Die Suche nach meinem wahren Selbst besteht in einem Erkenntnisprozess. Eigentlich geht es also nicht um Tun, sondern um Forschen, Nachdenken, Reflektieren usw. Dazu braucht man bestimmte Kriterien, mit deren Hilfe man unterscheidet zwischen dem, was dem Erkenntnisprozess dient und dem, was ihm nicht dient. Und man braucht einen Lehrer, der einem bei der Wahrheitsfindung hilft.

Was aber, wenn einem die entsprechenden Kriterien noch unklar sind und man noch keinen Lehrer gefunden hat?

Es gibt tatsächlich Dinge, die man tun kann. Alle sind dazu da, das Denk-Fühl-Energie-System (die Persönlichkeitsstruktur) soweit zu beruhigen oder zu klären, dass es dem Prozess der Wahrheitsfindung nicht ständig in die Quere kommt. Insofern erfüllen sie eine wichtige Funktion, auch wenn sie uns nicht direkt dabei helfen, die Wahrheit zu finden.

Im letzten Essay war von der Meditation die Rede. Sie ist eins der wichtigsten Instrumente um den Mind des Suchers zur Ruhe zu bringen. Ebenso die Hingabe, Thema des Mai-Essays. Beides schafft im Leben des Suchers einen Raum, der relativ unberührt ist von seinen persönlichen Angelegenheiten und sie dadurch relativiert.

Was bedeutet es, Meditation und/oder Hingabe ins eigene Leben hinein zu nehmen?

Vor allem bedeutet es, dass ich meinem spirituellen Weg konkret Zeit einräume. Von der höchsten Warte aus betrachtet, gibt es keinen Sucher und keine Suche, aber wer diese höchste Warte einnehmen kann, hat ohnehin nicht das Gefühl, dass noch irgendetwas fehlt und er/sie nach Vollständigkeit sucht.

Die Suche nach Vollständigkeit spielt sich nun einmal in Raum und Zeit ab, selbst wenn ihr Ziel darüber hinausreicht. Also braucht die Suche Zeit und Raum und beides muss ich ihr zugestehen.

Übungen und Rituale sind also sinnvoll, sowohl die Wahrheitssuche vorbereitend als auch sie begleitend. Was passt zur Wahrheitssuche? Alles, was mich ruhiger macht, ohne dass es mich einschläfert. Alles, was mich wacher macht, ohne dass es mich aufregt. Alles, was mein Herz öffnet, ohne dass ich in Wünsche und Sehnsüchte abdrifte.

Was für Übungen, welche Rituale?

Jede spirituelle Richtung hat ihre eigenen Rituale, aber für die Sucher des Westens geht es nicht so sehr darum, ein vorgegebenes Ritual richtig auszuführen, sondern darum, überhaupt eins (oder mehrere) ins eigene Leben einzubauen. Solche spirituellen Rituale sind Ausdruck meiner Hingabe an die Wahrheit, sie erfüllen keinen anderen Zweck. Und ich kann mein Ritual genau so gestalten, wie es mir entspricht.

Wie könnte mein Ritual aussehen, damit es mich bei meiner Suche unterstützt?

Vorweg: Ein Ritual ist fester Bestandteil meines Lebens. Ich kann eine Version für den Alltag haben und eine für Sonn- und Feiertage, aber es sollte keinen Tag geben, an dem es vollständig wegfällt. In diesem Sinne ist ein Ritual wie ein Kind oder ein Haustier – man kann es nicht einfach übergehen. Um die Disziplin für eine solche Haltung aufzubringen, muss mir das Ritual gefallen, so wie ich mein Kind oder Haustier liebe. Es wird wahrscheinlich Tage geben, an denen ich lieber etwas anderes machen würde, aber wenn ich mein Ritual mag, werde ich meine Unlust überwinden.

Sinn und Zweck aller spirituellen Übungen liegen wie gesagt darin, mich aufnahmefähiger zu machen, damit ich die Wahrheit erkennen kann. Um aufnahmefähiger zu werden brauche ich vor allem eine Eigenschaft: Gelassenheit.

Gelassenheit ist Ausdruck von Vertrauen – Vertrauen, dass es das, was ich suche, tatsächlich gibt und dass ich es finden kann. Dieses Vertrauen lässt sich nicht produzieren, es wächst im selben Maße, wie ich mich mit Quellen der Wahrheit verbinde – sei es durch das Lesen spiritueller Schriften oder das Anhören spiritueller Vorträge. Teil meines Rituals sollte also das Lesen und Hören dessen sein, was mich über meine persönlichen Angelegenheiten erhebt und mein Vertrauen stärkt. 1

Ich schlage für ein Ritual drei Bestandteile vor: Meditation, Hingabe, Inspiration durch Lesen/Hören.

Als Meditation sollte ich etwas wählen, was zu mir passt. Wer sich gern bewegt, kann eine bewegte Meditation wählen, wer gerne Musik hört, eine mit Musik untermalte, selber singen oder musizieren usw. Wie lange sie dauert, hängt ebenfalls davon ab, was ins eigene Leben passt, aber sie sollte nicht kürzer als 10 Minuten sein.

Dann folgt die Hingabe. Dazu muss ich etwas finden, was in meinem Herzen Liebe und Hingabe weckt und mich gleichzeitig positiv über mein persönliches Leben erhebt. Es kann etwas in der Natur sein (zum Beispiel ein Baum, ein Berg, die Sonne, das Meer), ein Gott, ein Heiliger, ein spiritueller Lehrer, eine Melodie, ein Klang oder auch ein abstraktes Symbol. Was es ist, ist nicht entscheidend, aber ebenso wie die Meditation, die ich wähle, sollte ich es nicht ständig verändern.

Ja, und was mache ich dann mit dem Objekt meiner Hingabe? Ich finde eine Form, wie ich meine Liebe und Hingabe ausdrücken kann, für die Dauer des Rituals ist das Objekt FreundIn, GeliebteR, Gast. Ich kann beten, singen, schweigen, eine Kerze anzünden, es mit Blumen dekorieren, ihm etwas malen – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Die Hauptsache ist, dass die Hingabe mein Herz für etwas Übergeordnetes öffnet. Auch diese Phase sollte mindestens 10 Minuten dauern.

Von der dritten Phase „Inspiration“ war schon die Rede, auch sie sollte mindestens 10 Minuten dauern. Wer sehr wenig Zeit hat, kann sich einen Satz oder Absatz, der ihn berührt und der ihm wichtig erscheint, aufschreiben und mit in den Tag nehmen.

Ein solches Ritual wird mich, wenn es Bestandteil meines Lebens ist, wandeln und ich werde es wahrscheinlich immer tiefer wertschätzen. Es ersetzt die Suche nach der Wahrheit nicht, aber es verleiht ihr Boden.

 

Fußnote:

  1. Falls ich Schriften von Lehrern des Advaita Vedanta lese, stärke ich außer Vertrauen auch noch den Scharfsinn und die Unterscheidungsfähigkeit meines Intellekts – Fähigkeiten, die auf der Suche nach der Wahrheit entscheidend sind.