„Spiritualität“ ist ein weites Feld. Jeder versteht darunter etwas anderes: Mystische Erfahrungen und die Suche danach, Transzendenz, Metaphysik, Esoterik, inneres Wachstum, Weltanschauliches, Humanismus, Selbstverwirklichung, therapeutische Arbeit, religiöse Praktiken, Moral.

Im Advaita Vedanta gibt es eine Definition für Spiritualität, die sehr spezifisch ist und dieses weite Feld eingrenzt. Denn im Advaita Vedanta gilt nur der als spirituell, dem es um die Erkenntnis der Wahrheit geht, und der Schlüssel zur Wahrheit liegt in der Erkenntnis meiner eigentlichen Natur, also dessen, was ich abzüglich Körper und Geist bin. Alles andere kann zum Spirituellen hinführen, aber es wird mir die Erkenntnis, die ich mir ersehne, nicht verschaffen. (siehe November-Essay).

Die spirituelle Suche

Die spirituelle Suche ist im Wesentlichen eine Suche nach dem Grenzenlosen. Alle Menschen sind Sucher, alle Menschen wollen über das hinauswachsen, was sie sind. Die einen wollen ihren Besitz vermehren, weil sie annehmen, dass sich dadurch ihre Grenzen erweitern. Andere wollen ihre Lebensqualität steigern, weil es ihnen über die unvermeidlichen Grenzen der irdischen Existenz hinweghilft. Wieder andere haben erkannt, dass solche äußeren Veränderungen nicht wirklich greifen, wenn man nicht über eine Psyche verfügt, die auch in der Lage ist, Besitz und Lebensqualität zu genießen. Sie beginnen daher, an ihrer Psychologie zu arbeiten und so über sich hinauszuwachsen. Wieder andere trachten nach der Erweiterung ihrer Grenzen, indem sie feinstoffliche Phänomene erkunden und mit ihnen experimentieren.

Alle diese Versuche werden auf die eine oder andere Weise dafür sorgen, dass sich die eigenen Grenzen erweitern – allerdings nicht ins Grenzenlose. Das ist recht eindeutig, wenn man Besitzvermehrung betrachtet oder die Verbesserung der Lebensqualität. Weniger eindeutig ist es mit der Arbeit an der Psychologie und am wenigstens eindeutig mit dem Erkunden feinstofflicher Welten. Die Vorstellung, dass ich eines Tages alle meine psychologischen Defizite überwunden haben werde, ist hartnäckig. Doch wird jeder, der sich hiermit auskennt bestätigen, dass stets noch irgendetwas zu tun bleibt. So hat auch ein echter Therapie-Junkie die Chance, irgendwann zu erkennen, dass das Grenzenlose mit therapeutischen Methoden nicht zu erreichen ist.

Die größte Hoffnung auf Grenzenlosigkeit weckt das Erforschen feinstofflicher Phänomene. Hier eröffnen sich Welten, die unendlich zu sein scheinen und die uns Möglichkeiten zu eröffnen scheinen, die alle menschlichen Grenzen sprengen. Weshalb sie unsere Möglichkeiten dennoch nicht ins Grenzenlose hinein steigern, liegt daran, dass wir trotzdem immer wieder an die Grenzen der grobstofflichen Welt stoßen. Jeder Höhenflug hat ein Ende, keine esoterische Methode löst alle meine Probleme und selbst Engel, Heilige und Götter retten mich nicht vor sämtlichen Unannehmlichkeiten des Lebens.

Aber die Hoffnung stirbt zuletzt und die meisten Menschen halten unnachgiebig an ihrer Suche fest, egal auf welcher Ebene sie sie verfolgen. Nur einige wenige sind bereit, sich der ernüchternden Tatsache zu stellen, dass sie diese Art der Suche nicht ans Ziel gebracht hat. Ja, sie konnten ihre Grenzen immer wieder erweitern, aber das Grenzenlose, das sie sich eigentlich ersehnen, hat sich ihnen noch jedes Mal entzogen.

Warum aber sucht der Mensch nach Grenzenlosigkeit? Advaita Vedanta sagt: Weil seine eigentliche Natur Grenzenlosigkeit ist – deshalb kann und wird sich der Mensch niemals mit dem Begrenzten zufrieden geben.

Wenn er nach entgrenzenden Zuständen strebt, wird er wahrscheinlich entgrenzende Zustände erfahren, egal ob durch viel Geld, viel Vergnügen, psychologische Durchbrüche oder durch erhebende esoterische Erfahrungen. Aber egal wie viele er davon ansammelt, sie werden sich nie zu der Grenzenlosigkeit verdichten, die seine eigentliche Natur ist. Sie werden Zustände bleiben, die kommen und gehen. Das jedoch, was der Mensch eigentlich ist, kommt nicht, geht nicht – er war es schon immer und wird es immer sein, weil er es ist.

Alles, was der Mensch erfahren kann, bleibt begrenzt in Raum und Zeit. Wenn er also auf seiner Suche Erfahrungen macht – egal ob durch äußeres oder inneres Erleben, egal ob durch Meditation oder andere spirituelle Methoden – eins ist sicher: Es handelt sich nicht um seine wahre Natur. Denn seine wahre Natur ist jenseits von Zeit und Raum, sie ist grenzenlos und ewig. Man kann sie nicht herbeiführen, weil sie bereits da ist und immer schon da war. Erfahrungen und Zustände können die wahre Natur widerspiegeln, aber ein Spiegelbild verwandelt sich niemals in das, was es spiegelt. Der Blick muss sich von der Spiegelung abwenden und hinwenden zu dem, was gespiegelt wird.

Der Weg des Advaita Vedanta ist ein Weg des Aussortierens: Ich muss all das, was mich nicht weiterführt, ad acta legen. Was mich beispielsweise nicht weiterführt, sind die oben genannten Methoden.

Und was führt mich weiter?

Wenn ich davon ausgehe, dass ich meiner wahren Natur nach grenzenlos und ewig bin, obwohl ich es noch nicht wirklich erkannt habe, dann ist es nützlich, genauer zu untersuchen, was ich denn normalerweise für meine wahre Natur halte: Wofür halte ich  mich? Was denke ich, dass ich es bin?

Die westliche Welt ist eine Welt, die ganz besonders an der Materie orientiert ist. Äußere Attribute bestimmen unseren Status in der Gesellschaft. Ich sollte fit, gesund und attraktiv sein, diese Attribute habe ich besonders dann, wenn ich jung und schön bin. Das bedeutet, dass ich anfange, mich über meine körperliche Existenz zu definieren. Aber glaube ich, dass ich mein Körper bin? Nicht, wenn ich davon ausgehe, dass ich eigentlich grenzenlos und ewig bin, denn beides ist der Körper nicht. Im Advaita Vedanta wird der Körper als reine grobstoffliche Materie betrachtet, die nur durch die Anwesenheit von etwas anderem lebendig erscheint. Wenn man es so betrachtet, werden die meisten doch eher davon ausgehen, dass sie dieses andere sind und nicht die Materie.

Was aber ist dieses andere? Viele meinen, es sei die Seele, aber jeder versteht darunter etwas anderes, und die wenigsten haben eine klare Vorstellung davon. Als Kind dachte ich, dass meine Seele so etwas wie ein kleines weißes Gespenst ist, das irgendwo in meinem Körper wohnt, und das den Körper nach meinem Tod verlassen wird, um (hoffentlich) in den Himmel zu kommen. Die meisten Menschen meinen, die Seele sei der individuelle Anteil im Menschen, der eine Brücke schlagen kann zum großen Ganzen oder zu Gott.

Das kleine Gespenst meiner kindlichen Vorstellungswelt entspricht im Advaita Vedanta dem feinstofflichen Körper. Auch der individuelle Anteil im Menschen, der eine Brücke schlagen kann zum großen Ganzen, steht für einen Teil des feinstofflichen Körpers, nämlich eine der vier Funktionen des Denkapparats (Mind). (Essay: Wer regiert den Mind?)

Die Buddhi

Was viele unter Seele verstehen, ist also im Advaita Vedanta nichts anderes als eine Funktion des Denkapparats. Diese Funktion kann uns in die Lage versetzen, über unsere stoffliche und feinstoffliche Existenz hinauszublicken. Dies ist die Funktion, auf die wir auf dem Vedanta-Weg zurückgreifen, die geschärft und hoch geschätzt wird. Auch das Lesen und Reflektieren von Texten wie diesem fordern und fördern diese Funktion. Sie heißt Buddhi.

Die Buddhi ist es, die sich die Frage stellt „Wer bin ich?“ Hinsichtlich des feinstofflichen Körpers fragt sie: Bin ich meine Energie, bin ich mein Handeln, bin ich meine Sinneswahrnehmung, bin ich mein Denken, mein Fühlen, meine Intuition, meine Projektionen, meine Erinnerungen, meine Identifizierungen? Gemessen am Maßstab „Grenzenlosigkeit und Ewigkeit“ bin ich auch das nicht, denn auch diese Phänomene sind begrenzt in Zeit und Raum.

Die nächste Frage lautet: Bin ich diese eine Funktion, die mich in die Lage versetzt, über die stoffliche und feinstoffliche Existenz hinauszublicken und meine wahre Natur zu erkennen, die grenzenlos und ewig ist? Logischerweise nicht – denn die Funktion ist nur eine Funktion, die mir manchmal, mehr oder weniger zur Verfügung steht, also begrenzt ist in Zeit und Raum. Ich bin also auch nicht die Buddhi oder wenn man so will, die Seele. Die Seele kann vielleicht eine Brücke schlagen zum Eigentlichen, das aber bedeutet, dass sie nicht das Eigentliche ist.

Da muss noch etwas anderes sein – weder stofflich noch feinstofflich. Wie aber finde ich es?

Bisher haben wir betrachtet, was man betrachten kann: Objekte. Ich kann die Welt um mich herum wahrnehmen, ich kann meinen Körper wahrnehmen, ich kann meine Gedanken und Gefühle wahrnehmen solche Erscheinungen kann ich zu Objekten machen. Aber WAS nimmt sie wahr? Wenn es lauter Objekte gibt, muss irgendwo auch ein Subjekt sein. Advaita Vedanta ist die Suche nach diesem ultimativen Subjekt, einem Subjekt, das sich nicht, bei näherer Betrachtung, als Objekt herausstellt.

Der Zeuge

Im Vedanta hat dieses ultimative Subjekt viele Namen, der fassbarste ist Saakshi, der Zeuge. Er ist für unseren Verstand sogar ein bisschen zu fassbar, denn der Zeuge ist in seiner Essenz nichts anderes als das, was wir in Wahrheit sind. Wir aber neigen dazu, ihn zu einem Anteil unserer Ich-Identität zu degradieren – und das bedeutet, zu einer bloßen Instanz in unserem Gedankenapparat bzw. einer Funktion unseres feinstofflichen Körpers („der Teil in mir, der alles wahrnimmt.“) Damit wird das Subjekt wieder zum Objekt und ist nicht mehr das, was wir ursprünglich entdeckt haben.

Wenn wir das jedoch nicht tun, dann werden wir merken, dass wir den Zeugen nicht zu fassen kriegen, wir können ihn nicht greifen, nicht halten. Warum ist das so? Es muss so sein. Wenn wir ihn nicht zum Objekt machen, bleibt uns eigentlich nichts anderes als zu erkennen, dass er das Subjekt ist und das heißt nichts anderes als das wir der Zeuge sind.

In dieser Erkenntnis verbirgt sich der Schlüssel, um ans Ziel der spirituellen Suche zu gelangen – nicht in mystischen Erfahrungen, nicht in esoterischen Praktiken, nicht in transzendenten Zuständen und nicht in der Transformation der eigenen Persönlichkeit.