In den folgenden Essays werde ich Eigenschaften beleuchten, die dem Sucher auf seinem Weg helfen. Sie unterstützen auch diejenigen, die bereits wissen, wer sie in Wahrheit sind, dabei, störende Automatismen im Denken und Fühlen aufzulösen.

Gelassenheit

Dass es für den spirituellen Sucher um Gelassenheit geht, ist den meisten vertraut und jeder sehnt sich nach mehr von diesem hohen Gut. Echte Gelassenheit beruht auf Vertrauen und ist eine Stärke. Echte Gelassenheit hat viel damit zu tun, wie man mit Tatsachen umgeht. Es gründet sich darauf, dass Tatsachen als Tatsachen erkannt und anerkannt werden. Und darauf, dass man bereit ist, die Tatsachen zu verändern, die man verändern kann. Dass man außerdem in der Lage ist, die Tatsachen hinzunehmen, an denen man nichts ändern kann. Und der Fähigkeit, den Unterschied zwischen beiderlei Tatsachen zu erkennen.1 Dies ist die Basis für die Gelassenheit, die dem spirituellen Sucher dient.

Vom Advaita Vedanta aus betrachtet besteht Gelassenheit aus mehreren Komponenten:

der Fähigkeit, die positiven Aspekte des Lebens nicht überzubewerten,

einem Mind, der mit sich und der Welt in Frieden ist,

Sinnen, die in Frieden sind,

der Fähigkeit, die Gegensätze des Lebens auszuhalten und

Vertrauen.

Vertrauen

All dies ist miteinander verflochten und das eine fördert das andere. Dabei ist, wie eingangs erwähnt, Shraddha, Vertrauen, grundlegend. Doch ausgerechnet Vertrauen fällt vielen Menschen schwer, jedenfalls, wenn sie nicht eine liebevolle, Vertrauen schenkende Kindheit hatten.

Doch jeder Mensch vertraut, sonst ist er nicht überlebensfähig. Wenige Menschen vertrauen hundertprozentig, aber niemand vertraut gar nicht. Wenn ich bei Grün über die Straße gehe, dann vertraue ich, dass die Autos Rot haben und stehen bleiben werden. Wenn ich in einem Laden mein Portemonnaie zücke, um zu bezahlen, dann vertraue ich, dass niemand es mir entreißt und damit aus dem Laden rennt. Wenn ich in einem Restaurant etwas bestelle, dann vertraue ich, dass es nicht vergiftet ist. Wenn ich abends einschlafe, dann vertraue ich, dass ich morgens aufwachen werde. Eigentlich ist jede unserer Handlungen getragen von Vertrauen. Aber für den spirituellen Weg brauche ich mehr als nur das Quäntchen, das zum Überleben notwendig ist. Schließlich bewege ich mich in eine Richtung, von der mir die ganze Welt erzählt, dass sie zu nichts führt. Ich brauche dreierlei Vertrauen: in meine eigene Sehnsucht, ins Leben, das mich in meiner Suche unterstützen wird und in die Aussagen derer, die mich in meiner Sehnsucht bestärken.

Es gibt viele Methoden, die versprechen, Vertrauen zu stärken. Eine der einfachsten besteht darin, das Maß an Vertrauen, das sich in den eigenen Handlungen bereits zeigt, wahrzunehmen und zu würdigen. Das heißt, man richtet sich nicht auf das aus, was fehlt, sondern auf das, was bereits da ist. Tagein tagaus, als eine meditative Übung, die das gesamte Leben durchzieht. So kann das Vertrauen, das bereits da ist, langsam wachsen. Und wenn Vertrauen wächst, wächst Gelassenheit.

 

Scheinbare Gelassenheit

Doch es gibt auch „Gelassenheiten“, die sich zwar als echte Gelassenheit ausgeben, mit ihr jedoch wenig zu tun haben – zum Beispiel

  • Wirklichkeitsferne Versponnenheit – man ist „gelassen“, weil man die tatsächlichen Gegebenheiten gar nicht wahrnimmt
  • Bequemlichkeit – man ist „gelassen“, weil man sonst möglicherweise etwas tun müsste
  • Konfliktscheu – man ist lieber „gelassen“, bevor man andere möglicherweise vor den Kopf stößt
  • Phantasielosigkeit – man ist „gelassen“, weil man sich nichts anderes vorstellen kann als das, was man vor sich hat (d.h. man braucht sich über mögliche zukünftige Schwierigkeiten nicht beunruhigen, und mögliche positive Ziele werden gar nicht erst in Betracht gezogen)
  • Desinteresse – man ist „gelassen“, weil man auf seiner eigenen kleinen Insel lebt
  • Naivität – man ist „gelassen“, weil man alles „positiv“ sehen will und die Augen vor Negativem verschließt.

Hinzu kommt natürlich die „Gelassenheit“, die durch Suchtmuster erkauft wird – Alkohol, Zigaretten, andere Drogen, Esssucht, Kaufsucht, Spielsucht, Internetsucht, Zwangshandlungen usw.

Im Wesentlichen unterscheidet sich die echte von der unechten Gelassenheit dadurch, dass Erstere ein Ausdruck von Freiheit ist, während letztere ein Ausdruck von Gefangenschaft in einem Verhaltensmuster ist. Bezogen auf die obigen Beispiele ist klar, dass eine Gelassenheit, die eigentlich keine ist, dadurch erlangt wird, dass man einen Teil der Realität ausblendet. Dagegen zieht die echte Gelassenheit die Realität in vollem Umfang in Betracht, durchblickt sie in allen Dimensionen und stellt sich ihr vorbehaltlos.

Echte Gelassenheit wächst also in dem Maße, wie man sich emotional und geistig über innere (und äußere) Beschränkungen erheben und die Realität so annehmen kann, wie sie ist. Doch zuallererst sollte man wissen, ob die Gelassenheit, die man spürt, eigentlich eine scheinbare ist. Das festzustellen, ist recht einfach, man braucht sich nur die Frage zu stellen: Was darf in meinem Leben auf keinen Fall passieren? Und sie ehrlich beantworten.

Je mehr einem dazu einfällt, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei der eigenen Gelassenheit um ein Scheinphänomen handelt. Beispiele: Arbeitsstelle verlieren, Zahnarztbesuch, ausgelacht werden, verloren gegangenes Urlaubsgepäck, Kind/Partner/Guru wendet sich ab, leerer Kühlschrank, Krankheit, Hausschlüssel weg, Computer kaputt, Fleck auf der weißen Bluse beim Vorstellungsgespräch usw.

Umgekehrt, wenn einem so gut wie gar nichts einfällt, man jedoch gleichzeitig kein übersprudelnd glücklicher und erfolgreicher Mensch ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man alles Beunruhigende bloß verdrängt, und keineswegs darüber steht.

 

Sollte eins von beidem auf einen selbst zutreffen, dann ist es besser, den Selbstbetrug gleich hier und jetzt ad acta zu legen, denn einen anderen Weg hin zu echter Gelassenheit gibt es nicht. Mit dem Beenden von Scheingelassenheiten wächst automatisch die Motivation, echte Gelassenheit zu entwickeln. Und eine hohe Motivation ist Gold wert, denn ohne sie macht man sich einfach nicht die Mühe.

Leidensdruck reicht nicht, denn mit Leidensdruck ist die Versuchung groß, sich doch wieder mit der einen oder anderen Scheingelassenheit zu begnügen. Eine Motivation ist etwas Positives, ein positives Leitbild: In die Richtung will ich! Ursprünglich hat jeder spirituelle Sucher dieses positive Leitbild, schließlich will er irgendwann einmal ankommen und das finden, was er sucht. Deshalb hat er sich ja auf die Suche gemacht.

 

Doch in diesem Zusammenhang kann sich eine besondere Scheingelassenheit störend bemerkbar machen, nämlich die (missverstandene) Idee vom „Weg als Ziel“.

„Der Weg ist das Ziel“ bedeutet, dass der Sucher bereits am Ziel ist, obwohl er sich auf dem Weg wähnt. Es bedeutet NICHT, dass die Sehnsucht nach dem Ziel falsch ist.

Das Gesuchte ist nicht getrennt vom Sucher und seiner Suche. Deshalb ist der Weg das Ziel. Aber da der Sucher dies nicht wirklich weiß, muss er suchen. Und um dranzubleiben an seiner Suche, braucht er die Sehnsucht nach dem Ziel. Wenn er diese Sehnsucht nicht spürt, weil er sie erfolgreich verleugnet, dann bleibt er dort stecken, wo er steht. Genau diese Sehnsucht ist die einzig nachhaltige Motivation, das zu erkennen, was er/sie wahrhaftig ist. Und in diesem Sinne ist sie auch die einzig nachhaltige Motivation, die dem Sucher hilft, echte Gelassenheit zu entwickeln, statt sich mit Scheingelassenheiten zufriedenzugeben.  (Siehe Essay 1, 2011, Die Sehnsucht nach der Wahrheit)

Im nächsten Essay geht es um Selbstdisziplin. Kommentare, Fragen usw. sind willkommen. Bitte eine Email schreiben.

Fußnote:

  1. Auf dieses einfache, aber grundwahre Prinzip baut das sogenannte Gelassenheitsgebet der anonymen Alkoholiker auf.