Advaita Vedanta ist der Weg der Erkenntnis – die Buddhi als höchste Instanz in unserem Gedankenapparat, wird eingesetzt, um zu erkennen, wer oder was ich eigentlich bin. Was aber ist mit der Liebe und der Hingabe? Irgendwie scheint beim bloßen Erkennen etwas zu fehlen.
Das stimmt und stimmt auch wieder nicht.
Alle Wege, auf denen man durch Handeln zur höchsten Wahrheit gelangen will, sind dualistisch, denn ich gehe davon aus, dass ich hier bin und die höchste Wahrheit/höchste Freiheit/Erleuchtung woanders. Dann muss ich handeln, um dorthin zu kommen. Das Angebot ist vielfältig. Ich kann meditieren, beten, affirmieren, Mantren singen, tanzen, Yoga machen, tantrischen Sex haben, auf Pilgerschaft gehen, mich um ein ethisch einwandfreies Leben bemühen, ins Herz atmen usw. usw.
Solche Handlungen können mich wandeln, sie können nach und nach einen besseren, fähigeren, liebevolleren, ausgeglicheneren Menschen aus mir machen. Sie werden mich also mit neuen Eigenschaften versehen und dadurch vielleicht dafür sorgen, dass sich mein Leben verändert. Wenn es das ist, was ich will, dann bin ich mit einem dualistischen Weg gut bedient.
Aber wenn ich frei sein will, d.h. ganz und gar unabhängig von allen Lebensumständen und unbeeinflusst von meinen eigenen Gedanken- und Gefühlsmustern, frei von meiner Ich-Identität, dann reicht es mir nicht, wenn ich meine Ich-Identität bloß verändere. Dann ist ein dualistischer Weg nicht das richtige, denn mit ihm werde ich höchstwahrscheinlich bis in alle Ewigkeit auf dem Weg bleiben, das Ziel ist und bleibt woanders.
Ich kann den spirituellen Weg nur beenden, wenn ich davon ausgehe, dass ich bereits das bin, was ich suche. Das ist es, wovon nicht-dualistische Wege ausgehen. Nur aufgrund dieser Prämisse bin ich in der Lage, die höchste Wahrheit zu erkennen: Das Ziel ist nicht woanders, das Ziel ist etwas, was ich bisher übersehen habe, obwohl es die ganze Zeit da war. Ich muss nur lernen, richtig hinzugucken. Das ist es, worum es den Erkenntnismethoden des Advaita Vedanta geht und deshalb spielt die Buddhi hier eine so entscheidende Rolle.
Die Buddhi kann unterscheiden und lernen. Mit ihr können wir erkennen, was wahr ist und was nicht, was auf dem Weg relevant ist und was nicht. Dadurch sind wir in der Lage, alles Irrelevante auszusortieren, was unsere Sicht auf das Wahre bislang verhindert hat. Was übrig bleibt, ist unser wahres Sein und ein authentisches Erkennen unserer wahren Natur.
Und nun kommt die Hingabe ins Spiel. Ohne die Fähigkeit zur Hingabe sind wir nicht in der Lage, unsere bisherige Ich-Identität loszulassen, sie aufzugeben, hinzugeben, und uns vorbehaltlos in das, was wir als unsere eigentliche Natur erkannt haben, hineinfallen zu lassen.
Diese letzte Hingabe ist kein Tun, sondern das Gegenteil davon. Man kann sie nicht bewerkstelligen. Sie ist ein natürliches Sich-Ergeben (engl. surrender) in das, was ist.
Aber man kann etwas üben, was dieses letzte Sich-Ergeben vorbereitet. Deshalb ist Bhakti notwendiger Bestandteil auch des Vedanta-Wegs. Bhakti bedeutet Hingabe (engl. devotion). Bhakti-Hingabe beginnt dualistisch, doch im selben Maße, wie die Erkenntnis der Wahrheit klarer wird, geht Bhakti über die Dualität hinaus. Denn je mehr ich erkenne, dass das, was ich eigentlich bin, das ist, dem ich mich hingebe, desto durchsichtiger wird das Spiel der Dualität. Dieses Spiel wird gespielt, weil es so schön ist, sich zu öffnen, zu lieben und sich hinzugeben.
Bei vielen, die sich für Advaita interessieren, hat Hingabe einen schlechten Ruf, weil sie zunächst einmal dualistisch ist. Man geht davon aus, dass sie den Sucher in der Dualität festhält. Das kann möglicherweise auch passieren, falls man niemanden hat, der einem den Erkenntnisweg erschließt. Denn zum Advaita Vedanta gehört Hingabe, Bhakti, notwendig dazu, weil es den Sucher über die üblichen Grenzen der Ich-Identität hinaushebt. Diese Ich-Identität wird sich dadurch nicht auflösen, das geschieht nur durch Erkenntnis, doch weil wir uns für etwas Größeres öffnen, nimmt die Identifikation mit dem eigenen Ich ab.
Dieses Größere ist im Advaita Vedanta die Gesamtheit aller natürlichen Gesetze und Ordnungen des Universums und deren nahtloses Ineinandergreifen. Wer sich dem hingeben kann, kämpft nicht mehr mit dem Leben und ihm wird auch allmählich klar, dass das, was er anfänglich als zwei wahrnimmt – ich und das Leben – nicht wirklich zwei sein können. Denn wer ist getrennt vom Leben? Ist es nicht ein Leben, das uns alle durchströmt?
Mich dem Leben hinzugeben, ist wunderschön. Ich überlasse die Zügel etwas Größerem. Dies ist der erste Schritt. Wenn gleichzeitig jedoch nicht am eigenen Verständnis gearbeitet, die Buddhi und ihre Unterscheidungsfähigkeit trainiert werden, dann werde ich nicht erkennen, dass ich dasselbe wie dieses Größere bin: also das Leben selbst.
Doch da auch dies noch nicht die letzte Antwort ist, muss die Erkenntnisarbeit weitergehen. Erst wenn ich weiß, dass ich das bin, was über Leben und Tod hinausgeht, das beides durchzieht und doch unberührt ist von beidem, habe ich mein eigentliches Sein erkannt.
Diese letzte Erkenntnis kommt der absoluten Hingabe gleich.
Wer sich ohne Unterlass
an seine eigene wahre Natur hält,
kann wahrhaft als Bhakta bezeichnet werden.
(Shankaracharya in der Vivekachudamani, 31)
In Ergänzung zum Hingabe-Essay hier ein wunderschönes Gedicht von Friedrich Hebbel:
Die Zeit geht nicht
Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
Wir ziehen durch sie hin;
Sie ist ein’ Karawanserei,
Wir sind die Pilger drin.
Ein Etwas, form- und farbenlos,
Das nur Gestalt gewinnt,
Wo ihr drin auf und nieder taucht
Bis wieder ihr zerrinnt.
Es blitzt ein Tropfen Morgentau
Im Strahl des Sonnenlichts;
Ein Tag kann eine Perle sein
Und ein Jahrhundert nichts.
Es ist ein weißes Pergament,
Die Zeit, und jeder schreibt
Mit seinem roten Blut darauf,
Bis ihn der Strom vertreibt.
An dich, du wunderbare Welt,
Du Schönheit ohne End’
Auch ich schreib meinen Liebesbrief
Auf dieses Pergament.
Froh bin ich, dass ich aufgeblüht
In deinem runden Kranz;
Zum Dank trüb’ ich die Quelle nicht
Und lobe deinen Glanz.
Friedrich Hebbel