Eine kleine Geschichte …

Auf dem Küchenregal einer studentischen Wohngemeinschaft stehen bunt durcheinander alle möglichen Behältnisse – eine große Schachtel mit Teebeuteln, eine Kaffeedose, kleinere Gewürzgläschen, ein hohes Glas für Spaghetti, ein blau-weißes Salzfässchen, ein dickes Müsliglas usw.

Das Müsliglas schielt zum Spaghettiglas hinüber, seufzt und findet sich mal wieder viel zu dick. Nach einer Weile wird ihm jedoch klar, dass das Spaghettiglas viel seltener gebraucht wird als es selbst, was ihm wieder Auftrieb gibt. Dann fällt sein Blick auf die Teeschachtel, die noch viel beliebter ist und obendrein ein exotisches Design hat. Seine Stimmung sinkt. Doch glücklicherweise erinnert es sich daran, dass es eigentlich auf die inneren Werte ankommt; es erkennt, dass es eine Vielfalt zu bieten hat, die alle anderen übertrifft und fühlt sich sofort wieder besser. Aber als es nach dem Frühstück völlig entleert auf das Regal zurückgestellt wird, verfällt das Müsliglas in eine schwere Depression.

 

So geht es demjenigen, der mit seiner Form identifiziert ist und daher auch alle anderen nur als Formen wahrnehmen kann. Selbst innere Werte sind (feinstoffliche) Formen. Jede Identifikation mit Formen führt zu einem ständigen Auf und Ab im Mind.

 

Interessant ist die Geschichte des Salzfässchens. Denn vor einigen Wochen war es einem der Bewohner aus der Hand gerutscht und am Boden in Stücke zersprungen. Das war natürlich ein großer Schock gewesen, hatte ihm jedoch eine tiefe Einsicht beschert. Ihm war mit einem Schlag klar geworden, dass es weder die Form noch sein Inhalt ist. Es war nämlich durch das Zerschellen der Form und den Verlust des Inhalts nicht verschwunden. Als die Steingutwände zerschellten, hatte sich tatsächlich überhaupt nichts verändert! Offensichtlich war es in seiner Essenz „Raum“ – begrenzt durch gar nichts. Der Raum innerhalb der dicken Steingutwände stellte sich als ungetrennt vom umgebenden Raum heraus.

Eine besonders sparsame und bastelfreudige Bewohnerin hatte sich der Scherben angenommen und das Salzfässchen wieder zusammengeklebt. So stand es nun zwischen den anderen – äußerlich ein wenig lädiert, aber innerlich von einer grundlegenden Identifikation befreit. Wenn allerdings wieder einmal ein Bewohner vorschlug, endlich das alte Salzfässchen wegzuwerfen, geriet es doch manchmal in Panik – die dann die eigentliche Einsicht für kurze Zeit überlagerte.

Die Teeschachtel landet nach dem Frühstück entleert im Abfall. Für das Müsliglas ist sie nun verschwunden. Das Salzfässchen weiß, dass nur die Form dran glauben muss. Der Teeschachtel ist es egal. Sie war weder mit der Schachtel, noch mit dem Inhalt identifiziert gewesen. Sie wusste vorher schon, dass sie der von der Schachtelform unberührte Raum ist. Ob die Form bleibt oder geht, macht für sie keinen Unterschied.

 

In dieser Analogie1 stehen die Gefäße und ihr Inhalt für das Körper-Mind-System des Menschen, also Form der Gefäße analog Körper, Inhalt der Gefäße analog Gedanken/Gefühle.

Was wir normalerweise unbeachtet lassen, ist „Raum“. Neben den Elementen Erde, Wasser, Feuer und Luft bildet Raum im Vedanta das 5. und feinste Element. Raum ist das, was überall ist und alles durchzieht (auch die anderen Elemente2). Der Raum innerhalb einer Form, der auch den Inhalt der Form durchzieht, steht in der Geschichte für das wahre Selbst. Dieser Raum ist ungetrennt vom Raum an sich – also dem Raum sowohl innerhalb als auch außerhalb.

Der Raum um ein Gefäß herum ist nicht verschieden vom Raum in einem Gefäß. Zerbricht das Gefäß, ereignet sich keine Interaktion zwischen „dem einen“ und „dem anderen“ Raum; es gibt keinen Verschmelzungsvorgang oder ähnliches. „Raum“ an sich ist eins und, da es keinen zweiten Raum gibt, ist er ein Einziges.

 

Diese Analogie veranschaulicht zweierlei: zum einen, wieso der Mensch sich als getrennt empfindet, zum zweiten, dass das Selbst identisch ist mit dem Ganzen.

Der Mensch empfindet sich als getrennt von allem anderen, weil er sich mit seiner Form (dem Körper und den mentalen/emotionalen Inhalten seines Minds) identifiziert. Von der Form-Identität aus erlebt der Mensch sich und die Welt als zweierlei, also dual. Erst wenn er erkennt, dass er das ist, was Körper/Mind durchzieht und formlos ist, hat er die Chance, sich und die Welt als identisch zu erkennen, also als nicht-dual. Das formlose, alles durchdringende wahre Selbst (Atman) ist dasselbe wie das Selbst des Ganzen (Brahman3).

 

Ayam atma brahma so heißt es in der Mandukya Upanishade: Atman und Brahman sind dasselbe.

 

Das Verhältnis von dem Raum in einem Gefäß und dem Raum an sich eignet sich, um aufzuzeigen, wie Atman und Brahman zueinander in Beziehung stehen (nämlich in keiner Beziehung, da sie dasselbe sind). Es ist jedoch wichtig, eine Analogie nicht wörtlich zu nehmen, denn jede Analogie hat ihre Grenzen.

Tatsächlich ist Atman/Brahman nicht dasselbe wie Raum. Auch ein so feinstoffliches Element wie Raum gehört in den Bereich materieller Phänomene. Brahman dagegen ist überhaupt nicht materiell. Es durchzieht alle materiellen Phänomene.

Nicht der Raum durchzieht Brahman, sondern Brahman durchzieht Raum.

Fußnoten:

  1. Eine Analogie ist ein Gleichnis, das etwas veranschaulichen soll.
  2. So gibt es zwar einen luftleeren Raum, aber es gibt keinen raumleeren Raum. Raum ist immer da.
  3. Brahman darf man nicht verwechseln mit dem Schöpfergott Brahma des Hinduismus.