Wenn man es geschafft hat, das „Ich will unbedingt“ (raga) und das „Ich will auf keinen Fall“ (dvesha) einigermaßen zu managen, statt sich davon managen zu lassen, dann verfügt man über einen geklärten Mind. Nun ist es leicht, diesen geklärten Mind auf etwas auszurichten, das man selbst bestimmt – statt sich von raga/dvesha  durchs Leben schleifen zu lassen.

Um die Klärung ging es im letzten Essay, jetzt ist also die Ausrichtung dran. Prioritätenbestimmung nennt man das, und es gibt dazu einige Essays.1

Interessant ist, dass Meditation im Vedanta erst nach der Klärung des Minds als aussichtsreich betrachtet wird. Die meisten Leser dieser Essay werden schon meditiert haben und einige seit vielen Jahren. Wer ohnehin bereits mit einem geklärten Mind gesegnet ist, wird die Erfahrung machen, dass ihm Meditation viel bringt. Die anderen jedoch erhalten durch Meditation bestenfalls eine kurze Erholungspause von ihrem emotionsgesteuerten Mind – was ganz nett ist, aber für die Wahrheitssuche nicht ausreicht.

Sie brauchen also erst einmal das, was im letzten Essay beschrieben wurde, bevor es in Richtung Wahrheitssuche weitergehen kann, ein paar Tipps siehe unten2.

Die mit dem geklärten Mind können jetzt also losmeditieren, denn Meditation gilt als nützliches Instrument, um einen klar ausgerichteten Mind zu entwickeln. Zuerst brauchen wir jedoch eine genaue Definition davon, was in diesem Zusammenhang mit Meditation gemeint ist. Und vor allem, was nicht damit gemeint ist:

  • Es geht nicht darum, durchs Meditieren außergewöhnliche Erfahrungen zu machen. Warum nicht? Erfahrungen kommen und gehen, egal, wie außergewöhnlich sie sein mögen. Wir suchen das, was nie kommt, nie geht, weil es immer schon da war, und wir seine Relevanz bisher nur übersehen haben.
  • Es geht nicht darum, durchs Meditieren die Selbsterkenntnis zu erlangen: Moksha. Warum nicht? Meditation ist eine Übung, die den Mind vorbereitet auf den Erkenntnisprozess. Und erst dieser Erkenntnisprozess ermöglicht das Erlangen der Selbsterkenntnis, Moksha.
  • Es geht nicht darum, durchs Meditieren Gedankenleere zu erlangen. Warum nicht? Weil Gedankenleere, falls sie überhaupt erlangt wird, stets wieder vergeht. Das heißt, sie leidet unter demselben Defizit wie Punkt 1, die außergewöhnlichen Erfahrungen.

Gedankenleere

Der Mythos um die Gedankenleere hält sich hartnäckig und wird in vielen spirituellen Richtungen hochgehalten. Im Vedanta nicht.

Zum einen ist im Vedanta klar, dass der Mind das Instrument auf dem Weg der Erkenntnis ist. Welchen Sinn sollte es haben, so etwas wie Gedankenleere anzustreben? Jeder Mensch erlebt jede Nacht im traumlosen Tiefschlaf Gedankenleere: ein sehr angenehmer Zustand, und es ist wissenschaftlich erwiesen, dass diese Phasen von Gedankenleere für einen gesunden Mind äußerst wichtig sind. Aber die Erkenntnis des wahren Selbst haben sie noch niemandem beschert.

Die Erkenntnis des wahren Selbst braucht einen einsatzfähigen Mind, keinen leeren. Die Meditationsmethoden des Vedanta sind dazu da, diese Einsatzfähigkeit herzustellen – nicht mehr und nicht weniger. Gedankenleere herzustellen, würde bedeuten, dem Mind seiner Einsatzfähigkeit zu berauben – das genaue Gegenteil von dem, was Vedanta will.

Das, was viele unter Meditation verstehen – ich sitze da, werde immer stiller, und am Ende geht es mir besser als vorher – ist zwar eine gute Übung, aber sie ist nicht genug, um den Mind für das Erlangen der Selbsterkenntnis fit zu machen.

Wie muss der Mind sein, um das wahre Selbst erkennen zu können?

Im letzten Essay hieß es: geklärt.

Okay – und was muss er noch haben?

1. Entspannung

2. Weite

3. Fokus

4. Selbstachtung

Da Vedanta kein Problem mit Gedanken hat, werden Gedanken in den Meditationen gezielt eingesetzt: Unnütze Gedankenformen werden durch solche ersetzt, die dem Wahrheitssucher dienlich sind.

1. Bilder, Vorstellungen, Mantras, Musik, die Natur, das Göttliche, insbesondere der eigene Lieblingsgott oder Guru, all dies wird herangezogen, um den Mind in einen entspannten Zustand zu versetzen.

2. Um das Gefühl der Begrenztheit zu verringern, kann man Weite visualisieren: das Meer, der Himmel, der Blick von einem hohen Berg, das Weltall. Obendrein verliert dadurch die eigene Vorstellung eines von allem getrennten Ichs an Gewicht.

3. Ein weiter, entspannter Mind verliert jedoch an Präzision und Dynamik. Deshalb  gibt es ergänzend die Fokussierungsmeditationen. Diejenigen, die davon ausgehen, dass der Mind nur immer weiter und weiter werden müsse und dann von selbst irgendwann in die Einheit des Ganzen hinein explodieren würde, betrachten die Verknüpfung von Konzentration und Meditation mit Geringschätzung. Vedanta sieht das anders.

Ein zur Selbsterkenntnis brauchbarer Mind benötigt neben der grundlegenden Klärung alle vier oben genannten Qualitäten – zumindest einen gewissen Prozentsatz davon. Zur Konzentrationsfähigkeit gehört die Fähigkeit, sich eindeutig auf etwas auszurichten, plus die Fähigkeit, diese Ausrichtung eine Zeitlang beizubehalten. Für den Wahrheitssucher sollte der Fokus auf etwas spirituell Wertvollem liegen, etwas Erhebendem. Wer gerne ein bestimmtes Mantra chanted oder ein bestimmtes Ritual ausführt (z.B. den Sonnengruß oder die Fünf Tibeter) oder ein Lied singt, der kann das auch mental tun – was wesentlich mehr Konzentration erfordert. Man kann auch ein schönes Bild visualisieren oder den eigenen Lieblingsgott oder einen hoch geachteten Weisen. All dies fördert die Fähigkeit, sich zu fokussieren.

4. Und wie stellt man Selbstachtung her? Die meisten Menschen haben die Neigung, ihre eigenen Mängel zu überschätzen – besonders die spirituellen Sucher. Das untergräbt ihre Selbstachtung. Deshalb kann man diesen eingeübten negativen Fokus nach und nach in einen Fokus umwandeln, der die eigene Selbstachtung stärkt. Das heißt, man nimmt etwas, das man ganz besonders wertschätzt, von dem man aber meint, es nicht zu haben: Geduld, Großzügigkeit, Lebensfreude, Bescheidenheit, Optimismus, Toleranz, Kooperationsfähigkeit, Genauigkeit, Hilfsbereitschaft, Entschlossenheit, Mut – es kann alles sein, sofern es für die Wahrheitssuche relevant ist.

Man wählt einen dieser Werte aus und macht sich Gedanken darüber, was dieser Wert für einen bedeutet. Nicht 1 oder 2 Minuten, sondern einige Tage lang. Dann ist man bereit für die Meditation. Man setzt sich hin, bedenkt noch einmal den betreffenden Wert und stellt sich dann vor, man sei damit ausgestattet: Wie wäre das Lebensgefühl, wie die Beziehungen, wie der Alltag, wie der spirituelle Weg? Diese, wie auch die obigen Meditationen, sollten täglich 15 – 30 Minuten lang geübt werden. Manchmal hilft es, sich die Antworten auf die genannten Fragen aufzuschreiben. Wichtig ist es, täglich Zeit und Energie dahinein zu investieren, sich vorzustellen, wie es mit dieser Eigenschaft wäre. Allein das, verändert die innere Ausrichtung.

Am Ende gibt man sich eine Autosuggestion: „Ich bin ein geduldiger Mensch“ oder „ich achte gerne auf Details“ oder „ich kann andere so lassen, wie sie sind“. Diese Autosuggestion ist wichtig. Man muss sich dies nicht ständig einreden, aber wenn man sich für diese Meditation entschieden hat, dann schließt man sie immer mit dieser Autosuggestion ab.

Wie viele wissen, ist unser Mind nicht wirklich in der Lage, zwischen einer Vorstellung und der Realität zu unterscheiden. Deshalb erfüllen diese Übungen durchaus ihren Zweck – auch wenn manch einer denken mag, sie seien allzu einfach. Das sind sie nämlich nicht, wie alle bestätigen werden, die sie in ihr Leben integrieren. Sie brauchen Disziplin und Durchhaltevermögen. Und dann wirken sie auch. Erst wenn die Wirkung deutlich spürbar ist, sollte man sich eine andere dieser Meditationen vornehmen.

Meditation ist also im Vedanta nur mehr ein Werkzeug. Sie verliert dadurch viel von dem Flair, das ihr normalerweise anhaftet. Wer sich trotzdem darauf einlässt, wird die Erfahrung machen, dass ihre Nützlichkeit nichts mit dem Flair zu tun hat. Tatsächlich untergräbt das mystisch-verklärte Flair eher den Nutzen, den sie haben könnte, wenn man sie einfach konsequent ausübt und ihre Tauglichkeit daran misst, welchen Effekt sie auf den Mind hat.

Die Rede ist hier übrigens von Upasana oder Dhyana, und nicht von Nididhyasana. Über den Unterschied zwischen beiden habe ich im Juni 2011 ein kurzes Essay geschrieben.

Anmerkung:

In den Upanishaden wird eine systematische Meditationstechnik beschrieben, die die eigenen Grenzen weiter und weiter steckt – und zwar durch Erkenntnis, nicht durch Phantasiebilder. Das hat den Vorteil, dass es durch das Erweitern nicht zu einem Verlust an Fokus kommt. Dieses Erkennen ist übrigens Grundlage des Seminars in Parin: Eins mit allem – das Grenzenlose entdecken.

Fußnoten:

  1. Essays 1-2015 Wo stehe ich?, 6-2014 Prioritäten
  2. Essays 8-2013 Frustrationstoleranz, 3-2015 Wünsche  (mit vielen Verweisen auf andere relevante Essays)