Viele Sucher, insbesondere wenn sie keinen spirituellen Lehrer und Ansprechpartner haben, stellt sich hin und wieder die Frage: Wo stehe ich? Bewege ich mich in die richtige Richtung? Bringt mich das, womit ich mich befasse, weiter? Was kann ich noch tun oder muss ich etwas ganz anderes tun? Besonders dringend kommen diese Fragen auf, wenn äußere oder innere Notlagen auftreten. Also dann, wenn all das, was man bisher gemacht hat, keine Erleichterung mehr bringt oder wenn man für das, was einen vorher inspiriert hat, keine Energie mehr aufbringen kann. Heißt das, dass alle vorherigen Bemühungen Irrwege waren und man wieder von vorne beginnen muss? Und wie geht man mit solchen spirituellen Krisenzeiten um? Dazu weiter unten mehr. Zunächst einmal geht es um die Frage:

Woran messe ich, ob ich auf dem richtigen Weg bin?

Vorweg möchte ich betonen, dass der „Weg“ kein Weg von Hier nach Da ist, von einem Zustand in einen anderen. Der Weg definiert sich im Advaita Vedanta durch den Umgang mit der Frage: Wer bin ich – unabhängig von Körper, Geist, Gefühlen? Die Antwort auf diese Frage kristallisiert sich allmählich immer klarer heraus. Auf dem Weg entsteht also nichts Neues, sondern das, was bereits da ist, wird in vollem Umfang als das erkannt, was es ist: das wahre Selbst. Spiritueller Fortschritt zeichnet sich aus durch wachsende Erkenntnis. Ohne einen spirituellen Lehrer oder kompetenten Ansprechpartner ist es dem Sucher allerdings unmöglich zu bestimmen, ob es die höchste Erkenntnis ist, die in einem wächst oder irgendwelche irrelevanten Einsichten oder Zustände. Der Wahrheitssucher braucht also in erster Linie einen Lehrer oder kompetenten Ansprechpartner.

Solange er jedoch ein „einsamer Sucher“ ist, benötigt er andere Indikatoren als die „wachsende Erkenntnis“, die er ohnehin nicht selbst ermessen kann. Diese anderen Indikatoren gehören zunächst einmal in die Kategorie „geklärter Mind “. Wenn der Mind gut vorbereitet, also in einem relativ geklärten Zustand ist, dann ist die Erkenntnis der Wahrheit relativ leicht. Auch ist es dann relativ offensichtlich, wer der richtige Lehrer für einen sein könnte. Ein geklärter Mind ist zudem relativ frei von Identifikationen, das heißt, es ist ein sattvischer Mind. „Relativ“ bedeutet in all diesen Zusammenhängen, dass es nicht 100 % sein müssen. Mehr zu den drei Gunas Tamas, Rajas und Sattva hier: Gewebe der Schöpfung – Gunas

Die verbreitete Ansicht, dass eine Zunahme des allgemeinen Wohlgefühls Anzeichen spirituellen Fortschritts ist, ist problematisch, weil es grundsätzlich nicht um Wohlgefühl geht. Aber sie hat einen wahren Kern: tatsächlich wird das Leben einfacher, wenn der Mind sattvisch ist, und es entsteht mehr Wohlgefühl.

Doch gilt es zu beachten, dass die Ausgangslage, also das „Mind-Material“, bei jedem verschieden ist. Manche Menschen haben eine höhere „Resilienz“ als andere, d.h. es fällt ihnen von Natur aus leichter, die Höhen und Tiefen des Lebens gelassen hinzunehmen und sie fühlen sich generell wohler. Ein Mensch mit hoher Resilienz ist jedoch nicht notwendigerweise „spirituell weiter“, denn hohe Resilienz kann ebenso auf Tamas wie auf Sattva beruhen.

Im Laufe der spirituellen Entwicklung nimmt das allgemeine Wohlgefühl zu, allerdings meist unmerklich. Obendrein wachsen mit der Zunahme des Wohlgefühls auch die Ansprüche. Dadurch kann trotz Weiterentwicklung das Gefühl aufkommen, es habe sich überhaupt nichts verändert und man stehe eigentlich immer noch da, wo man am Anfang stand. Es geht also vor allem darum, dass der Sucher anerkennt und wertschätzt, wenn sich etwas positiv verändert. Wer den Fokus stets auf dem hat, was noch fehlt, wird bevorzugt das Fehlende wahrnehmen und die Ressourcen, die im Entstehen sind, übersehen. Welche Veränderungen sind es, die einem zeigen, dass man sich in die richtige Richtung bewegt?

  • Mehr Ruhe, mehr Ausgeglichenheit, mehr Zufriedenheit – man nimmt die eigenen Ansprüche an das, was einem das Leben bietet, weniger wichtig.
  • Mehr Dankbarkeit und mehr Mitgefühl mit Menschen und anderen Lebewesen ­– man nimmt das eigene Ich weniger wichtig und sieht sich mehr in ein größeres Ganzes eingebettet.

Warum sind solche Befindlichkeiten wichtig, obwohl es eigentlich nicht um Befindlichkeiten sondern um Erkenntnis geht? Diese Befindlichkeiten sorgen für einen ruhigen Mind und ein ruhiger Mind ist eher in der Lage, klare Erkenntnisse zu haben, als ein aufgewühlter. Außerdem spiegeln diese Befindlichkeiten das wahre Selbst, das grenzenlos, also ungetrennt ist. Denn wer auch nur eine Ahnung von seiner eigenen Ungetrenntheit hat, wird sich und das, was er will oder nicht will, automatisch weniger wichtig nehmen und daher zufriedener und mitfühlender sein.

Prioritäten

siehe auch Essay Prioritäten

Ein weiteres Kriterium für den einsamen Sucher ist die Dringlichkeit, die sein Anliegen „Erkenntnis dessen, was ich wirklich bin“ hat. Im Vedanta nennt man dieses Anliegen Moksha, Freiheit. Je weiter unten dieses Anliegen auf der eigenen Prioritätenliste steht, desto weiter ist der Sucher gewöhnlich von der Erkenntnis entfernt. Wer kein Moksha will, der wird aller Wahrscheinlichkeit auch kein Moksha erlangen. Immerhin kämen circa 99 % aller Menschen nicht einmal auf die Idee, es auf ihre Prioritätenliste zu setzen. Wer diese innere Liste stets im Auge hat und vor allem auch dann einen Blick drauf wirft, wenn er gerade in Schwierigkeiten steckt, hat gute Chancen, die Wahrheit zu erkennen.

Zum einen gilt es, die eigenen Prioritäten immer wieder zu überprüfen. Gehören sie in die Kategorie materielle Sicherheit, oder in die Kategorie Lebensqualität, oder in die Kategorie Ethik und Weltverbesserung oder in die Kategorie „Erleuchtung“/Moksha? Alle Kategorien haben ihren eigenen Wert, doch wer Moksha will, auf dessen Liste sollte „Moksha“ auch obenan stehen, und nicht „viel Geld“ oder „eine tolle Liebesbeziehung“ oder ein ethisches Ziel. Wenn es dennoch so ist, dann sollte man sich darüber klar werden, was einem denn nun wirklich wichtig ist, und möglicherweise sollte man die Sache mit Moksha lieber vertagen. Es ist besser, das ganz machen, wohinter man auch ganz steht, als mehrere Dinge nur halb.

Doch diejenigen, die merken, dass Moksha tatsächlich immer wichtiger wird und dass sie die meiste Zeit ihres Lebens mit Spirituellem beschäftigt sind, sie können getrost annehmen, dass sie sich in die richtige Richtung bewegen. Allerdings sollten sie jetzt nach jemandem Ausschau halten, der sie spirituell unterstützt oder darum bitten. Denn wie gesagt, ist es ohne einen Lehrer so gut wie unmöglich, Moksha, die letzte Freiheit, zu erlangen.

Spirituelle Krisen

Im Laufe der spirituellen Reise kommt es auch zu Krisen. Eine Krise ist eine Übergangszeit von einer Entwicklungsphase in eine nächste. Die meisten heutigen Sucher probieren auf ihrer Suche unterschiedliche Ansätze aus. Wenn sie mit einem Ansatz an ihre eigenen oder an dessen Grenzen kommen, schauen sie sich nach etwas um, das ihnen mehr entspricht und sie von jetzt an weiterbringen kann. Solange man einem Ansatz ausreichend Zeit gegeben hat, seine Wirkung zu entfalten, ist gegen dieses Vorgehen nichts einzuwenden.[1]

Eine besondere Situation entsteht dann, wenn der Sucher bereits sehr fortgeschritten ist. Er weiß um seine wahre Natur, also um das, was er in Wahrheit ist. Diese Erkenntnis ist zwar noch nicht in allen Situationen stabil, doch sobald die grundlegende Erkenntnis da ist, kommt es zu einer Beruhigung: das Drängen und Streben schwächt sich ab oder hört auf. Dieser Vorgang kann den Sucher sehr verunsichern.

Sein Geisteszustand muss unterschieden werden von dem des Anfängers, der deshalb keinen starken Antrieb zur spirituellen Suche verspürt, weil er mit allen möglichen anderen Angelegenheiten seines Lebens identifiziert ist. Auf der Prioritätenliste des Anfängers steht Moksha im unteren oder mittleren Bereich. Und noch ein dritter Geisteszustand kann für eine Abnahme des „Drängens und Strebens“ verantwortlich sein. Es handelt sich hier um die Haltung, die ich im Essay über das zwanghafte Loslassen beschrieben habe: Loslassen. Auf der Prioritätenliste des Loslassers mag Moksha zeitweilig ganz oben stehen, was allerdings keinen Bestand hat und sich je nach Umständen oder Gefühlslage wieder ändert.

Ich möchte mich im Folgenden dem fortgeschrittenen Sucher widmen. Die Erkenntnis, wer er ist, ist jederzeit abrufbar (beispielsweise, wenn ihn der Lehrer fragt), aber es kommt immer noch gewohnheitsmäßig zu Identifikationen mit dem, was er nicht ist. Dieser Sucher weiß, dass er ungetrennt, also eins und grenzenlos ist. Deshalb hat er grundsätzlich kein Gefühl von Mangel mehr – außer in einigen Situationen, wo er es kurzzeitig eben doch hat.

In seinem Fall ist die Abnahme des spirituellen Antriebs nichts, was man beheben müsste. Sie ist angemessen, denn in gewisser Hinsicht ist er bereits angekommen. Wenn dieser Sucher sich genau beobachtet, wird er merken, dass, obwohl die drängende Sehnsucht nicht mehr zu spüren ist, er dennoch genau weiß, dass irgendwie noch etwas fehlt. Und das, was irgendwie noch fehlt, sorgt dafür, dass er sich weiterhin oder sogar vermehrt mit spirituellen Fragen beschäftigt ist. Er will ganz ans Ende des Weges gelangen, aber er ist nicht mehr verzweifelt auf der Suche, weil die Wurzeln der irrigen Identifikation bereits gekappt sind.

Die Themen, mit denen er sich jetzt beschäftigt, drehen sich entweder darum, das, was er bereits weiß, noch genauer zu verstehen und einzuordnen. Oder darum, auch die Bereiche in sein Erkennen mit einzubeziehen, in denen Identifikationen die Erkenntnis immer wieder zu verdecken scheinen. Alle Lebensbereiche werden noch einmal überprüft und neu justiert.

Wenn dieser Sucher, der sich in gewisser Weise nicht mehr als Sucher empfindet, seine Prioritätenliste überprüft, wird entweder weiterhin Moksha obenan stehen, oder es scheint als habe sich das ganze Thema „Prioritätenliste“ aufgelöst. Dieses Gefühl kommt dadurch zustande, dass das Wichtigste bereits passiert ist. Damit entfalten sich alle Anliegen ganz natürlich im Sein, welches der Sucher als sein wahres Selbst erkannt hat. Man geht die Themen an, so wie sie sich präsentieren, ohne besondere Vorlieben oder Abneigungen. Aber wenn sich letztere doch einmal störend bemerkbar machen, besinnt man sich auf die (tatsächlich weiterhin gültige) Priorität, Moksha.

Und im ersteren Fall, wenn die Prioritätenliste (mit Moksha an der Spitze) weiterhin spürbar ist, dann ist dies nur ein Zeichen dafür, dass der Sucher sich sehr klar darüber ist, dass etwas nicht ganz komplett ist.

Wenn sich also die Prioritätenliste des fortgeschrittenen Suchers mitsamt drängender Sehnsucht aufzulösen scheint, ist dies kein Anlass zur Beunruhigung oder gar Krisenstimmung. Aber es ist auch noch kein Zeichen für Erleuchtung. Von nun an geht es lediglich darum, „dran“ zu bleiben. Die meisten brauchen hierzu die Unterstützung eines Lehrers oder guten spirituellen Freundes. Manche können diese letzte Phase des Weges auch alleine gehen.

 


[1] Der spirituelle Lehrer