Vom Mind und seiner Wertschätzung auf dem Weg der Erkenntnis habe ich in den Essays immer wieder gesprochen. Schließlich ist es diese Wertschätzung und die zentrale Rolle, die dem Mind zukommt, die das Advaita Vedanta von allen anderen mir bekannten spirituellen Wegen unterscheidet.

Da ich mittlerweile elf Jahre Erfahrung mit der Methodologie des Vedanta sammeln konnte, ist es mir möglich, ohne Wenn und Aber zu versichern, dass die Methodologie funktioniert: Sie führt die Menschen, die sich darauf einlassen, zur Erkenntnis der höchsten Wahrheit.

Nun gibt es eine Menge Leute, die seit Jahrzehnten einen spirituellen Weg nach dem anderen, einen spirituellen Meister nach dem anderen, eine spirituelle Praxis nach der anderen ausprobiert haben. Und doch sind sie nicht an das Ziel gelangt, was sie sich ersehnen: endlich bei sich anzukommen. Und dort zu bleiben.

Die einen haben resigniert und sich mit dem zufrieden gegeben, was möglich wurde: relativer Frieden, relatives Glück. Die anderen können nicht aufgeben, es lässt sie nicht los, sie bleiben Sucher. Dennoch ist das Advaita Vedanta für die meisten außer Diskussion. Es passt einfach zu wenig in das Bild, das der normale Sucher von einem erfolgversprechenden spirituellen Ansatz hat.

Und das liegt fast immer an dem oben angesprochenen Punkt: der zentralen Rolle, die dem Mind im Advaita Vedanta zukommt. Weil dies diesen Weg für viele so unattraktiv macht, ist es ein weitgehend unbekannter Weg, zumindest im Westen.

 

Was ist der Mind?

Ich frage zunächst einmal, was ist der Mind nicht?

Der Mind ist nicht das Gehirn. Das Gehirn ist die Hardware, der Mind ist die Software. Das heißt, der Mind ist unabhängig vom Gehirn, braucht dies aber, um sich auszudrücken.

Der Mind ist nicht der Verstand, der nur fürs Denken zuständig ist. Auch Gefühle sind Funktionen des Minds1.

Die Sicht des Advaita Vedanta:

Der Mind ist eine feinstoffliche Funktion, die beim Menschen vier verschiedenen Gedankenformen umfasst

  1.  Denkfähigkeit und Emotionen – Manas
  2.  Lernen, Analysieren, Verstehen – also gezieltes Einsetzen der Denkfähigkeit – Buddhi
  3.  Erinnern – Chitta
  4.  Die obigen Funktionen auf sich selbst Beziehen, der „Ich-Sager“ – Ahamkara.

Der emotionale Mind, Manas

Manas ist der emotionale Mind. Emotionen2 haben positive und negative Seiten. Wenn sie einen regieren, überwiegen die negativen Seiten. Manas größtes Defizit besteht in dem Mangel an Lernfähigkeit, Manas-Gedanken sind unreflektiert. Manas kann denken, aber die Gedanken sind emotionsgesteuert (ich will – ich will nicht). Manas kann entscheiden, aber kann nicht bei Entscheidungen bleiben, weil sie impulsgesteuert sind und nicht auf Einsicht beruhen. Und Manas bleibt in Denkgewohnheiten stecken.

Die meisten Sucher kennen Manas als den ewigen Störenfried, der ihnen auf die Nerven geht, wenn sie meditieren oder bei ihren spirituellen Einsichten bleiben wollen. Diese Sucher sind oft ihr Leben lang mit dem Versuch beschäftigt, Manas umzumodeln. Vergeblich.

Wenn ihnen diese Vergeblichkeit dämmert, versuchen sie, den Mind zu überwinden, um zum „No-Mind“ zu gelangen. Sie setzen Manas und Mind gleich und übersehen, dass ihr Mind noch eine andere außerordentlich wertvolle Funktion hat. Von dieser Funktion war in vielen Essays schon die Rede. Sie ist kein Hindernis auf dem Weg, sondern von zentraler Bedeutung für die Erkenntnis: die Buddhi.

Die Buddhi

Die Buddhi kann all das, was Manas nicht kann: Lernen, Analysieren, Verstehen. Während Manas emotionsgesteuert ist, ist die Buddhi an ihren Einsichten ausgerichtet, die auf ihrer Lernfähigkeit beruhen. Jeder hat Manas, jeder hat Buddhi, denn jeder Mensch hat Emotionen, und jeder hat Einsichten. Die Buddhi-Einsichten sind vielleicht sehr einfach und beruhen auf Erfahrungen, wie „Wenn ich hier rumschreie, kriege ich nie, was ich erreichen will“. Oder die Einsichten sind komplexer und beruhen auf abstrakter Denkfähigkeit und Logik, wie viele Aussagen in diesen Essays. Auch können Buddhi-Einsichten die unterschiedlichsten Lebensbereiche betreffen, je nachdem, was einen interessiert, egal ob Gartenbau, Wirtschaft, Psychologie oder eben die Wahrheitssuche.

Der Einsatz der Buddhi im spirituellen Bereich war schon immer ein Tabu, und zwar überall auf der Welt. Zwar braucht man die Buddhi für ethisches Handeln, denn um ethisch zu handeln, muss man in der Lage sein, die eigenen emotionalen Bedürfnisse gegebenenfalls zurückzustellen. Aber bei religiösen, spirituellen oder esoterischen Erfahrungen ist die Buddhi störend. Sie fragt viel zu genau nach. Denn sie will wissen. Daher ist die Buddhi in sämtlichen Glaubensrichtungen unerwünscht.

Im Advaita Vedanta ist sie unentbehrlich, ihre Fragen sind erwünscht und werden hoch geschätzt. Advaita Vedanta ist eine Erkenntnislehre und kein Glaubenssystem. Und Advaita Vedanta bietet der Buddhi genau das Futter, was sie liebt.

Aber Manas liebt dieses Futter überhaupt nicht. Er findet es anstrengend. Das ist es für ihn auch, denn Erkenntnisprozesse sind nicht seine Expertise. Manas kann sich einstimmen, kann fühlen, kann genießen, kann sich berühren lassen – darin ist Manas wunderbar. Es sind auch wirklich schöne Fähigkeiten, nur helfen sie einem nicht zu erkennen, wer man in Wahrheit ist.3

Der Wahrheitssucher muss also zuallererst einmal verstehen, dass er eine Buddhi hat, dass er sie anerkennen und ihr Raum geben muss und dass sie Nahrung braucht. Eine Buddhi will lernen, dazu ist sie da. Und die Buddhi eines Wahrheitssuchers will lernen, die Wahrheit zu finden.

Leider ist das Angebot in dieser Hinsicht äußerst begrenzt. Ich zumindest kenne nur ein Einziges, und das versuche ich hier seit vielen Jahren vorzustellen, so gut das in Essayform eben möglich ist.4

Das Archiv, Chitta

Wie aus der obigen Auflistung ersichtlich, gibt es noch zwei weitere Mindfunktionen. Chitta, das Gedächtnis, ist jedem bekannt und auch sogleich als Mindfunktion zu erkennen. Sowohl Manas als auch Buddhi greifen auf Chitta zurück.

Das persönliche Ich, Ahamkara

Ahamkara allerdings ist eine Mindfunktion, die nicht so leicht verständlich ist. Oben habe ich Ahamkara als den „Ich-Sager“ bezeichnet. Ahamkara ist normalerweise immer mit dabei, egal, ob gedacht, gefühlt, gelernt, analysiert, verstanden oder erinnert wird. Nur ausnahmsweise, zum Beispiel beim Meditieren, gelingt es, alle diese Vorgänge ablaufen zu lassen, ohne sie ständig auf einen selbst zu beziehen: ein Gedanke, aha, abgehakt. Ein Gefühl, aha, abgehakt. Eine Einsicht, aha, abgehakt. Eine Erinnerung, aha, abgehakt.

Ahamkara nimmt Gedanken, Gefühle usw. nicht nur wahr, sondern sagt „ich denke“ „ich fühle“, „ich erinnere mich“ oder „ich verstehe“. Wenn Ahamkara das nur sagen, die notwendigen Aktionen in die Wege leiten und sich damit zufrieden geben würde, wäre es kein Problem. Aber Ahamkara ist zutiefst überzeugt davon, ein denkendes, fühlendes, handelndes Ich zu sein. Ahamkara definiert sich als ein Ich, das sich von allem anderen unterscheidet. Ja, Ahamkara ist das getrennte Ich, das in der Dualität lebt und das 99,9 % der Menschheit für ihr wahres Selbst halten.

Der Sucher auf dem Erkenntnisweg beginnt, über die Vorstellung, ein Ahamkara-Ich zu sein, hinauszublicken und möchte sein wahres Selbst entdecken. Aber er braucht sehr gute Argumente, um die alte Identität ganz und gar hinter sich zu lassen. Advaita Vedanta stellt ihm diese Argumente zur Verfügung.

Wer genau ist hier der Sucher? Die Buddhi. Sie will wirklich verstehen, wieso die falsche Identität so überzeugend ist, und wie es möglich ist, sie zu überwinden. Vorausgesetzt, sie hat schon von diesem Erkenntnisweg gehört, was hindert sie, ihn einzuschlagen?

Eingangs habe ich gesagt, dass der Erkenntnisweg einfach zu wenig in das Bild passt, das der normale Sucher von einem erfolgversprechenden spirituellen Ansatz hat. Ich präzisiere dies jetzt und sage, er passt einfach zu wenig in das Bild, das Manas von einem erfolgversprechenden spirituellen Ansatz hat. Von sich aus verlässt Manas die gewohnten Bahnen nicht.

Es ist die Buddhi, die potentiell dazu in der Lage ist – sobald sie die Regierungsgeschäfte im Mind übernimmt. Mag sein, dass sie die Zügel im Beruf oder im Alltag schon in der Hand hat. Aber im Spirituellen hat sie sich traditionsgemäß stets dem emotionalen Mind untergeordnet. Sie braucht also eine Art Fitness-Training, um befähigt zu sein, den Mind zu regieren – und über dieses Fitnesstraining gibt es ja schon ein Essay: Buddhi-Fitness-Training.

Fußnoten:

  1. Deshalb verwende ich hier immer das englische Wort mind, das Emotionen und Gefühle einschließen kann.
  2. Hier gleichzusetzen mit Gefühlen
  3. Auch Manas stellt Fragen, aber er will eigentlich nicht wissen, sondern seinen Gefühlen Ausdruck geben, bevorzugt durch Warum-Fragen wie: Warum muss ich leiden? Warum ist die Welt so wie sie ist? Warum lässt Gott das zu?
  4. Essay Man kann!