oder niedrig, angenehm oder unangenehm usw. Bewusstsein dagegen ist vollkommen neutral, es ist reines Sein, ohne jede Eigenschaft. Es fühlt sich nicht irgendwie an, weder gut noch schlecht, es IST.
Wer also aus ist auf energetische Hochgefühle, auf hohe und höchste Schwingungen, der kann seinen Energiepegel vielleicht durch „Bewusstseinsarbeit“ erhöhen, zumindest zeitweilig. Seiner wahren Natur wird er dadurch jedoch nicht auf die Spur kommen.
Wer seiner wahren Natur auf der Spur ist, der muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass ihm durch die Erkenntnis dessen, was er ist, irgendetwas hinzugefügt wird.
In diesen Essays geht es immer wieder um eine Demontage bisheriger Auffassungen. Das kann erleichtern, falls man ohnehin schon begonnen hat, sie zu hinterfragen. Es kann mitunter auch frustrierend sein, weil man Identifikationen hinter sich lässt, ohne dass etwas Neues an ihre Stelle tritt. Genau dies ist der Sinn der Sache.
Denn jede Identifikation steht der Erkenntnis dessen, was man ist, im Weg, weil man sich notwendigerweise mit etwas anderem identifiziert, als man eigentlich ist.
Wenn ich erkannt habe, wer ich bin,
identifiziere ich mich mit nichts mehr.
Ich will dem, was ich bin, nichts hinzufügen,
weil es absurd ist,
eine Vollständigkeit
noch vollständiger machen zu wollen.