Wer sich mit dem Advaita Vedanta beschäftigt, kennt die vier verschiedenen Kategorien, in die man das, was den Menschen motiviert, einteilt:

  • Der Wunsch, sicher zu sein, Artha.
  • Der Wunsch, sich wohl zu fühlen, Kama.
  • Der Wunsch, ein guter Mensch zu sein, Dharma.
  • Der Wunsch, sich über all diese Wünsche zu erheben und die höchste Freiheit zu erlangen, Moksha.

Ich habe diese vier Kategorien im April 2012 erwähnt, Was ist das Richtige?

Wer Moksha, das letzte Ziel anstrebt, also erleuchtet werden möchte, der muss die anderen Ziele nicht aufgeben. Aber er muss die Identifikation mit ihnen hinter sich lassen und die ersten drei Ziele der Priorität Moksha nachordnen, da ihm sonst nicht genug Energie und Zeit für den Erkenntnisweg zur Verfügung steht.

Den meisten Suchern wird recht schnell klar, dass man die ersten beiden Ziele, Sicherheit und Wohlbefinden, immer nur vorübergehend erreichen kann, und dass man sich eine Menge Frust erspart, wenn man sie nicht allzu wichtig nimmt – also sich nicht mit ihnen identifiziert. Anders scheint es sich mit dem dritten Ziel, Dharma, zu verhalten.

Das Wort Dharma hat unterschiedliche Bedeutungen. In diesem Zusammenhang heißt es soviel wie „ethisch einwandfreies Handeln“. Und das wiederum definieren wir der Einfachheit halber als ein „sich anderen gegenüber so verhalten, wie man sich wünscht, dass andere sich einem selbst gegenüber verhalten sollten.“

Ethisch einwandfreies Handeln stellt in allen Gesellschaften einen hohen Wert dar, selbst wenn die Definition von Ethik sich unterscheiden mag. Es ist auch auf dem spirituellen Weg ein hoher Wert. Für die Wahrheitssucher, die diese Essays lesen, ist ethisch einwandfreies Handeln ebenfalls wertvoll, da es im eigenen Mind für Ruhe, Klarheit und Kraft sorgt – Vorbedingung, um den Weg der Erkenntnis überhaupt gehen zu können.

Dabei dürfen die Maßstäbe nicht unmenschlich hoch angesetzt werden. Einwandfrei heißt erst einmal: so ethisch wie es einem möglich ist.

Jemand, dem solch ethisch einwandfreies Verhalten in Fleisch und Blut übergegangen ist, führt meist ein friedvolleres Leben als jemand, der ständig mit dem eigenen Gewissen kämpft. Dieser Kampf mag sehr subtil sein, aber er verursacht ein dauerndes Gefühl von Unfrieden. Denn im Allgemeinen weiß jeder erwachsene Mensch ganz gut, was ethisch okay ist und was nicht, was er selbst als schmerzhaft erleben würde und was nicht. Dadurch, dass man sein Verhalten an Dharma ausrichtet, fühlen sich außerdem die Menschen um einen herum respektiert, und neigen dazu, sich einem gegenüber ebenfalls respektvoll zu verhalten – was den Frieden im Leben noch erhöht. Wer sich mehr und mehr an Dharma orientiert, erreicht damit, dass ihn seine Wünsche nach Sicherheit und Wohlbefinden weniger im Griff haben – er wird reifer und gelassener. 1

Identifikation mit Dharma

Dennoch gibt es Menschen, die dharmisch leben, deren Leben aber so gar nicht zum Bild der heiteren dharmischen Gelassenheit zu passen scheint, die man erwarten würde. Das liegt daran, dass sie stark mit Dharma identifiziert sind. Und, wie die meisten spirituellen Sucher wissen, rauben Identifikationen einem den Seelenfrieden. Wer meint, um sich schlagen zu müssen, um seiner Idee von Dharma Geltung zu verschaffen, läuft Gefahr, das Prinzip von Dharma ad absurdum zu führen („sich der Welt gegenüber so zu verhalten, wie man sich wünscht, dass die Welt sich einem selbst gegenüber verhalten sollte“).

Ein dharmisches Leben zu führen, ist also erst einmal förderlich und bringt einen weiter. Doch die Identifikation mit Dharma ist ein Hindernis auf dem Weg zu Moksha, so wie jede Identifikation.

Dharma ist nicht das Endziel

Wenn ein Mensch zum Wahrheitssucher wird und beginnt, sich für Moksha zu interessieren, könnte ein Konflikt entstehen. Denn sein Engagement für Dharma hat möglicherweise eine Menge Zeit und Energie in Anspruch genommen: das Engagement für die Erde, für Menschen, für Tiere, für diese Gruppierung oder jene Organisation usw. Bei uns weniger verbreitet, aber in dieselbe Kategorie fällt auch jemand, dessen Tag ausgefüllt ist mit Gebet, Gottesverehrung, Meditation und allen möglichen spirituellen Ritualen. Wie gesagt: All diese dharmischen Handlungen sind wunderbar. Sie helfen dem Menschen zu reifen und klären seinen Mind.

Doch wer Moksha will, braucht seine Energie jetzt dafür und wird sein dharmisches Engagement zurückfahren. Erst nachdem er Moksha erlangt hat, kann er es wieder aufnehmen, allerdings ohne Identifikation – und möglicherweise weitaus effektiver. Da man nicht beides gleichzeitig ganz oben auf der eigenen Prioritätenliste stehen haben kann, Dharma und Moksha, und da es hierzulande zur Erreichung von Moksha vergleichsweise wenig konkrete Angebote gibt, halten sich viele Menschen lieber an Dharma. Zudem katapultiert einen Dharma selten gänzlich aus den gesellschaftlichen Normen heraus, da es, im Gegensatz zu Moksha, für viele Menschen ein nachvollziehbares Ziel ist.

Je mehr sich jedoch die Sehnsucht nach der Wahrheit in einem selbst bemerkbar macht, desto unzufriedener wird man mit seinen dharmischen Zielen. Man spürt: Sie mögen noch so sinnvoll sein, aber sich werden mich nicht dahin bringen, wo ich eigentlich hinwill. Sie werden nicht die ultimative Erfüllung bringen, die eigentlich ersehne. Sie werden mich vieles lehren, aber sie werden mir nicht die Erkenntnis darüber eröffnen, wer ich in Wahrheit bin. 2

Doch für den, der diese Erkenntnis gewonnen hat, also Moksha erlangt hat, ist Dharma eine Selbstverständlichkeit. Er/Sie empfindet es nicht als etwas, das man anstreben sollte oder wollte. Ohne Identifikation mit einem persönlichen Ich und dessen Handlungen ruht der Erleuchtete nun entspannt im Sein. Absichtslos wird das, was andere als dharmisch bezeichnen, ganz natürlich in seinen Handlungen Ausdruck finden.

 

Fußnoten:

  1. Ein vorbildliches dharmisches Verhalten kann man in diesem sehr interessanten (englischen) You Tube Clip bei dem Initiator des indischen Hospital Trains beobachten, der trotz aller Hindernisse gelassen, aber unbeirrbar weiter sein Ziel verfolgt: https://www.youtube.com/watch?v=TNqjOTx6nR0
  2. Hier setzt die ganze westliche Diskussion ein über die „egoistische östliche Erleuchtungssuche, die doch keinem anderen irgendeinen Nutzen erweist“. Aus der Sicht des Advaita Vedanta bedeutet das nur, dass die, die so argumentieren, leider nicht über den Wert von Dharma hinausblicken und verstehen können, dass es nichts Wertvolleres gibt, als Moksha. Verstehen können es nur die, die Moksha bereits für erstrebenswert halten.

    Wer nach Dharma kein weiterführendes Angebot, kann auf seinem spirituellen Weg tatsächlich „stranden“. Sehr gut illustriert dies der folgende kleine (deutsche) Fernsehfilm auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=ZjME_jfmEck.