Spirituelle Sucher, die sich über die Dualität hinausbewegen wollen, stellen sich oft vor, dass sie die Realität am Ende ihres Weges auf einmal komplett anders erleben. Das stimmt und stimmt nicht.
Es gibt schon vorher jede Menge Situationen, in denen die allem zugrunde liegende Nicht-Dualität erlebbar ist. Da die Realität nicht-dual ist, wäre es höchst verwunderlich, wenn die Nicht-Dualität bis zum Zeitpunkt der Erleuchtung unauffindbar wäre. Wir erleben Nicht-Dualität ständig, doch wir interpretieren unser Erleben falsch. Was mit der Erleuchtung oder dem Erwachen geschieht, ist, dass diese falsche, auf Unwissenheit beruhende Interpretation fallengelassen wird. Das bedeutet nichts anderes als dass die vielen möglichen Erfahrungen der Nicht-Dualität als das erkannt werden, was sie ihrem Wesen nach sind: Nicht-Dualität.
Was war noch mal Nicht-Dualität?
Auszug aus Dezember-Essay 2010 (auf Sanskrit heißt Nicht-Dualität Advaita):
Was ist Advaita?
Viele Wahrheitssucher haben den Begriff „Advaita“ schon gehört, denn die meisten Satsanglehrer nennen sich Advaita-Lehrer. Dennoch wissen manche ihrer Zuhörer nicht genau, was Advaita ist. Advaita heißt „nicht-zwei“, „nicht-dual“; das bedeutet, Advaita geht davon aus, dass die Realität auf einem einzigen Prinzip beruht. Außer diesem einen Prinzip gibt es kein zweites.
Aber wenn wir uns umschauen, sehen wir eine Welt voller Formen und Farben, wir erleben vielfältigste Sinneseindrücke, wir erfahren unseren Körper, die Energie, die ihn durchpulst, seine physiologischen Funktionen und wir nehmen unsere Gedanken und Gefühle wahr. Dies alles soll eine nicht-duale Realität sein?!
Unsere übliche Erfahrungswelt ist dual – hier gibt es nicht nur uns selbst, sondern auch das, was wir erleben: eine Teilung zwischen Subjekt und Objekt. Trotzdem befassen wir uns mit mystischen und östliche Lehren und wir besuchen Advaita-Satsangs; wir ahnen, dass das, was Advaita unter Realität versteht, eine übergeordnete Sicht ist und wir halten es für möglich, dass diese übergeordnete Sicht wahrer ist als unsere Alltagswahrnehmung.
Wenn die Realität nicht-dual ist, wie kommt es dann, dass wir sie als dual erleben? Wieso erfahren wir überhaupt eine in Subjekt und Objekt gespaltene Wirklichkeit?
Eine Antwort ist: Das Erleben der Dualität scheint mit der Sprache zu beginnen. Vorsprachliches Erleben scheint nicht-dual zu sein. Manche Menschen können sich sogar noch genau an den Zeitpunkt erinnern, als aufgrund der Sprache die eine ungeteilte Realität auf einmal in viele verschiedene Teile zerfiel.1
Ein Experiment
Es scheint, dass von allen Sinnen das visuelle Erleben ganz besonders mit sprachlicher Einordnung verknüpft ist. Deshalb schalten wir es für das folgende Experiment aus:
Setzen sie sich auf einen Stuhl und schließen Sie die Augen. Nun fragen Sie sich: Was nehme ich wahr?
Sie können dann aufzählen: Körper, Kleidung, Gedanken, Stuhl, Fußboden, Temperatur, Geräusche usw.
Als nächstes erforschen Sie Ihre Wahrnehmungen. Gehen Sie aus vom Körper. Sie nehmen den Körper wahr. Er ist umhüllt von Kleidern. Er sitzt auf einem Stuhl. Er registriert die Temperatur der ihn umgebenden Luft. Die Füße befinden sich vielleicht in Schuhen/Strümpfen und stehen auf dem Fußboden. Eventuelle Geräusche dringen an die Ohren, eventuelle Gerüche ziehen in die Nase. Auch mögliche Gedanken oder Gefühle werden wahrgenommen. Usw.
Nun gehen sie noch weiter ins Detail. Hinterfragen Sie Ihr obiges Erleben. Spüren Sie genau hin.
Sie spüren Ihren Körper. Spüren Sie tatsächlich das, was sie sehen würden, wenn Sie in den Spiegel schauen würden? Was erleben Sie wirklich?
Der Körper ist bekleidet. Wo berührt die Kleidung den Körper? Und befindet sich dort, wo Sie kein Zusammenkommen von Körper und Kleidung spüren, wirklich keine Kleidung? Wenn Sie nicht wüssten, dass da Kleidung ist, wie würden Sie Ihr Erleben beschreiben?
Sie sitzen auf einem Stuhl. Spüren Sie den Stuhl? Oder spüren Sie einen gewissen Druck unter Ihrem Hintern und am Rücken? Können Sie allein aufgrund taktiler Wahrnehmung sicher sein, dass der Druck durch einen Stuhl zustande kommt? Könnte der Druck nicht auch ein Phänomen sein, das zum Körper dazugehört?
Wenn Sie nicht wüssten, dass ihre Füße den Fußboden berühren, was ist Ihr direktes Erleben? Wo spüren Sie jeweils die Grenze von Haut zu Kleidung, von Körper zu Stuhl, zu Fußboden, zur umgebenden Luft?
Wann und wo überschreiten Töne oder Gerüche die Grenze von außen nach innen und werden zu Ihren eigenen Sinnesempfindungen?
Wo entstehen Gedanken oder Gefühle, wo halten sie sich auf und wohin verschwinden sie? Was trennt den einen Gedanken vom nächsten, berühren sie sich und wenn nicht, was liegt dazwischen?
Die Erforschung dieser Fragen wird Überraschendes zutage fördern, denn die Grenzen, die wir gewohnheitsmäßig ständig ziehen, entsprechen gar nicht unserem tatsächlichen Erleben. Ihr Hintern und der Stuhl lassen sich nicht klar voneinander abgrenzen, genauso wenig wie irgendetwas anderes. Daraus kann man folgern, dass es sich bei den imaginären Begrenzungen, eigentlich um Konzepte handelt. Wir haben das Gefühl dass wir sie wahrnehmen, weil wir unterschiedliche Wörter haben und unser, eigentlich nahtloses, Wahrnehmen diesen Begriffen zuordnen. Die dadurch entstehende Wirklichkeit, ist nichts als eine Projektion.
Selbst wenn wir mit offenen Augen unser Erleben erforschen, dabei jedoch von sprachlichen Begriffen abstrahieren, können wir Grenzen nur aufgrund von Licht und Farbunterschieden abstecken. Und das Ergebnis, zu dem wir kommen, entspricht nicht unserem gewohnten Welt- oder Selbstbild.
Mit einer derart impressionistischen Weltsicht durchs Leben zu gehen, würde jedoch ein soziales Miteinander unmöglich machen. Deshalb ist es gut, dass wir die Option der Sprache haben. Doch davon auszugehen, dass es sich bei unserem üblichen Erleben um DIE Realität handelt, ist ein Irrtum. Selbst die Wissenschaft tut dies heutzutage nicht mehr. Wer also einen Geschmack von der Nicht-Dualität haben möchte, tut gut daran, sein eigenes Erleben einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Das, wovon die Mystiker, die Erleuchteten und die Advaita Schriften erzählen, ist gar nicht so weit weg, wie viele vermuten.
Tatsächlich könnten wir nicht überleben, wenn wir nicht jede Nacht sozusagen in die Nicht-Dualität eintauchen würden. Ja, genau, jede Nacht, jeder von uns – und zwar im traumlosen Tiefschlaf. Dieser Zustand ist, wie jeder bestätigen wird, außerordentlich angenehm und regeneriert die Lebenskräfte. Warum? Weil in diesem Zustand keine Dualität existiert. Dualität erzeugt Anspannung und vollkommene Freiheit von Dualität ist zutiefst entspannend.
Doch auch im Laufe des Tages, erholen wir uns in zahllosen Momenten von der anstrengenden Vorstellung einer dualistischen Existenz. Zwischen jedem unserer Gedanken/Gefühle gibt es einen Augenblick des Nicht-Denkens/Fühlens, in dem keine Dualität herrscht. Dazu kommen längere Zeitspannen, in denen wir in eine Trance fallen, auch dies ein Zustand der Nicht-Dualität. Solche Trancen ereignen sich zum Beispiel während wir unter der Dusche stehen, wenn wir auf den Bus warten, Zug fahren, eine Routinetätigkeit ausführen, kurz, in allen Momenten so genannter Geistesabwesenheit.
Nicht nur, wenn der Geist abwesend ist, erleben wir Nicht-Dualität. Auch in anderen Zuständen ist dies der Fall. Im Empfinden von Liebe löst sich die Vorstellung eines separaten Ichs und damit der Dualität auf, ebenso wie sich im Empfinden von Schönheit die Vorstellung von Trennung/Dualität auflöst. Auch jedes Mal, wenn sich ein Wunsch erfüllt hat, erleben wir, wie unsere angenommenen Begrenzungen (die uns so bedürftig machen) sich bis zu einem gewissen Grad auflösen – was sich dann durch Erleichterung, Entspannung und Freude ausdrückt.
Alle diese Erfahrungen sind zeitlich begrenzt, wie das bei Erfahrungen nun einmal so ist. Dennoch mag man sich fragen, weshalb die Erleuchtung eigentlich so schwierig zu erlangen ist, wenn unser Leben dermaßen durchzogen ist von nicht-dualen Erfahrungen. Dazu möchte ich kurz definieren, was das Phänomen „Erleuchtung“ von all diesen Erfahrungen unterscheidet. Erleuchtung ist nämlich nicht bloß eine verlängerte Erfahrung von Nicht-Dualität. Erleuchtung besteht darin, die Nicht-Dualität als das zu erkennen, was sie ist: das wahre Selbst. Erst mit dieser Erkenntnis ist die Nicht-Dualität kein vorübergehender Zustand mehr, sondern stellt sich als das heraus, was ich in Wahrheit bin: dasselbe wie das, was alles andere in Wahrheit auch ist.
Die Erleuchtung ist so schwer zu erlangen, weil die meisten ständig nach diesem anhaltenden Zustand suchen, den es per se nicht geben kann. Und warum tun sie das? Weil das Wissen fehlt, dass das Gesuchte kein neuer Zustand, sondern das ist, was hier und jetzt bereits DA ist. Wir müssen nur aufhören, es ständig zu übersehen.
Es geht also darum, Wege zu finden, sich über die gewohnte Interpretation der Realität hinauszubewegen. Wer die letzten zwei Essays verstanden hat und die dort und in diesem Essay vorgeschlagenen Übungen (Reflektionen, Meditationen, Experimente) nachvollziehen kann, dessen Glaube an Getrenntheit und Dualität beginnt zu schwinden. Nicht nur die Zeugnisse der Erleuchteten, einschließlich der Vedanta-Schriften, nicht nur die Logik, sondern sogar unser eigenes sinnliches Erleben gibt uns allen Anlass, die Vorstellung zu bezweifeln, dass wir uns in einer dualen Realität befinden. Dieser Zweifel ist Voraussetzung für die sichere Erkenntnis, dass die Realität nicht-dual ist und für das darauf folgende sichere Wissen, dass diese nicht-duale Realität ungetrennt ist von mir.
Die ersten drei Essays des Jahres 2013 zielen daraufhin, den Rahmen unserer üblichen Wahrnehmung zumindest in Frage zu stellen, wenn nicht, ihn ganz zu sprengen. Dies ist notwendig, reicht allerdings für sich genommen noch nicht, um die eigene wahre Natur zu erkennen. Jeder Sucher ist anders, aber alle brauchen eine gewisse emotionale Reife, die ihnen ermöglicht, die unvermeidlichen Wechselfälle des Lebens gelassen hinzunehmen. Alle brauchen außerdem die Information, dass es so etwas wie Erleuchtung gibt, was Erleuchtung ist und was dabei hilft, sie zu erlangen und was nicht dabei hilft. In vielen früheren Essays habe ich über all dies geschrieben (und werde es weiterhin tun).
Darüber hinaus brauchen alle Sucher die Gelegenheit, ihre Zweifel, die hinsichtlich der eigenen Erkenntnisse im Mind auftauchen, mit einem kompetenten Ansprechpartner zu klären. Dabei können die beschriebenen Reflektionen und Experimente helfen. Auch über die Schüler-Lehrer-Beziehung habe ich bereits geschrieben (November 2012).
Erst wenn kein einziger Zweifel mehr die Erkenntnis des Suchers trübt, das heißt, dann, wenn man ihn eigentlich nicht mehr als Sucher bezeichnen kann, erst dann kann er alleine weitergehen. Immer noch werden gewohnheitsmäßig ab und an Identifizierungen auftauchen – die er jedoch, ohne jegliche Hilfe von außen, als solche erkennt und loslässt.
Die Realität wird am Ende des Weges genau so erlebt wie an seinem Anfang, doch weiß der Erleuchtete ohne Zweifel, dass dem weitgehend dualen Erleben eine nicht-duale Wirklichkeit zugrunde liegt. Dies wiederum bedeutet, er weiß, dass jegliche Vorstellung von Getrenntheit auf einer falschen Interpretation beruht, dass also die vielfältige Erscheinungswelt aus derselben „substanzlosen Substanz“ besteht wie er selbst.
Diese substanzlose Substanz ist Sein–Bewusstsein–Grenzenlosigkeit – auf Sanskrit Sat-Chit-Ananta.
Fußnote: