Vom „Größeren Ganzen“ ist in diesen Essays schon häufig die Rede gewesen. Aber klar definiert habe ich den Begriff nicht, vielmehr verweist er in unterschiedlichen Zusammenhängen auf unterschiedliche „Größere Ganzheiten“. Da Klarheit im Vedanta unverzichtbar ist, möchte ich die unterschiedlichen Ebenen von größeren Ganzheiten gerne näher ausleuchten.

Wer davon ausgeht, dass er ein materielles Etwas  ist, getrennt von anderen materiellen Gebilden, die auf dieser materiellen Welt auftauchen und irgendwann wieder verschwinden, scheint mit dem größeren Ganzen nichts zu tun zu haben. Sein materielles Weltbild beschreibt Wikipedia so:

Der Materialismus ist ein (…) Ansatz, der alle Vorgänge und Phänomene der Welt auf Materie (…) zurückführt. Der Materialismus geht davon aus, dass auch Gedanken, Gefühle oder das Bewusstsein Erscheinungsformen der Materie sind bzw. auf sie zurückgeführt werden können..1

Doch auch der Materialismus kann und wird das größere Ganze nicht leugnen. In diesem Falle ist die Materie an sich das größere Ganze. Einzelne Formen mögen sich unterscheiden, doch die Materie an sich bleibt doch stets Materie. Sie ist das den einzelnen materiellen Ausdrucksformen zugrundeliegende Prinzip. Vergeht eine Form, bleibt das materielle Prinzip weiter bestehen. Nicht die Materie vergeht, sondern nur die Form, in der sich die Materie zeigt.

Der Gegenbegriff zum Materialismus ist der Idealismus, wobei diese Weltsicht bei weitem nicht so leicht zu definieren ist. Ich verweise hier also auf die Position im engeren Sinne, die Wikipedia so beschreibt:

Im engeren Sinn wird als Vertreter eines Idealismus derjenige bezeichnet, der annimmt, dass die physikalische Welt

  • nur als Objekt für das Bewusstsein (= den Geist)
  • oder im Bewusstsein (= Geist) existiert
  • oder in sich selbst geistig beschaffen ist.2

Auch hier gibt es natürlich ein größeres Ganzes, denn die Grundposition im Idealismus ist: Alles ist Geist. Geist ist das Prinzip, woraus alles besteht und letztlich gibt es nichts außer Geist. Das größere Ganze des Idealismus ist also Geist.

Beide Ansätze, Materialismus und Idealismus, gehen davon aus, dass der Einzelne nicht getrennt ist vom größeren Ganzen. In diesem Sinne handelt es sich bei beiden nicht um dualistische Ansätze.

Dennoch unterscheiden sie sich vom Advaita Vedanta, also von der nicht-dualen Sichtweise, auf die ich in diesen Essays hinweise. Auch im Advaita Vedanta gibt es natürlich das größere Ganze und auch hier ist es ungetrennt vom Einzelwesen. Doch ist es hier weder grobstoffliche Materie, noch feinstoffliche (Geist), sondern reines Sein-Bewusstsein-Grenzenlosigkeit. Es ist das gänzlich immaterielle und objektlose Prinzip, welches alles durchzieht und ohne das letztlich nichts da wäre: Sein-Bewusstsein-Grenzenlosigkeit ist das einzige, was wirklich existiert. Im Vedanta nennt man es Brahman oder Atman.

Das größere Ganze ist also auf verschiedenen Ebenen denkbar: materiell oder geistig oder jenseits von Materie und Geist. Nur im Dualismus kann es gar kein größeres allumfassendes Ganzes geben. Auch hierzu noch einmal Wikipedia:

Als (…) Dualismus werden philosophische Ansätze bezeichnet, die davon ausgehen, dass alles, was ist (…), in zwei einander ausschließende Arten von Entitäten oder Substanzen zerfällt.

Aus dualistischer Perspektive gibt es mindestens zwei, unvereinbare Prinzipien. Innerhalb dieser Prinzipien mag es jeweils ein größeres Ganzes geben, doch die beiden lassen sich niemals in ein einziges größeres Ganzes hinein auflösen. Sie bleiben ewig voneinander getrennt. Da wir hier in Westeuropa in einer vom Dualismus geprägten Kultur aufgewachsen sind, ist es für uns nicht so einfach zu bestimmen, was denn wohl dieses ominöse größere Ganze sein könnte. Der Dualismus unserer Kultur geht vom Gegensatz „Materie-Geist“, „Leib-Seele, „Geschöpf-Schöpfer“ aus. Etwas, das über Materie und Geist, Leib und Seele, Geschöpf und Schöpfer hinausgeht (also das Brahman oder Atman), scheint in unserer Kultur nicht einmal vorstellbar zu sein.

Diese begrenzte Sichtweise durchzieht unsere gesamte Vorstellungswelt. Daher können sich auch diejenigen ihr selten entziehen, die meinen, eine östliche, nicht-dualistische Denkweise zu bevorzugen. Oft besteht auch ihr Denken aus einem Mix von dualistischen und nicht-dualistischen Ansichten, die logisch unvereinbar  sind und daher zu einem ständigen inneren Unruheherd werden. Um mit dem Vedanta zu sprechen: Die logisch operierende Buddhi kann sich mit dieser widersprüchlichen Perspektive nicht entspannen und lässt den Mind nicht zur Ruhe kommen.

Doch hierauf möchte ich jetzt nicht weiter eingehen, sondern darauf, wie sich der Blick aufs große Ganze „trainieren“ lässt. Was hilft, um sich aus der Vereinzelung zu lösen, die in der heutigen westlichen Gesellschaft so selbstverständlich geworden ist? Hierzu ist es nützlich, einen Blick auf die indische Kultur zu werfen, die geprägt ist von einer nicht-dualistischen Sichtweise.

Indien ist der siebtgrößte Staat der Erde, ein riesiges Land mit doppelt so vielen Menschen wie Europa: über eine Milliarde Menschen unterschiedlichster ethnischer Herkunft, mit unterschiedlichen Sprachen, unterschiedlichen Schriften, unterschiedlichen Göttern oder Religionen – und in all dieser Unterschiedlichkeit scheinen alle in weit höherem Maße um das größere Ganze zu wissen als der Westen. Woran liegt das? Man kann das Advaita Vedanta nicht von Indien trennen. Es ist sozusagen die höchste Ausdrucksform der indischen Kultur  oder, besser gesagt, die indische Kultur verleiht dem Vedanta in tausendfacher Weise Ausdruck. So ist es nicht verwunderlich, dass in Indien das größere Ganze stets und ständig eine wichtige Rolle spielt.

Auch wenn es sich im Folgenden so anhören mag: Ich bin mir der Schattenseiten der indischen Welt durchaus bewusst, ebenso der Lichtseiten der westlichen Welt. Es geht mir weder um ein Besser oder Schlechter, noch um eine Wiederbelebung vedischer Kultur. Aber ich meine, dass das, was Indien in seiner spirituellen Essenz dem Westen geben kann, vom Westen vollständig verkannt wird. Gerade spirituelle Sucher, die sich dem Advaita zuwenden, können von einem tieferen Verständnis der indischen Kultur enorm profitieren, wenn sie nur ihren Mind für sie öffnen würden.

Ich möchte hier also eine Lanze brechen für Indien, ein Land, das kein Land ist, sondern ein Universum. In diesem Universum ist das Bewusstsein für das große Ganze in gewisser Hinsicht wesentlich präsenter als in unserer globalisierten Welt. Auch wenn wir uns unserer Vernetztheit mit anderen Teilen der Welt vielleicht bewusster sind als ein durchschnittlicher Inder, so bleibt dieses Bewusstsein doch eindimensional. Immer sehen wir uns als Einzelwesen bezogen auf andere Einzelwesen, als Ich in Kontakt mit anderen Ichs. Wir sehen uns und die Welt nicht eingebettet in etwas Größeres, und schon gar nicht in etwas wohlwollendes, intelligentes Größeres, sondern tendenziell eher im Kampf mit all den anderen Faktoren, die in unserer Welt außer uns selbst noch eine Rolle spielen wollen.

Auch wenn die Vorstellung, sich behaupten zu müssen, der menschlichen (unerleuchteten) Grundnatur entspricht und daher universell zum Tragen kommt, ist sie doch in der westlichen Welt wesentlich stärker ausgeprägt als in anderen Kulturen.

Für ein Kind ist das erste größere Ganze, was ihm begegnet, die eigene Familie. Eine indische Familie erfüllt diese Funktion deshalb so gut, weil sie eine Einheit ist. Jedes Mitglied weiß, dass diese Einheit bedingungslos wertvoll, unterstützend und warm ist, wenn jeder die ihm zugedachten Funktionen erfüllt. Schon das Kind lernt, dass die eigenen Bedürfnisse den Bedürfnissen des gesamten Familienverbandes untergeordnet werden. Es ist überhaupt keine Frage, dass man sich mit den anderen arrangiert. Von vorneherein ist klar, dass etwas Größeres wichtiger ist, als die persönlichen Vorlieben und Abneigungen. Da die gesamte indische Kultur von diesem Geist geprägt ist, braucht es für die Einordnung in diesen größeren Zusammenhang normalerweise weder Drohungen noch Strafen. Vielmehr ist die Liebe zur eigenen Familie, insbesondere zu ihrem Mittelpunkt, der Mutter, eine tief empfundene Selbstverständlichkeit.

So etwas wie eine indische Familie ist in unserer modernen westlichen Kultur kaum mehr vorstellbar. Schon das Kleinkind wird hier stets nach seinen besonderen Vorlieben und Abneigungen befragt und diese werden, wenn irgend möglich, berücksichtigt oder zumindest diskutiert. In Indien geht es um das Wohl des großen Ganzen, im Westen geht es in viel stärkerem Maße um das Wohl des Einzelnen. Und auch die westliche Familie selbst ist relativ vereinzelt: Während eine westliche Familie ein Verband von drei bis fünf Individuen ist, ist eine indische Familie ein mehrere Generationen umfassender Verband von möglicherweise hunderten von Verwandten – die, wenn nötig,  tatsächlich alle füreinander einstehen.

Auch die jeweilige Kaste und Unterkaste, ebenso wie die Nachbarschaft, ist ein größeres Ganzes, das eine große Rolle spielt, vergleichbar etwa einer westlichen dörflichen Gemeinschaft. Selbst wenn man mit seiner Kaste nicht das große Los gezogen hat, verleiht sie oder das Gemeinwesen, in dem an lebt, einem doch ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Eingebundenseins in etwas Größeres.

Aber das wichtigste größere Ganze, in das man sich in Indien von Anfang an sicher eingebunden fühlt, ist die Religion. Ebenso wie es kaum unverheiratete Inder ohne Familie gibt, ist es in Indien so gut wie undenkbar, nicht religiös zu sein. Selbst ein Atheist betrachtet seinen Atheismus als eine Art Religion, der er sich zugehörig und in die er sich eingebunden fühlt. Allerdings sind Atheisten in Indien relativ selten. Indien ohne Götter, ohne Tempel, ohne Pilgerstätten, ohne Ashrams, ohne seine heiligen Flüsse, Berge und Bäume und vor allem ohne die Millionen von Menschen, die sie beleben, ist ein Unding, eine Absurdität. Fast allen Indern ist ihre religiöse Praxis ein echtes und persönliches Anliegen, weil sie ihnen ein ständiges Gefühl der Einbindung in etwas Größeres gibt.

Wir mit unserem dualistischen Hintergrund kennen das Lebensgefühl nicht, das aus der Vorstellung eines liebevollen  freundlichen Göttlichen erwächst, Verkörperung des großen Ganzen, das einen trägt und das nicht wirklich getrennt von einem ist. Daraus erwächst auch die Akzeptanz, mit der Inder im Allgemeinen die Verehrung verschiedener Götter betrachten, egal ob sie zum hinduistischen Pantheon oder zu anderen Religionen gehören. Alle sind schließlich nur unterschiedliche Ausdrucksformen des großen Ganzen.

Dieses große Ganze umfasst Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, Elemente, Planeten, Flüsse, Berge, Geister, Götter, Heilige, Dämonen, Autos, Häuser, Computer, Kraftwerke – mit einem Wort, Alles; und alles ist in seiner Eigenart achtens- oder verehrenswert. Auch wenn dieses größere Ganze nicht das ist, was Advaita Vedanta unter Brahman/Atman versteht, so ist es doch die Ausdrucksform von Brahman/Atman auf der Erscheinungsebene und hat einen Namen: Ishvara. Ishvara ist ein Schlüsselwort für jeden, der noch nicht ganz und gar in seiner wahren Natur ruht.

Willkommens-Meditation

Wer sich täglich eine bestimmte Zeit lang in dieses indische Lebensgefühl hineinfindet, in dem alles achtens- oder verehrenswert ist, wird merken, wie die gewohnten inneren Begrenzungen anfangen sich aufzulösen. Alles gerät ins Fließen, das eigene Ich verliert seine zentrale Bedeutung und nichts muss mehr genauso sein, wie man es sich vielleicht vorgestellt hatte. Die Daseinsweise wird entspannter, der Blick auf die Welt und das eigene Leben wird freundlicher und Vertrauen wächst.

Bei dieser Meditation geht es nicht nur darum, alles hinzunehmen, die Antwort ist kein ergebenes „Was soll man machen, so ist es halt“. Das ist nur der Anfang. Dann erst kommt das Entscheidende: Alles so wie es ist, willkommen zu heißen. Während der Übung  ist die Antwort auf alles, was geschieht, ein Lächeln – vielleicht sogar ein fröhliches, vergnügtes.

Dies ist übrigens kein Rezept, unerwünschte Situationen zu umgehen. Sie werden sich weiterhin ereignen. Aber wer sagt denn, dass man sie missmutig, sorgenvoll, empört oder verletzt besser handhabt, als mit einem inneren Lächeln und dem Wissen, dass auch sie zum größeren Ganzen dazugehören?

Ergänzend zu diesem Essay empfehle ich die Essays vom Januar und vom März 2013 zu lesen:
 
 

Fußnoten:

  1. Hinzufügungen in Klammern von mir.
  2. Hinzufügungen in Klammern von mir.