Seit August habe ich in den Essays den Weg der Erkenntnis näher definiert, und in den letzten zwei Essays ging es darum, was man mitbringen sollte, um diesen Weg zu gehen. Dazu könnte man noch einiges mehr sagen, aber ich möchte heute lieber etwas zum Entdecken der Erkenntnisarbeit schreiben.
Wer die zuvor genannten Voraussetzungen mitbringt, der hat große Chancen über den Erkenntnisweg zu stolpern. Denn das Leben antwortet gerne mit dem Angebot, das der eigenen Entwicklung entspricht.
Diese Essays gefunden zu haben, ist so ein Angebot. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass die Essays für sich genommen einem Moksha bescheren. Im Vergleich zum Advaita Vedanta, auf das sie sich gründen, sind sie viel zu unsystematisch. Sie geben Denkanstöße, sie laden ein. Das ist wertvoll, aber noch nicht nachhaltig.
Was ist dann nachhaltig? Der Weg der Erkenntnis ist ein durch und durch systematischer Weg. Alles baut intelligent aufeinander auf. Und da es sich um einen Aufbau handelt, braucht man Vertrauen, um sich darauf einzulassen. Denn am Anfang wird man nicht in der Lage sein zu überblicken, wie das Ganze sich entfalten wird. Es ist vergleichbar mit einem Hausbau: Zuerst einmal wird ein großes Loch gebuddelt. Hätten wir kein Allgemeinwissen über Häuser und Hausbau, dann wären wir sehr skeptisch, wenn uns jemand erzählt, hier werde in einiger Zeit ein Haus, ja vielleicht sogar ein Palast stehen.
Die Erkenntnis darüber zu erlangen, dass ich das Eine, Einzige bin, was es gibt, ist leider kein so einfaches Projekt wie ein Hausbau. Und da sich außerdem nur sehr wenige Menschen für diese Erkenntnis interessieren, gibt es auch kein Allgemeinwissen darüber, wie dieser Prozess abläuft, nach dem Motto: Ah, bei Oskar entsteht gerade die höchste Erkenntnis. Er will nämlich Moksha, und seit er sich aktiv um die Erkenntnis bemüht, wird seine Buddhi täglich schärfer und feiner!
Obendrein ist das, was wir erkennen wollen, anders als alles, was man sonst so auf dieser Welt erkennen kann. Denn alles andere ist Objekt, während das, was wir erkennen wollen, wir selbst sind. Also Subjekt. Ohne Fachwissen haben wir da wenig Chancen.
In diesem Sinne ist Vedanta ein geheimes Projekt. Nur jemand, der sich wirklich gut mit dem Erkenntnisweg auskennt, ist in der Lage, dem Bauplan zu folgen, so dass am Ende wirklich der Palast dort steht und kein Trümmerhaufen. Dieser Jemand ist im Vedanta der Lehrer. Er selbst hat seinen Palast schon. Wer hat ihm geholfen? Sein Lehrer. Und dem hat wiederum sein Lehrer geholfen usw. usw. Ohne einen Lehrer geht es im Vedanta nicht.
Wofür steht der Palast?
Für das wahre Selbst, das man erkennen will?
Nein!
Natürlich nicht, denn das wahre Selbst ist schon da und schon immer da gewesen. Es muss nicht aufgebaut werden. Was noch nicht da ist und auch noch nie da war, ist die Erkenntnis darüber – nämlich dass das, was du bist, etwas anderes ist als das, wofür du dich hältst. Und am Ende: dass Du das Einzige bist, was es gibt. Das ist die Erkenntnis der Nicht-Dualität.
Der Vedanta-Lehrer kann dem Schüler also helfen, seinen Palast zu erbauen, d.h. diese Erkenntnis zu erlangen. Er weiß einfach, wie es geht. Und der Schüler vertraut darauf, dass er es weiß. Selbst, wenn er sich nicht vorstellen kann, aus welchem Grund etwas gelernt oder verstanden werden muss – er geht einfach mit.
Im Vedanta wird es übrigens nicht passieren, dass der Wahrheitssucher irgendwelche merkwürdigen Dinge machen muss. Das einzige, was er braucht, ist einen offenen Mind, der bereit ist, sich auf neue Sichtweisen einzulassen und sie mit dem Lehrer zusammen zu erforschen.
Neulich sagte ein Schüler zu mir: Ich hätte nie im Leben gedacht, dass der Einsatz des Intellekts im spirituellen Bereich einen derart wandelnden Einfluss haben würde – sogar im emotionalen Bereich.
Das stimmt: Man kann sich das nicht vorstellen. Und schon gar nicht kann man sich vorstellen, wie die höchste Erkenntnis dadurch zustande kommen soll. Nur wer viel Vertrauen und eine Menge Engagement mitbringt, geht diesen Weg trotzdem. Und kommt ans Ziel.
Dennoch fordert es einem viel ab, nachdem man sein Leben lang alles Mögliche versucht hat, sozusagen noch einmal von vorne anzufangen. Vieles, was man bisher gemacht und gedacht hat, wird sich irgendwann als wertvoll herausstellen. Aber am Anfang dieses Weges muss man bereit sein für einen geistigen Neustart.
Wenn einen die bisherigen Sichtweisen nicht ans Ziel gebracht haben, dann lohnt es sich, diese zu hinterfragen. Was einen daran hindert, sie in Frage zu stellen, ist fast immer Bequemlichkeit. Aber wenn jemand wirklich Moksha will und wirklich verstanden hat, dass das, was er dazu braucht, eine Erkenntnis ist, dann wird er aufhorchen, sobald er einen Ansatz entdeckt, der neue Türen in seinem Verständnis öffnet. Und wird sich dahinterklemmen, um diesem Verständnis auf die Spur zu kommen.
Diejenigen, bei denen das nicht geschieht, müssen sich eingestehen, dass sie im Moment keine Wahrheitssucher sind. Das ist in gewisser Weise schade, aber die Sehnsucht nach der höchsten Wahrheit lässt sich nicht erzwingen. Wer sie hat, ist gesegnet. Wer sie nicht hat, sie aber – aus welchem Grund auch immer – gerne hätte, kann darum beten. Doch die meisten, die diese Sehnsucht nicht haben, werden sie auch nicht ersehnen.
Wenn du dieses Essay bis hierher gelesen hast und vielleicht auch schon einige der anderen, dann bist du ein Wahrheitssucher. Ich lade ich dich ein, dich aus deinem bequemen Sitz zu erheben und dich dem Gesamtpaket Vedanta und seiner ausgefeilten Methodik zu stellen. Was immer das für dich bedeuten mag, ich ermutige dich, weiter zu gehen – denn nur dann kann die Methode ihre volle Wirksamkeit entfalten und dir helfen, vom Wahrheitssucher zur Wahrheitsfinder zu werden.[1]
Fußnote:
[1] Wenn du nicht weißt, welche Möglichkeiten du hast, um das Gesamtpaket Vedanta zu erforschen, kann ich dir gerne ein paar Tipps geben. (Sie hängen ab von deiner persönlichen Situation, daher gibt es dazu kaum etwas auf dieser Webseite.)