In diesem und den drei vorigen Essays beleuchte ich Eigenschaften, die dem Sucher auf seinem Weg helfen. Sie unterstützen auch diejenigen, die bereits wissen, wer sie in Wahrheit sind, dabei, störende Automatismen im Denken und Fühlen aufzulösen.
Die Unfähigkeit, mühsame, enttäuschende, unangenehme und unbefriedigende Situationen auszuhalten, kennzeichnet insbesondere die Sucher der westlichen Welt. Das liegt zum Teil daran, dass der Westen von der Vorstellung beherrscht wird, jeder Einzelne habe sein Schicksal selbst in der Hand. Die säkulare Variante davon ist der Self-made-man oder die Self-made-woman: Ich allein gestalte mein Leben, und wenn es mir nicht gelingt, hab ich nicht genug Einsatz gezeigt oder habe ich nicht genug an meiner Persönlichkeit gearbeitet, um es hinzukriegen. Die geistlich-klerikale Variante bemisst sich am Grad der Gottgefälligkeit: Wenn ich so bin, dass es Gott gefällt, verläuft mein Leben nach meinem Wunsch. Wenn es das nicht tut, muss ich gottgefälliger werden, um zu bewirken, dass es nach meinem Wunsch verläuft.
Mehr zum westlichen Machbarkeitsmythos hier: Logisch und Psychologisch und hier Gott ?. Die Ursprünge dieses Machbarkeitsmythos liegen in der traditionell christlich-jüdischen Tradition – heißt es doch in der Bibel „Macht euch die Erde untertan“. Doch als der christlich-jüdische Gott noch fest in der Ideenwelt des Westens verankert war, war es letztlich sein Wirken, das dem Menschen frustrierende Situationen beschert hat – als Strafe und Erziehungsmaßnahme. Aus den beiden Essays, auf die ich hier verweise, geht hervor, dass der Gottesbegriff im Vedanta komplett anders ist und daher auch eine andere Lebenseinstellung zur Folge hat.
In der heutigen von einem Gott weitgehend freien Welt, nimmt der westliche Mensch alles, was nicht nach seinen Vorstellungen verläuft, persönlich. Er hält es automatisch für ein Zeichen persönlichen Versagens – was es nicht unbedingt ist. Die ehemalige Opferrolle hat sich in ihr Gegenteil verkehrt. Der Mensch ist zum Dreh- und Angelpunkt des Lebens geworden, was ihn eigentlich komplett überfordert – ganz einfach, weil niemand Dreh- und Angelpunkt des Lebens ist. Wer sich dagegen eingebettet in einen größeren Zusammenhang sieht und anerkennt, dass sein persönlicher Beitrag zum Geschehen nur ein Mosaiksteinchen in einer Gesamtkreation ist, der erkennt auch an, dass einige Dinge nicht nach seinem Belieben verlaufen werden. Tatsächlich ist alles, was dann doch nach unserem Belieben verläuft, ein echter Glücksfall.
Außerdem gehören die meisten spirituellen Sucher des Westens zur Wohlstandsgesellschaft, das heißt, sie sind verwöhnt. Die ältere Generation, geboren in den fünfziger bis siebziger Jahren, hat erlebt, wie sich die materielle Situation in ihrer Kindheit und Jugend kontinuierlich verbessert hat. Gleichzeitig leidet sie oft daran, dass es ihr an echter Liebe und Herzenswärme gefehlt hat. Diese Kombination aus materiellem Wohlstand und Mangel an Liebe ist besonders schwierig, weil einige einfach nicht aufhören können, Kompensation für den Liebesmangel einzufordern. Von wem einfordern? Von allen und jedem. Die jüngere Generation dagegen empfindet den Mangel an echter Zuwendung weniger, dafür ist ihr Verwöhnanspruch ans Leben noch um vieles stärker, denn vielen von ihnen hat es eigentlich an gar nichts gefehlt. Im Effekt kommt es also für alle auf dasselbe heraus: Mangel an Frustrationstoleranz.
Titiksha
Das Pendant zum Begriff „Frustrationstoleranz“ ist im Vedanta das Sanskrit-Wort „Titiksha“. Titiksha kann man als Durchhaltevermögen übersetzen, aber es ist mehr als das. Titiksha ist die Fähigkeit, die Gegensätze des Lebens auszuhalten. Das Leben ist eine duale Angelegenheit – nicht in seiner Essenz, aber in seiner Ausdrucksform. Gegensatzpaare bestimmen unser Erleben: warm-kalt, leicht-schwer, satt-hungrig, hell-dunkel, klug-dumm, fein-grob, Fülle-Leere, Ruhe-Lärm, Sommer-Winter usw. usf. Und Gegensätze gehören zusammen, denn nichts in dieser Erscheinungswelt ist ewig. Auf dem Höhepunkt des Sommers wendet sich das Jahr dem Winter zu. Nach der nächtlichen Ruhe kommt der tägliche Lärm. Es gibt interessante und langweilige Menschen und Situationen auf der Welt, Schönes und Hässliches, Gesundes und Krankes. Alle diese Gegensätze sind nichts als unterschiedliche Ausdrucksformen des Lebens – wer Titiksha hat, nimmt sie als gegeben hin, ohne auf die eine oder andere Ausdrucksform fixiert zu sein.
Dabei ist es nur natürlich, Vorlieben zu haben. Doch mit seinen Vorlieben identifiziert zu sein, läuft auf einen Mangel an Titiksha hinaus. Und Titiksha ist wichtig für den spirituellen Sucher. Die Suche dauert lange, sie erfordert, dass man auch in Phasen, wo sich scheinbar nichts bewegt, dran bleibt, sie erfordert, dass man manchmal Dinge tut, die man normalerweise abgelehnt hätte, sie erfordert, dass man manchmal Dinge nicht tut, die man normalerweise immer getan hat. Warum? Weil derjenige, der alles so lässt, wie es immer war, auch nur zu dem Ergebnis kommen kann, das er immer schon hatte. Und jeder Sucher ist definitionsgemäß jemand, der sich mit den bisherigen Ergebnissen nicht zufrieden geben will, sondern ein anderes Ergebnis anstrebt. Selbst wenn er weiß, dass das Gesuchte nicht irgendwo anders in Zeit und Raum zu finden ist, sondern dass er selbst das Gesuchte ist, weiß er doch auch, dass ihm die wahre Natur des wahren Selbst verborgen ist. Und er will den Schleier seiner Unwissenheit lüften.
Wie behebt man Unwissenheit? Durch Wissen. Wie kommt man zu Wissen? Durch Lernen. Was ist Lernen? Schrittweises Erlangen von Kenntnissen einerseits, schrittweiser Erwerb von Fähigkeiten, die einem ermöglichen, Gewinn aus den erlangten Kenntnissen zu ziehen, andererseits. Beides ist nötig, damit Unwissenheit auf Dauer durch Wissen ersetzt wird. Im Advaita Vedanta studiert man die Upanishaden, die aus Lehrgesprächen von Lehrer und Schüler bestehen und bei denen es allein darum geht, die Erkenntnis des wahren Selbst zu erlangen. Durch dieses Studium erlangt man zunächst einmal Wissen, Information. Aber die Fähigkeiten, die einem ermöglichen, Gewinn aus diesem Wissen zu ziehen, muss man sich praktisch erarbeiten. Titiksha ist eine dieser Fähigkeiten.
Je mehr es dem Sucher an Titiksha, Frustrationstoleranz, mangelt, desto weniger klar ist der Kopf. Wenn man in frustrierenden Situationen nicht entspannt bleiben kann, wird emotionaler Aufruhr die eigene Erkenntnisfähigkeit immer wieder beeinträchtigen. Zum einen vergeudet man eine Menge Zeit und Energie mit Reaktionen auf unangenehme Situationen. Zum zweiten ist man in entscheidenden Momenten so sehr in Anspruch genommen von persönlichen Belangen, dass weder Raum für das Ringen um Erkenntnis bleibt noch für eine übergeordnete Perspektive.
Selbst nach der Erkenntnis des wahren Selbst kann es nützlich sein, an Titiksha zu arbeiten, denn ab und zu kommt es vor, dass auch jemand mit relativ wenig Frustrationstoleranz die Erkenntnis erlangt. Die Erkenntnis ist unumkehrbar. Aber die Frucht der Erkenntnis – Frieden – bleibt aus, solange die Frustrationstoleranz mangelhaft ist.
Wie erlangt man Frustrationstoleranz?
Zunächst einmal muss man sich vollkommen klar darüber werden, dass man mehr davon haben möchte und – sehr wichtig – dass man nur dann mehr davon haben wird, wenn man etwas dafür tut. Wer keine Verantwortung für seinen Mangel an Frustrationstoleranz übernimmt, kann bis in alle Ewigkeit darauf warten, dass sie sich wunderbarerweise irgendwann einstellen wird. Nein, man muss sich schon selbst darum kümmern.
Am besten, man nähert sich dem Thema von verschiedenen Seiten. Mittelbar und längerfristig helfen Übungen wie Meditation und Gebet. Die Meditation kann ruhig oder bewegt sein. Allerdings empfehle ich dem Sucher auf dem Weg der Erkenntnis keine kathartische Meditation. Und was für ein Gebet? Ganz einfach: Tagtäglich um mehr Frustrationstoleranz zu bitten, wird Wirkung zeigen. Allerdings sind Meditation und Gebet Übungen, die ihre Wirkung nur entfalten, wenn man sie täglich durchführt. Beides zusammen muss nicht mehr als 15 Minuten in Anspruch nehmen, aber Regelmäßigkeit ist unverzichtbar.
Eine andere Übung geht das Thema direkter an. Sie besteht in einem zielgerichteten Frustrationstraining, das auf Eigeninitiative beruht. Suchen Sie sich eine Frustration aus, der Sie sich freiwillig für einen vorher festgelegten Zeitraum aussetzen wollen. Es ist eigentlich egal, um was es sich handelt, es sollte nicht zu schwierig, aber auch nicht zu leicht sein. Eine Woche lang der mürrischen Nachbarin zulächeln, drei Stunden lang den Keller aufräumen, einen Tag lang nichts essen, zwei Monate lang wöchentlich ein Gedicht auswendig lernen usw. Je nachdem, wie viel Selbstdisziplin Ihnen zur Verfügung steht, können auch kleine Übungen eine große Herausforderung sein. Aber gerade dann lohnt es sich, sich das Frustrationstraining mit wechselnden Aufgabenstellungen zur Gewohnheit zu machen. Denn wenn Titiksha ein Problem ist, erscheinen Frustrationen als unüberwindliche Hürden und untragbare Bürden. Manche empfinden sie fast als lebensbedrohlich. Durch das Frustrationstraining lernt man, dass sie beherrschbar sind.
Emotionen
Nun liegen die Hauptfrustrationsauslöser oft im emotionalen Bereich und viele lassen sich nicht zu Übungszwecken konstruieren. Das macht die obigen Übungen nicht wertlos – doch was hilft in der direkten Konfrontation mit schwierigen Situationen? Auf welches „Notfallprogramm“ kann man im Falle des Falles zurückgreifen?
Wenn andere Menschen Auslöser der Frustration sind, sollte man die Situation so rasch möglich verlassen, möglichst unter einem Vorwand – und nicht mit einem Satz, der den anderen die Verantwortung für die eigene Frustration in die Schuhe schiebt. Selbst wenn man nur kurz hinausgeht, um durchzuatmen und wieder in Kontakt mit dem eigenen Bedürfnis nach mehr Frustrationstoleranz zu kommen, hilft dies. Als zweites, und auch dann, wenn keine anderen Menschen involviert sind, geht es darum, die eigenen Gefühle zu erkennen: Ich bin wütend, ich bin verletzt, ich bin einsam, ich bin traurig, ich habe Angst. Diese Gefühle müssen einem nicht gefallen, aber sie sind Fakt.
Wem Frustrationstoleranz fehlt, der meint oft, dass bestimmte Gefühlsreaktionen nicht sein dürften. Tatsache ist jedoch: Sie sind da. Dadurch, dass man sie nicht haben will, schafft man sie nicht aus der Welt. Emotionale Reife besteht darin, sie da sein zu lassen – solange sie bestehen bleiben. Da es sich jedoch um Emotionen handelt, bleiben sie nicht bestehen, sie tauchen auf und tauchen irgendwann wieder ab – es sei denn, man versucht sie zu bekämpfen. Der Kampf gegen die eigenen Emotionen ist das beste Rezept, um diese aufrechtzuerhalten. Siehe das Essay über Emotionen: Emotionen
Emotionen sind nicht lebensgefährlich, auch die unangenehmsten nicht. Tatsächlich haben wir sie alle schon mindestens einmal überlebt und werden sie auch in Zukunft überleben. Es ist eine kindische Vorstellung zu meinen, sie könnten einem das Leben kosten. Auf dieser kindischen Vorstellung beruht auch ein Abwehrmechanismus, der darauf hinausläuft, andere für die eigene Reaktion verantwortlich zu machen. Aber für die eigenen Reaktionen ist niemand anderer verantwortlich, sondern allein der eigene Mangel an Titiksha.
Der reife Umgang mit den eigenen Emotionen, ist ein wichtiger Schlüssel in Hinblick auf Frustrationstoleranz. Auch dieser muss geübt werden. Reife entsteht nicht von selbst und auch nicht über Nacht. Aber wer nicht anfängt, kommt nie ans Ziel. Dabei geht es wie gesagt nicht darum, irgendwelche Emotionen „wegzumachen“, sondern darum, sie genau so wie sie sind, zu fühlen und auszuhalten, ohne sie allzu ernst zu nehmen. Sie sind nichts als Wellen im Ozean, manchmal klein, manchmal groß, aber ohne Bestand. Im Vedanta gelten Emotionen als Gedankenformationen, und alle Formen – materielle, energetische, gedankliche – sind unbeständig.
Das einzige, was bestehen bleibt, ist formloses, ewiges Bewusstsein, das die Formen wahrnehmen kann und unberührt von ihnen ist. Bewusstsein ist vergleichbar mit elektrischem Strom, während jegliche Form vergleichbar mit einer Glühbirne oder einem anderen elektrischen Gerät ist. Der Strom bringt die Lampe zum Leuchten, ist selbst jedoch völlig unabhängig von der Lampe. Die Lampe verschafft ihm lediglich eine Ausdrucksmöglichkeit, auf die er jedoch nicht angewiesen ist. Die Lampe dagegen, ist, um ihre Funktion zu erfüllen, vollkommen angewiesen auf den elektrischen Strom. Wer in jeglicher Situation weiß, dass er Bewusstsein ist, den berühren emotionale Auf und Abs nicht – genauso wenig, wie der elektrische Strom davon berührt ist, ob er eine 15 Watt-Lampe zum Leuchten bringt, ein 3500 Watt-Flutlicht oder gar nichts.
Titiksha ist wie gesagt die Fähigkeit, die im Leben auftauchenden Gegensätze gefasst hinzunehmen. Für den Sucher, der die Nicht-Dualität des Seins erkennen will, ist Titiksha ein wichtiger Baustein auf seinem Weg. Und für denjenigen, dessen Erkenntnis sich immer wieder kurzzeitig zu verschleiern scheint, ist Titiksha das, was ihm den ersehnten Frieden beschert. Denn Titiksha ermöglicht dem Sucher, einen Standpunkt einzunehmen, der über die Dualität hinausblickt. Mehr und mehr hört er auf, sich mit dem einen oder anderen zu identifizieren. Weder kämpft er mit dem, was ihm nicht zusagt, noch ist er so beeindruckt von dem, was ihm zusagt, das er unbedingt daran festhalten will.
Wem es an Frustrationstoleranz mangelt, der muss sich damit abfinden, dass es ein wenig mühsam ist, sie zu entwickeln. Warum? Weil es bereits Frustrationstoleranz erfordert, sie zu entwickeln. Man muss sich also mit dem Quantum an Frustrationstoleranz, die man hat, ans Werk machen. Und wenn dieses sehr gering ist, dann ist mit Rückschlägen zu rechnen. Das einzige, was einem darüber hinweghilft, ist – wie bereits im letzten Essay erwähnt – eine hohe Motivation. Ich muss wirklich erkannt haben, dass es ohne Titiksha nicht geht, und dass es an mir ist, etwas dafür zu tun. Diese hohe Motivation wird dem Sucher die Kraft geben, sich Titiksha, Frustrationstoleranz zu erschließen.