Im Bewältigen kleinerer und größerer Herausforderungen im Leben, liegt der Fokus der meisten Menschen auf all dem, was fehlt. Ähnlich ist es bei den Wahrheitssuchern. Immer wieder kommen sie an ihre Grenzen, und auch ihr Fokus liegt auf all dem, was sie alles noch nicht können, noch nicht verstehen, noch nicht erkannt haben. Selbst wenn ihre Einschätzung der Lage in vielerlei Hinsicht realistisch sein mag, übersehen sie oft die Parameter, die ihnen bereits zur Verfügung stehen.

Im Advaita Vedanta wird der Sucher zuallererst einmal gepriesen – denn wenn er sich um Erleuchtung bemüht, dann ist er bereits zweifach gesegnet, vielleicht sogar dreifach.

In der Vivekachudamani heißt es gleich zu Anfang:

 Als Mensch geboren zu sein, 

sich nach Moksha, der höchsten Freiheit zu sehnen 

und unter der Anleitung eines erleuchteten Lehrers zu sein, 

dieser dreifache Segen ist schwer zu erlangen 

und ist nur durch gutes Karma möglich.

Vivekachudamani Vers 3

Der erste Segen …

… ist die Inkarnation als Mensch. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, auf dieser Welt zu inkarnieren, aber nur die menschliche Geburt eröffnet die Chance, erleuchtet zu werden, Moksha, die höchste Freiheit zu erlangen. Denn um Moksha zu erlangen, bedarf es des freien Willens, und über den verfügt nur der Mensch.

Daher gilt die Inkarnation als Tier oder als Pflanze als Ausdruck von schlechtem Karma. Nicht einmal eine Luxus-Siamkatze oder ein edles Araberpferd mit eigener Dienerschaft werden als gesegnet betrachtet, denn was sie haben, ist vergänglich – ein angenehmes Leben. Mehr nicht. Sogar die Inkarnation als göttliches Wesen ist in diesem Sinne kein Segen, denn auch ein göttliches Wesen hat nichts als ein – sehr sehr langes – angenehmes Leben. Ebenso wie die göttlichen Wesen werden auch alle anderen Lebewesen irgendwann als Menschen wiedergeboren werden, um eine Chance auf Moksha zu haben.

Für alle, die sich den ungeheuren Wert dessen, dass sie als Menschen inkarniert sind, bewusst machen, für alle sie relativieren sich viele Mängel, mit denen sie sich tagtäglich herumschlagen. Diese Erde zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine ausgewogene Mischung von Angenehm und Unangenehm bietet. Daher werden alle mit einer Mischung aus gutem und schlechtem Karma als Menschen geboren, welches sie dann auf dieser Erde „ernten“ werden. Im empfehle in diesem Zusammenhang, das Essay 11-1011 über Karma noch einmal durchzugehen.

Es gilt also, zunächst einmal wertzuschätzen, dass man weder als Tier, noch als Engel, noch als göttliches Wesen, noch als Pflanze geboren wurde, sondern als Lieschen oder Adolf Müller mit begrenztem Körper-Geist in begrenzten Umständen auf einer begrenzten Welt geboren und erwachsen wurde. Wer seine menschliche Geburt wertschätzt, so wie das Vedanta es tut, kann seinen spirituellen Weg mit Dankbarkeit beginnen und hat beste Voraussetzungen, ihn mit Ruhe und Gelassenheit zu gehen.

Der zweite Segen …

… ist der Wunsch nach Moksha. Die menschliche Inkarnation ist keine Selbstverständlichkeit. Noch weniger ist der Wunsch nach Moksha eine Selbstverständlichkeit. Wer diesen Wunsch hat, weiß, wie wenig selbstverständlich er ist; denn er/sie wird im Bekanntenkreis kaum jemanden finden, der ihn ebenfalls hat – falls man überhaupt irgendjemanden findet. Im Vers der Vivekachudamani heißt es, auch dieser Wunsch gründe sich auf (gutes) Karma. Das bedeutet, dass er eine höchst individuelle Angelegenheit ist. Entweder er kommt in einem auf oder eben nicht. Wer ihn nicht hat, dem sind Sicherheit und Wohlbefinden wichtiger. Selbst wer sich aufopfernd für seine Ideale einsetzt, hat noch ein anderes Ziel (genannt Dharma). Moksha interessiert die wenigsten. Doch wen es interessiert, den erklärt Vedanta zum zweifach Gesegneten, denn das Menschsein ist ja bereits gegeben. Kein anderes Lebewesen wird diesen Wunsch haben.

Mit Moksha verhält es sich allerdings ein wenig vielschichtiger als mit der menschlichen Geburt. Denn ob tatsächlich eine Chance auf die höchste Freiheit besteht, hängt davon ab, wie man Moksha definiert. Was unter Erleuchtung oder Erlösung versteht, ist abhängig vom religiösen oder philosophischen Kontext, den man für wahr hält. Und es ist abhängig von der eigenen Unterscheidungsfähigkeit.

Die meisten, die Erleuchtung wollen, wollen eigentlich Sicherheit und Wohlbefinden. Es lohnt sich hierzu noch einmal das Essay 4-2012 Was ist das Richtige? zu lesen. Wer weiß schon genau, was Erleuchtung ist? Nur der Erleuchtete selbst. Alle anderen haben ihre Vorstellungen, und die belaufen sich im Wesentlichen auf ein „Dann ist endlich alles gut“ – was herzlich wenig über Moksha aussagt. Um das ganze ein bisschen realistischer zu betrachten, empfehle ich unbedingt, das Essay 6-2015 Das Ich aufs Spiel setzen? noch einmal genau zu studieren. [1]

Wer in sich die drängende Sehnsucht nach Moksha spürt, sollte sich die Frage stellen „Was wäre so schlimm daran, wenn es diesmal mit Moksha nicht klappt?“ Es gibt unter den Wahrheitssuchern einige, die es so dringend nach Moksha verlangt, damit sie bloß nicht noch einmal inkarnieren müssen – weil sie das Leben auf dieser Welt als allzu unerfreulich und schwierig empfinden. Eine solche Motivation wird Moksha verhindern, denn Moksha ist nicht Mittel zum Zweck.[2] Deshalb ist es so wichtig, die Inkarnation als unvollkommenes Wesen auf dieser unvollkommenen Welt wertzuschätzen. Der erste Segen ist Voraussetzung für den zweiten.

Der dritte Segen …

… besteht darin, einen spirituellen Lehrer gefunden zu haben, dem man vertraut und der einem helfen kann, die Erkenntnis des wahren Selbst und damit die höchste Freiheit zu erlangen. Auch hierzu gibt es schon Essays, insbesondere die von 11-2012 und 12-2012. Der Vers sagt, dass diejenigen, die auch noch den dritten Segen erlangt haben, sozusagen rundumversorgt sind für Moksha. Und es heißt, dass dieser dreifache Segen schwer zu erlangen ist. Jeder, der die spirituelle Not erlebt hat, die darin besteht, zu spüren „Es fehlt noch was!“, aber keine Ahnung hatte, an wen er/sie sich wenden kann, um weiterzukommen, weiß, wie schwierig es ist, einen geeigneten Lehrer zu finden.

Manchmal wird einem ein Lehrer geschenkt. Doch ist dieses Geschenk nicht immer auch ein Segen, denn oft wertschätzt man Geschenke weniger als wenn man sich für etwas wirklich anstrengen musste. Daher war es in der Vergangenheit üblich, dass ein Schüler dem Lehrer erst einmal eine Reihe von Jahren dienen musste, bevor er wert befunden wurde, gelehrt zu werden. Das gibt es heutzutage nur noch selten. Doch jeder, dem dieser dritte Segen zuteil geworden ist, sollte ihn sich stets bewusst machen.

In dem Vers heißt es weiter „Dieser dreifache Segen ist nur durch gutes Karma möglich”. Tatsächlich ist diese Übersetzung bereits eine Verdeutlichung dessen, was gemeint ist. Im Wortlaut steht da “Dieser dreifache Segen ist nur durch Gottes Gnade möglich”. Um den Satz richtig zu verstehen, muss man sich klar darüber sein, was im Vedanta mit “Gott, Ishvara” gemeint ist: die “Gesamtheit aller Gesetzmäßigkeiten, die der manifestierten Welt zugrunde liegen”. Eine dieser Gesetzmäßigkeiten ist das Karma-Gesetz. (Siehe die Fußnoten zum Thema Gott [3]).

Es gibt also keinen Gott, der diejenigen dreifach segnet, die es verdient haben, und andere leer ausgehen lässt, weil sie es nicht verdient haben. Im Vedanta ist Gott nicht Anwender der Gesetzmäßigkeiten. Gott ist Verkörperung dieser Gesetzmäßigkeiten.

Das, was jemand gesät hat, wird er ernten, so ist die Gesetzmäßigkeit. Sie allein wirkt und außer dem Handelnden ist niemand anders involviert. Daher ist die Wendung “Gottes Gnade” nichts als ein anderer Ausdruck für gutes Karma.

Noch eine Klarstellung zu den oben erwähnten Göttern und dem, was der Vers hier als „Gott“ bezeichnet. Beides ist nicht dasselbe. Mit den Göttern sind göttliche Wesen gemeint, die, wie bereits erwähnt, selbst noch auf dem Weg, aber sehr fortgeschritten, gut und Beschützer der Menschen sind. Sie werden verehrt. Ishvara dagegen wird nicht als Ishvara verehrt. Jemand auf dem Vedanta-Weg verehrt die Götter vielleicht, ist sich jedoch darüber bewusst, dass sie eine Manifestation Ishvaras sind, so wie alles andere auch, einschließlich des Verehrenden. Ishvara als Verkörperung aller natürlichen Gesetzmäßigkeiten, die in diesem Universum wirken, ist kein persönlicher Gott, den man verehrt. Allerdings kann man sich einen eigenen persönlichen Gott als Verkörperung Ishvaras wählen.

Fußnoten:

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[1] Weitere Essays zum Thema Moksha:

1-2011 Die Sehnsucht nach der Wahrheit

1-2014 Was ist Erleuchtung?

2-2014 Was ist Erleuchtung nicht? 

6-2014 Prioritäten   .

[2] Tatsächlich bedeutet Moksha die Erkenntnis, dass es nie eine Inkarnation gegeben hat, aber das ist Thema für ein anderes Essay und wurde im Karma-Essay bereits angesprochen. .

zuletzt editiert am 20.10.2018