In unserer säkularen Gesellschaft ist Altern eine Katastrophe, besonders – aber nicht nur – für Frauen. Demzufolge ist hierzulande auch niemand alt. Alle sind jung geblieben, vielleicht schon etwas älter oder im Seniorenalter, aber auf keinen Fall alt. In diesem Essay geht es darum, zu bestimmen, woran das liegt und wie der Wahrheitssucher auf das Thema schauen kann, um davon in seiner Suche zu profitieren.
Zunächst einmal lohnt es sich zu untersuchen, was Altern eigentlich ist.
Was altert? Wie wir alle wissen altert der Körper. Die Substanz wird weniger, Sinneswahrnehmungen verändern sich, die Energie nimmt ab, die Reaktionsgeschwindigkeit wird länger usw. Der Mind altert ebenfalls, das Gedächtnis lässt nach, demzufolge verringert sich die Lernfähigkeit, das Interesse an der Außenwelt wird geringer usw. Bei den einen setzen diese Vorgänge früher ein, bei den anderen später, aber irgendwann erwischt es jeden.
„Nun ja“, kann man da sagen „so ist es eben. Damit muss man sich abfinden.“ Stimmt. Aber wer ist dazu wirklich in der Lage? Wer hat wirklich kein Problem damit, wenn Haare oder Zähne ausfallen, die Seh- oder Hörfähigkeit schwindet oder man immer weniger Programmpunkte in seinem Tag unterbringt?
Viele behaupten, vor dem Sterben selbst keine Angst zu haben, wohl aber vor Altersschwäche und Krankheit. Letztlich macht es jedoch keinen Unterschied: Die Ursache für beide Ängste ist das Empfinden, wenn Körper oder Geist sich verändern, dann verändere ich mich. Wenn Körper oder Geist weniger werden, dann werde ich weniger. Wenn Körper oder Geist erkranken, dann erkranke ich. Und wenn Körper oder Geist sterben, dann sterbe ich.
Die Identifikation mit Körper und Geist lässt sich nicht so einfach aushebeln. Theoretisch mag mir klar sein, dass ich nicht der Körper bin. Aber ist es mir auch klar, wenn ich – eingeklemmt hinter dem Steuer meines Wagens – sehe, dass der Tankwagen vor mir in Flammen aufgeht? Dass ich nicht der Mind bin, entgleitet mir noch viel schneller. Wem ist schon ständig klar, dass seine Gedanken und Gefühle nur Wellen im unendlichen Ozean des „Ich bin“ sind?
Was also tun? Wenn man bereit ist, über die bisherige Identität hinauszublicken, ist das schon viel wert; man beginnt das eigene Selbstbild zu hinterfragen. Das ist zunächst noch sehr theoretisch. Doch immerhin wird immer klarer, dass es das wahre Selbst gibt und dass man es erkennen kann. Manche haben es sogar schon entdeckt; da ihre Erkenntnis jedoch im säkularen Denken des Westens keinen Platz findet, benötigen sie Unterstützung und Bestätigung von denen, die genauer darüber Bescheid wissen. Zum einen geht es also darum, sich um die Erkenntnis des wahren Selbst zu kümmern – was die Leser dieser Essays bereits tun, sonst würden sie sich gar nicht die Zeit zum Lesen nehmen. Und wer Glück hat, hat einen Lehrer oder eine Lehrerin gefunden, dem sie vertrauen bzw. die sie auf ihrer Suche begleitet.
Was ihr für das „Ich“ im „Ich bin“ haltet, ist nicht das, was ihr seid. Zu wissen, dass ihr seid, ist natürlich. Zu wissen, was ihr seid, ist das Ergebnis eingehender Untersuchungen. Ihr müsst das ganze Spektrum dessen, worüber man sich bewusst sein kann, erforschen und darüber hinausgehen.
Nisargadatta Maharaj
Zum zweiten geht es darum, das bisherige Weltbild zu hinterfragen. Warum? Die säkulare Denkweise bedeutet: Mit der Geburt des Körpers fängt man an, da zu sein. Mit dem Tod geht man wieder. Und in der Zwischenzeit dreht sich alles darum, so viele positive Erfahrungen wie irgend möglich herbeizuführen – ob sie nun materieller, emotionaler, mentaler oder spiritueller Natur sind. Das ist das, was fast alle Menschen „Leben“ nennen. Nichts weist über Geburt, Tod und Erfahrungen hinaus.
Nun, geboren ist man bereits, sterben liegt irgendwo da vorne – doch wenn man irgendwann merkt, dass man den Erfahrungen immer weniger abgewinnen kann, die ja immerhin wesentlicher Bestandteil des „Dazwischen“ sind, dann fällt man in ein Loch – insbesondere, wenn es sich um die Erfahrungen handelt, die man selbst lange als erstrebenswert angesehen hat.
In Indien gibt es seit Tausenden von Jahren das so genannte Ashrama-System. Ashramas sind die vier Lebensphasen, die für den Menschen als natürlich angesehen werden. Auch wenn es sich nicht Eins zu Eins auf unser westliches Leben übertragen lässt, kann dieses Modell uns von vielen belastenden Ansprüchen hinsichtlich des Alterungsprozesses befreien. Denn dem Ashrama-Modell liegt ein völlig anderes Lebensverständnis zugrunde als das oben Beschriebene.
Man kann es etwa so umreißen: Das, was das Wesen des Menschen ausmacht, ist ewig, es kommt nicht und geht nicht. Man nennt es Atman. Die Geburt des Körpers ändert daran ebenso wenig wie sein Tod. Da der Mensch jedoch unwissend geboren wird, erkennt er sich nicht als das Atman, sondern hält sich für ein Körper-Geist-System, das einen Anfang und ein Ende hat und Erfahrungen macht. Das Ashrama-Modell ist allein darauf ausgelegt, das menschliche Leben zu nutzen, um sich von dieser falschen Identität zu befreien und sich selbst als das Atman zu erkennen, das man wirklich ist.
„Sich grundsätzlich nach Erleuchtung zu sehnen, ist nur der Anfang; die richtigen Mittel zu finden und sie anzuwenden, ist der nächste Schritt. Der Sucher hat nur ein Ziel vor Augen: sein wahres Sein zu finden.“
Nisargadatta Maharaj
Das erste Ashrama heißt Brahmacharya, es ist das Stadium von Kindheit und Jugend. In dieser Zeit werden die Grundlagen dafür gelegt, dass der Mensch das Potential der späteren Stadien optimal ausschöpfen kann. Das bedeutet, jetzt geht es darum, mentale und emotionale Intelligenz und Werte zu entwickeln, die einem später zugute kommen werden.
Das zweite Ashrama heißt Grihasta, es ist das Stadium, in dem man seinen Beitrag zur menschlichen Gesellschaft leistet – durch Arbeit, Familiengründung und dadurch, dass man diejenigen unterstützt, die sich in den anderen Ashramas befinden. Denn allein im Grihasta-Stadium wird Geld verdient.
Das dritte Ashrama heißt Vanaprastha, es ist das Stadium ab ca. 50, in dem der Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben beginnt. Man widmet sich mehr und mehr dem spirituellen Leben.
Das vierte Ashrama heißt Sannyasa. In diesem Stadium werden Eigentum und jegliche Ambitionen aufgegeben – außer einer: Ab jetzt geht es nur noch um das Streben nach der letzten Erkenntnis, der Erleuchtung.
In Indien ist die Ausrichtung an diesem Modell weiterhin lebendig. Was sie bewirkt, ist, dass zu keinem Zeitpunkt des Lebens das Gefühl entsteht, es seien nun alle Karten ausgereizt und man würde anderen nur noch zur Last fallen. Im Gegenteil, tatsächlich geht es zunehmend um das, was wesentlich ist. Da zudem die Identifikation mit dem Körper ohnehin als überwindenswert angesehen wird, werden auch die körperlichen Beeinträchtigungen im Alter nicht so schwer genommen wie hier.
Außerdem ist jedes dieser Stadien nicht nur für einen selbst sinnvoll, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes. Die Grihastas sind unter anderem deshalb aufgerufen, die letzten beiden Stadien möglich zu machen, weil sowohl die Vanaprasthas als auch die Sannyasis 1 als elementar wichtige Mitglieder einer funktionierenden Gesellschaft betrachtet werden. Eine Gesellschaft, die auf ihre mehr und mehr aufs Spirituelle ausgerichteten Mitglieder verzichten muss, gilt als dekadent und minderwertig.
Immer wieder kommen Menschen jenseits der 50 zu mir und klagen, dass sie bestimmten Aktivitäten immer weniger abgewinnen können. Dass andere sie schief ansehen, weil sie nicht in das Idealbild der westlichen Seniorengesellschaft hineinpassen. Weder wollen sie am nächsten Marathonlauf teilnehmen, noch ihre Kreativität ausleben, weder wollen sie auf lauten Partys die Nächte durchtanzen, noch den hundertundzwölften therapeutischen Prozess mitmachen, ja sogar die erträumte Weltreise erscheint nicht mehr so verlockend wie noch vor 10 Jahren. Diese Menschen haben oft das Gefühl, depressiv zu sein, weil sie nichts mehr zieht, nichts mehr drängt.
Bei näherem Hinsehen, stellt sich jedoch heraus, dass sie nur nicht erkennen können, was drängt und zieht. Denn das, was jetzt drängt und wohin es sie jetzt zieht, unterscheidet sich von dem, was in der ersten Lebenshälfte gedrängt und gezogen hat. Auf dem Hintergrund des Ashrama-Modells wird sofort klar, worum es geht: sich endlich den grundlegenden Fragen menschlichen Seins zu widmen. Besonders für diejenigen, die bereits in jungen Jahren auf einem spirituellen Weg waren, ist es oft schwierig zu begreifen, dass sich das, worum es jetzt geht, noch einmal grundlegend von der Spiritualität der ersten Lebenshälfte unterscheidet. Diejenigen, bei denen es sich nicht unterscheidet, haben jetzt keine Krise.
„Die Vorstellung von Erleuchtung ist ungeheuer wichtig. Allein darum zu wissen, dass es diese Möglichkeit gibt, verändert die eigene Perspektive vollständig. Dieses Wissen wirkt wie ein Streichholz in einem Haufen Sägemehl. Ein Funken der Wahrheit kann einen ganzen Berg von Lügen verbrennen. Einfach nur davon zu hören, ist bereits das Versprechen der Erleuchtung.“
Nisargadatta Maharaj
Jenseits der 50 geht es darum, die eigene Aufmerksamkeit mehr und mehr abzuziehen von allem, was vergänglich ist und hinzulenken zu dem, was bleibt. Im Laufe des Vanaprastha darf man sich von den eigenen Ambitionen verabschieden. Wer bisher ein erfolgreiches Leben hatte, wird jetzt ebenso umdenken, wie der, der seine Träume nicht verwirklichen konnte – und in irgendeinem Bereich des Lebens wird das immer der Fall sein. Bezogen auf unser irdisches Dasein bleibt stets etwas unerfüllt. Ab 50 suchen wir mehr und mehr nach dem, was jenseits von Geburt und Tod Bestand hat.
Natürlich gibt es Menschen, deren Karriere in der zweiten Lebenshälfte noch einmal nach oben schießt, aber sie gehören wahrscheinlich nicht zu den Lesern dieser Essays und nicht zu denen, mit denen ich normalerweise spreche. Das liegt nicht an mangelnden Fähigkeiten, sondern an den Prioritäten. Wenn mein einziges und höchstes Ziel meine Karriere ist, dann werde ich Karriere machen. Wenn mir meine Beziehung wichtiger ist als die Karriere, ist es weniger wahrscheinlich, dass ich Karriere mache – ebenso, wenn ich mich verstärkt aufs Spirituelle ausrichte. 2 Genau aus diesem Grunde gibt es ja das Ashrama-Modell; man kann einfach nicht alles gleichzeitig tun.
Diejenigen, deren Wahrheitssuche nun eine immer höhere Priorität gewinnt, müssen lediglich damit zurechtkommen, dass sie sich von den Vorstellungen der lebenshungrigen westlichen Gesellschaft unterscheiden. Die meisten sind erleichtert, wenn sie hören, dass das, was sie als abwegig und trübsinnig klassifiziert hatten, in einem anderen Kontext als natürlich und wünschenswert gilt.
Nach der ersten Erleichterung melden sich dann erneut Zweifel: Das ist doch Resignation! Die fünf alten Mütterlein, die im riesigen Kirchenschiff einsam der heiligen Messe beiwohnen – Hilfe! Lieber doch noch einmal einen Tanz-Workshop buchen, eine neue Ausbildung machen, die große Liebe suchen, sich im Fitnesscenter anmelden. Gegen all das lässt sich nichts einwenden. Es wird nur das Gefühl nicht vertreiben, dass etwas Grundlegendes fehlt. Sich dieser Realität zu stellen, ist tatsächlich das genaue Gegenteil von Flucht.
Das Grundlegende, das fehlt, ist die Erkenntnis dessen, was ich tatsächlich bin – das eine, ewige, grenzenlose Bewusstsein, das alles umfasst und alles durchzieht, das Atman. Was gewinne ich, wenn ich weiß, dass ich dies bin? Vollständigkeit, absolute Fülle – nichts fehlt mehr, unter keinen Umständen, in keiner Phase des Lebens und auch im Tod nicht.
Was es in unserer Gesellschaft oft schwierig macht, ist, dass die spirituelle Suche weder wertgeschätzt noch unterstützt wird – schon gar nicht finanziell. Das bedeutet, dass sich für alle, die sich in ihrem Grihasta-Leben keine Rentenansprüche und kein Vermögen erworben haben, das Grihasta weit ins Vanaprastha hineinragt. Doch damit müssen wir leben, es lässt sich nicht ändern. Dennoch können wir zu einer gelasseneren Haltung finden, indem wir zwar dafür sorgen, dass wir unseren finanziellen Verpflichtungen nachkommen können, aber ansonsten darauf vertrauen, dass wir uns in die richtige Richtung bewegen, wenn wir unseren wahren Bedürfnissen nachgehen.
Wer lieber Spazieren geht als ins Kino, wer lieber ein spirituelles Buch liest als zu shoppen, wer lieber meditiert als in Facebook zu chatten – kurz, wer sich lieber ein wenig zurückzieht, der wird einem natürlichen Impuls gerecht. Sich ohne schlechtes Gewissen ins Vanaprastha hineinzubegeben – ohne das Gefühl, depressiv, geistlos, phantasielos, unproduktiv und langweilig zu sein – bedeutet eine große Erleichterung für jeden Wahrheitssucher.
Wer allerdings nicht nach der Wahrheit sucht, den wird das Vanaprastha nicht tragen; es ist wie gesagt dazu da, Raum zu schaffen für die wesentlichen Fragen des Lebens. Nur wenn sie auf unserer Prioritätenliste stetig nach oben rücken, werden wir in diesem Stadium ein Gefühl von Sinn und tiefer Befriedigung erfahren.
„Für die Erleuchtung braucht man ein geordnetes und ruhiges Leben, einen besonnenen Mind und enormen Einsatz.“
Nisargadatta Maharaj
zuletzt editiert am 20.10.2018
- Obwohl Sannyasis nicht mehr Teil der gesellschaftlichen Ordnung sind, weil sie keine gesellschaftlichen Pflichten mehr zu erfüllen haben, gehören sie in einem übergeordneten Sinne notwendig dazu.
- Warum in Managerkreisen Spiritualität – meist in Form von Meditationspraxis – für karrierefördernd gehalten wird, liegt an einem anderen Verständnis des Begriffs „Spiritualität“, siehe > Spiritualität