In diesem und den beiden vorigen Essays beleuchte ich Eigenschaften, die dem Sucher auf seinem Weg helfen. Sie unterstützen auch diejenigen, die bereits wissen, wer sie in Wahrheit sind, dabei, störende Automatismen im Denken und Fühlen aufzulösen.

Selbstdisziplin

Am Wort „Disziplin“ scheiden sich die Geister. Die einen halten sie für eine unselige Hinterlassenschaft unseres preußischen Erbes oder einen bedauerlichen Nebeneffekt alles Militärischen, das leider die heutige Welt immer noch bestimmt. Die anderen finden sie nützlich. Vedanta gehört zu letzteren.

In diesem Essay geht es in erster Linie um „Selbstdisziplin“, also um Disziplin, die einem nicht von außen auferlegt wird, sondern dem eigenen freien Willen entspringt. Zwar ist das mit dem freien Willen so eine Sache, denn wo setzen wir ihn ein und wo gehorchen wir nur dem Kommando internalisierter Autoritäten? Sollte es sich bei unserer Selbstdisziplin jedoch um letzteres handeln, würde ich sie als von außen auferlegte Disziplin klassifizieren, um die es hier nicht geht. Von außen auferlegte Disziplin kann Selbstdisziplin sowohl den Boden bereiten, als auch die Entwicklung von Selbstdisziplin behindern. Doch das ist ein Thema für ein anderes Essay.

Selbstdisziplin setzt sich aus verschiedenen Fähigkeiten zusammen, doch in erster Linie basiert sie auf  Selbstverantwortung. Wer keine Verantwortung für das übernimmt, was in seinem Leben passiert, der hat keine Motivation für Selbstdisziplin. Wenn ich irgendwo in mir die Vorstellung hege, ich sei nicht verantwortlich dafür, die Wäsche aufzuhängen, nicht verantwortlich dafür, meinen Körper fit zu halten, nicht verantwortlich dafür, meiner spirituellen Suche Raum zu geben usw., dann ist es unwahrscheinlich, dass die Wäsche aufgehängt wird, der Körper fit bleibt, meine spirituelle Suche Raum in meinem Leben bekommt usw.

Wie in anderen Essays gezeigt, haben wir weniger in der Hand als wir meinen (siehe Essay Logisch und Psychologisch, Gott ?). Das bedeutet jedoch nicht, dass wir für unser Handeln nicht verantwortlich wären. Für unsere Handlungen sind wir verantwortlich, nur das Ergebnis unserer Handlungen liegt nicht in unserer Hand – da zusätzlich zu unserem Tun noch so viele andere Faktoren ins Spiel kommen, die wir unmöglich alle in unsere Überlegungen einbeziehen können.

Von der höchsten Ebene (paramarthika) aus betrachtet, gibt es keine Selbstverantwortung, da das „Selbst“ in dem Wort Selbstverantwortung nicht unser wahres Selbst bezeichnet. Das wahre Selbst braucht weder Selbstdisziplin noch Selbstverantwortung, das wahre Selbst braucht überhaupt nichts, weil es reine Fülle ist.

Aber wer sich noch nicht als das wahre Selbst erkannt hat, oder wessen Erkenntnis noch instabil ist, der braucht Unterstützung auf dem Weg. Auf der höchsten Ebene der absoluten Wahrheit gibt es keine Weg.  Der Weg findet statt auf der Ebene der relativen Wahrheit (vyavaharika) (siehe Essay 1-2012, Unterscheiden). Die wichtigste Unterstützung ist laut Advaita Vedanta ein in sich ruhender Mind, der nicht bei jeder Gelegenheit aus dem Häuschen gerät, und der so klar ist, dass er sich kein X für ein U vormachen lässt.

 

Karma Yoga 

Ein ruhiger und klarer Mind entsteht durch Karma Yoga, wie schon oft erwähnt. Doch um in der Lage zu sein, eine von Karma Yoga geprägte Lebensweise zu führen, braucht man unter anderem Selbstdisziplin. Beißt sich hier nicht die Katze in den Schwanz? Nein, nicht ganz, denn hier noch einmal die drei Komponenten für Karma Yoga:

  1. Stichwort Moksha: Das Ziel, das hinter allen Handlungen steht, ist die Freiheit von der Vorstellung eines getrennten Ichs (und nicht Sicherheit oder Wohlbefinden).
  2. Stichwort Dharma: Die Handlungen sind ethisch.
  3. Stichwort Ishvara: Alle Handlungen werden zwar als Ausdruck des freien Willens erkannt, doch ebenso deutlich ist die Erkenntnis, dass ihr Ergebnis durch das Zusammenwirken der Gesetzmäßigkeiten des Universums (Ishvara) bestimmt wird.

Richtig ist, dass Punkt 2 Selbstdisziplin erfordert. Alle und alles stets so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte, ist nicht immer bequem.

Auch Punkt 3 mag Selbstdisziplin erfordern, denn um das Eingebundensein in Ishvara wirklich anzuerkennen, muss man sich die realen Gegebenheiten immer wieder bewusst machen, was durch die Einhaltung eines täglichen Rituals außerordentlich unterstützt wird (siehe  Essay 7-11, Was kann ich tun?).

Aber Punkt 1 fordert keine Selbstdisziplin, sondern fördert sie. Denn, wie alle mir zugesandten Kommentare zum Thema Disziplin betonen: Das Wichtigste ist ein Ziel, an dem mir wirklich liegt. Nur so ein Ziel ist in der Lage mich zu diszipliniertem Handeln zu motivieren. Im Karma Yoga ist dieses Ziel die höchste Freiheit, Moksha. Jemand, der dieses Ziel hat, will ankommen, er/sie will die Erkenntnis. Er/sie ist ein Mumukshu, und nur ein Mumukshu hat eine Chance auf dem Weg der Erkenntnis. Deshalb ist die Behauptung, man müsse den Wunsch nach der höchsten Erkenntnis aufgeben, so gefährlich. Gerade das Gegenteil ist der Fall: Die Sehnsucht des Suchers ist sein höchstes Gut. Nur wenn das Feuer des Verlangens nach der letztgültigen Freiheit wirklich brennt, ist es in der Lage, den Sucher aus seiner Komfortzone herauszuholen (siehe Essay 1-2011, Die Sehnsucht nach der Wahrheit).

 

Liebe

Als Mumukshu brauche ich Vertrauen. Vertrauen in was? Vertrauen, dass es überhaupt möglich ist, anzukommen, Moksha zu erlangen, erleuchtet zu werden – nicht nur theoretisch, nicht nur anderen, sondern ganz konkret mir möglich ist. Dieses Vertrauen (Shraddha) wird gefördert durch zweierlei: zum einen, dass man sich einfach mal auf den Weg macht und im Zuge dessen mehr und mehr erkennt, dass es sich lohnt. Zum zweiten durch die Beziehung mit einem Lehrer. Was motiviert den Sucher, sich „einfach mal auf den Weg zu machen“ und sich auf die Beziehung zu einem Lehrer einzulassen? Liebe. Liebe zu was? Liebe zu sich selbst, das heißt, sich selbst wert zu sein, den Weg zur höchsten Erkenntnis einzuschlagen und zu gehen.

Zu lieben macht uns glücklich. Warum? Weil es uns ein Gefühl der Vollständigkeit gibt, uns liebend mit jemandem oder etwas zu verbinden. Doch was ist das, was uns im Leben am allerliebsten ist? Das eigene wahre Selbst. Es ist absolut vollständig und daher reines Glück.

Das wahre Selbst darf nicht mit dem Ego verwechselt werden, hier geht es nicht um Egoismus. Vielmehr spreche ich  von dem reinen Sein, das dem Ego (und allem anderen) zugrunde liegt. Das Ego ist nichts als ein Missverständnis, es ist die bloße Vorstellung von einem Ich, das von allem anderen getrennt ist und das so gar nicht existiert. Das wahre Selbst ist das, was sich in/unter/hinter diesem Missverständnis verbirgt: Sein – Bewusstsein – Grenzenlosigkeit.

Auch wenn sie sich auf ein Objekt richtet, gilt unsere Liebe eigentlich immer dem wahren Selbst. Das wahre Selbst ist vorbehaltlos liebenswert, es ist das Wertvollste, was es gibt. Tatsächlich ist es das einzige, was es gibt. Und etwas in uns ahnt, dass dies so ist und macht sich deshalb auf den Weg, es zu entdecken. Sich selbst wert zu sein, die eigene Identifikation mit einem bloßen Missverständnis durch das Wissen um die eigene wahre Natur zu ersetzen, ist wahre Liebe.

Liebe, auch die Liebe zu einem Objekt, fördert Selbstdisziplin. Jede Mutter weiß es. Wer voller Liebe ist, ist in der Lage, auch die unbequemsten Situationen zuzulassen, wenn dies demjenigen, den man liebt, zugute kommt. Eine meiner Schülerinnen befragte ihren Freund zum Thema Selbstdisziplin. Seine Antwort ist die Verknüpfung von Liebe und Selbstdisziplin in einfachster Schönheit:„Na das ist doch ganz klar – wenn die Kühe morgens um 5 gemolken werden müssen, weil sie ein dickes Euter haben, dann stehe ich auf und melke die Kühe.“

Wahre Liebe zum wahren Selbst ist letztlich das Einzige, was mich in die Lage versetzt, meinen Weg zur Erkenntnis des wahren Selbst zu gehen – und das Einzige, was mir die Selbstdisziplin verleiht, dranzubleiben, bis ich es erkannt habe.