Viele westliche Sucher verbringen Jahre ihres Lebens damit, sich ihre Emotionen wieder zu erschließen. In den westlichen Industrienationen gelten authentische Emotionen grundsätzlich als Störfaktor; zusammenhängend damit ist auch die Beziehung zu den eigenen Wurzeln, zur Mutter und Familie häufig gestört. Wer es dann endlich geschafft hat, sich rückzuverbinden mit seiner Gefühlswelt, der schätzt sich glücklich. Das Leben ist bunter geworden, die Höhen höher, die Tiefen tiefer, unsere Reaktion auf die Wechselfälle des Lebens ist direkt, authentisch und lebendig

Gefühle (hier synonym mit Emotionen) können das Leben also enorm bereichern. Probleme entstehen erst, wenn ich mich mit ihnen identifiziere, das heißt, wenn ich davon überzeugt bin, eine Gefühlsregung sei grundlegender Bestandteil meiner selbst, sei nahezu dasselbe wie „ich“. Dann bin ich nicht mehr frei; denn wenn ich meine, dass die Sorge, die Zu- oder Abneigung, das Mitleid oder das Vergnügen, das ich fühle, mehr ist als eine Regung in meinem Gefühlszentrum (gemäß dem Advaita Vedanta entstehen Gefühle im Mind), dann geht etwas Wesentliches verloren: Dem Wort Emotion liegt das lateinische Verb movere (= bewegen) zugrunde; Emotionen sind ihrer Natur nach immer in Bewegung. Deshalb fühlen wir uns lebendiger und im Fluss, wenn wir in Kontakt mit unseren Emotionen sind.

Was aber passiert, wenn man sich mit einer Emotion identifiziert? Das Gefühl wird festgehalten, es ist ja „meins“; es darf sich nicht mehr frei bewegen: auftauchen, abtauchen oder sich wandeln. Mit Identifikation hört mein Leben auf, in Fluss zu sein. Ich stecke fest. Und Feststecken löst meist recht schnell eine Reaktion in Form einer weiteren Emotion aus (mit der ich mich dann höchstwahrscheinlich auch identifiziere).

Betrachten wir das Ganze Schritt für Schritt und zwar am Beispiel einer alltäglichen Angst.

Die Situation
Situation: Ich muss eine Prüfung machen und bin schlecht vorbereitet.
Der Gedanke: Zweifel, ob ich die Prüfung bestehen kann.
Das Gefühl: Angst, bei der Prüfung durchzufallen.
Die Wahrnehmung: Zweifel und Angst.

Identifikation
Identifikation 1: Ich begreife die Angst als grundlegenden Bestandteil meiner Person, sie gehört notwendig zu mir dazu.
Daraus folgt: Die Angst ist berechtigt, wäre sie weg, wäre ich nicht mehr dasselbe Ich.
Um ihre Daseinsberechtigung sicherzustellen, lasse ich sie nicht aus den Augen, ich bin ständig mit ihr beschäftigt. Ich stelle mir mögliche Schreckensszenarien vor, die mir beweisen, wie berechtigt sie ist (Ich könnte den berüchtigten Prüfer X bekommen, mir könnten Fragen zum Thema Y gestellt werden, das ich überhaupt nicht verstanden habe, wahrscheinlich kriege ich wieder keinen Ton raus, wie damals in Z).

Ich gewinne mehr und mehr den Eindruck, dass die Angst mich nicht loslässt.

Reaktion(en)
Nun beginnt  normalerweise eine Kettenreaktion:
Erste Reaktion auf Identifikation 1 (mit der Angst): Ich leide.
Zweite Reaktion auf die erste Reaktion  (Leiden): Identifikation mit dem Leiden („Natürlich leide ich, es muss so sein, wenn man solche Angst hat“).
Dritte Reaktion  auf die zweite Reaktion : Ich lehne das Leiden ab

Jetzt wird es erst richtig kompliziert, denn wenn ich mich mit dieser Ablehnung identifiziere („Leiden ist schlimm und ich muss alles tun, damit ich es loswerde“), dann geraten meine ersten beiden Identifikationen in Gefahr („Ich muss zwangsläufig Angst haben bzw. leiden“).
Die Folge ist ein Amok laufender Mind, der endlos panisch sich selbst jagt.

Je mehr Emotionen beteiligt sind, mit denen ich mich identifiziere, desto mehr Dynamik kommt in das Ganze (Angst, Leiden, Widerstand, heiß, kalt, gelähmt, Herzrasen usw.usw.). Allerdings fühle ich mich keineswegs im Fluss, sondern eher von einem Gefühls-Tsunami vor sich hergetrieben oder gänzlich von ihm verschluckt.

Und was passiert, wenn ich mich nicht identifiziere?
Die Situation bleibt dieselbe (siehe oben).

Wenn ich nicht „zugreife“, mich also nicht identifiziere, dann wird die Emotion das tun, was sie natürlicherweise tut: sich bewegen. Sie kommt, bleibt ein Weilchen, verändert sich oder auch nicht, geht wieder, kommt zurück, wird stärker, wird schwächer usw.

Und ich? Ich bemerke sie, aber da ich nicht mit ihr identifiziert bin, muss ich sie weder ständig im Auge behalten, noch irgendetwas mit ihr anstellen. Sie kann machen, was sie will, denn sie ist nicht „Ich“, kann gar nicht „Ich“ sein, da ich sie ja wahrnehmen kann, sie also Objekt meiner Wahrnehmung ist. Ich bin das Subjekt.

Die oben beschriebene Kettenreaktion bleibt aus und damit auch der emotionale Tsunami.

Sich nicht mit seinen Emotionen zu identifizieren, ist Übungssache. Erschwert wird diese Übung durch eine Befürchtung, die wir uns auf dem Wege der mühsamen Rückverbindung mit unseren Emotionen angeeignet haben: Bloß nicht verdrängen!

Wir halten unsere Fixierung auf emotionale Zustände für natürlich. Dabei ist sie ebenso unnatürlich wie ihr Gegenteil, die Leugnung der eigenen Gefühlswelt. Einige Psychologen sprechen gar von Dissoziation, so dass in uns tatsächlich der Eindruck entstehen kann, Nicht-Identifikation sei eine krankhafte Reaktion. Das ist sie aber nicht. Weder identifiziere ich mich mit den auftauchenden Gefühlen, noch schiebe ich sie weg. Ich lasse sie einfach in Ruhe. Dann lassen sie auch mich in Ruhe – was wohl bemerkt nicht heißt, dass sie verschwinden.

Zugegeben, wenn ein Mensch noch kaum in Kontakt mit seiner Gefühlswelt ist, dann ist er nicht reif für Ent-Identifikation. Wovon soll er sich auch ent-identifizieren, wenn die Gefühle ihm noch gar nicht zugänglich sind. Doch für die anderen Gefühlsgebeutelten ist Ent-Identifikation das Schlüsselwort. Meditation ist übrigens ein wichtiges Instrument, um die Ent-Identifikation zu unterstützen.

Nun gibt es einige Menschen, denen Ent-Identifikation leicht fällt, weil sie wahrhaft erkannt haben, dass sie nicht ihre Gefühle sind. Normalerweise lassen sie Gefühle wie Wellen durch sich hindurch laufen, deshalb hängen ihnen weder positive noch negative Emotionen lange nach und sie befinden sich meistens im Gleichgewicht. Tatsächlich müssen sie sich gar nicht ent-identifizieren, da sie sich ohnehin nicht identifiziert hatten. Aber es kann vorkommen, dass die eine oder andere Gefühlsregung sich als außerordentlich heftig und hartnäckig erweist, selbst wenn man nicht mit ihr identifiziert ist. Es handelt sich um eine besonders gewaltige Welle, die kein Ende zu nehmen scheint. Grundsätzlich ist auch das kein Problem, man identifiziert sich einfach nicht. Aber für diese Menschen – und nur für sie – bietet sich noch eine andere Möglichkeit.

Sie besteht darin, solchen massiven Gefühlen mit geballter Willenskraft entgegenzutreten und ihnen Einhalt zu gebieten. Für jeden einigermaßen psychologisch geschulten Mensch ist das ein absolutes Tabu, etwas, das man auf gar keinen Fall tun darf. Im Normalfall stimmt das. Ich spreche aber nicht vom Normalfall. Ich spreche von den wenigen Menschen, die um ihre wahre Natur wissen. Für jeden anderen bedeutet der Einsatz von Willenskraft gegen die eigenen Gefühle nichts anderes als deren Unterdrückung oder Verdrängung. Für jemanden, der sich selbst erkannt hat, nicht.

Er kann und darf sich scharf und eindeutig von solchen mächtigen Emotionen abgrenzen. Sie sind nichts als uralte Gewohnheiten. Vielleicht gibt es auch therapeutische oder andere Methoden, mit denen man eine Linderung oder echte Veränderung erwirken kann. Doch für diejenigen, die sich selbst erkannt haben, besteht die einfachste und schnellste Lösung darin, derartige emotionale Muster mit Willenskraft rigoros auszuschalten.

Das funktioniert natürlich nur, wenn man bereit ist, sich kompromisslos von dem alten Muster abzuwenden. Sobald sich auch nur die geringste innere Anwandlung in die alte Richtung bemerkbar macht, muss ihr Einhalt geboten werden. Das Schlüsselwort für einen solchen radikalen Paradigmenwechsel heißt „Stopp“.

Das Interessante ist: Es geht! Wenn es nicht funktioniert, obwohl man diese bedingungslose Entschlossenheit in sich verspürt, wenn man sich nicht kraftvoller, mehr in der eigenen Würde und Klarheit fühlt, nachdem man den alten Gefühlsmustern den Krieg erklärt hat, dann ist das ein Zeichen, dass die notwendige Voraussetzung (zur eigenen Natur erwacht zu sein) nicht gegeben ist.

Wie gesagt, ich empfehle diese letzte Maßnahme nur denen, die um ihre eigene wahre Natur wissen und auch ihnen nur, wenn sich ein emotionales Muster als außergewöhnlich mächtig und zäh erweist.