Was der Wahrheitssucher sucht, sein wahres Selbst, ist unbeschreiblich. Dass es trotzdem erkennbar ist, bezeugen all die, die die Erkenntnis erlangt haben. Und um anderen etwas davon zu vermitteln, verwenden die meisten von ihnen Worte.

Doch Worte für das Nicht-Beschreibbare müssen notwendigerweise unzulänglich sein. Dass die Worte trotzdem immer wieder Wahrheitssuchende erreichen und ihnen helfen, ans Ziel ihrer Suche zu kommen, ist ein Wunder. Wir können dies nur dankbar zur Kenntnis nehmen.

Dennoch lohnt es sich, die Unzulänglichkeit der Worte genauer zu betrachten, da ein Suchender auf diese Weise einige Fallstricke umgehen kann.

Beginnen wir mit dem, was den meisten zuerst einfällt: Wenn die Beschreibungen des Gesuchten zwangsläufig unzulänglich sind, kann man denn nicht wenigstens die Beschreibungen derer, die wirklich erkannt haben, von denen unterscheiden, die nur mit Worten jonglieren?

Die Antwort: nicht wirklich.

Alle Worte gehören zum begrenzten Körper-Mind-System und werden von diesem eingesetzt. Sie existieren nur in der Dualität, und sind darauf ausgelegt, die Dualität zu beschreiben. Genau darauf gründet sich ihre Unzulänglichkeit hinsichtlich des Nicht-Dualen. Das Nicht-Duale braucht und kennt keine Worte, das Nicht-Duale entzieht sich aller Beschreibungen.

Wer sich selbst als das nicht duale Eine erkannt hat, verfügt nicht plötzlich über einen nicht-dualen Wortschatz. Er oder sie verwendet dieselben Worte, wie jemand, der sich nicht erkannt hat. Zudem ist der Wortschatz, der für die Beschreibung überhaupt in Frage kommt, ziemlich begrenzt. Daher sagen alle Erleuchteten immer so ziemlich dasselbe, und jeder Möchtegern-Erleuchtete kann sie relativ leicht imitieren.

Wer noch auf der Suche ist, kann die echten von den unechten kaum unterscheiden. Ein Kriterium besteht vielleicht darin, dass, je blumiger, pathetischer, poetischer, schwülstiger, hochtrabender oder dramatischer jemand sich ausdrückt, desto genauer sollte man hinschauen, was sich tatsächlich hinter den Worten verbirgt. Aber auch so eine Ausdrucksweise ist kein eindeutiger Hinweis darauf, dass man es mit einem Pseudoheiligen zu tun hat.

Denn es ist verständlich, dass die, die versuchen, das Unbeschreibliche in Worte zu fassen, oft zu Steigerungen greifen oder eher emotional aufgeladene Begriffe verwenden. Worte, die nicht der Alltagssprache angehören, sollen so dem Außerordentlichen, Außergewöhnlichen des Phänomens Rechnung tragen.

Im Advaita Vedanta haben wir da allerdings einen anderen Ansatz. Wir befassen uns eingehend mit dem Phänomen Sprache, um dieses Instrument trotz seiner Unzulänglichkeit bestmöglich zu nutzen. Verstehen und Analysieren von Sprache ist in dieser Erkenntnislehre immer schon sehr wichtig gewesen. Bevor man überhaupt zum Vedanta-Schriftenstudium kam, wurden in der Lehrtradition des Advaita Vedanta sechs verschiedene andere Wissensbereiche studiert. Von den sechs haben vier Bereiche mit Sprache zu tun: Phonetik, Grammatik, Etymologie und Metrik. Zwei Essays habe ich bisher zum Thema „Sprache“ geschrieben. Bitte gerne noch mal nachlesen: Essay: Die Kunst der weisen Worte und Essay: Verkehrte Welt mit fremden Federn. Heute kommt das dritte, denn, wie wir in den anderen beiden gesehen haben, kann das Phänomen Sprache einem eine Menge Einsichten bescheren.

Die deutsche Sprache ist in den letzten 80 Jahren zu einer sehr nüchternen Sprache geworden. Das mag in vieler Hinsicht schade sein, doch fürs Advaita Vedanta ist die Nüchternheit des Deutschen kein Nachteil, denn auf diesem Erkenntnisweg meiden wir poetische Wendungen, wann immer es möglich ist. „Erleuchtung“ beispielsweise ist so ein poetischer Begriff. 1 

„Erleuchtung“ oder „Erwachen“ klingt für die meisten attraktiver als „Verstehen, wer Du bist“ oder „Selbsterkenntnis“. Poetische Begriffe haben mehr Werbeeffekt. Daher eignen sie sich, um überhaupt Interesse für Moksha zu wecken. Aber man sollte nicht dabeibleiben, weil sie falsche Vorstellungen befördern, die sich dem angestrebten Verständnis in den Weg stellen werden.

 

Erfahren und Erkennen

Dass poetische Wendungen im Advaita Vedanta so wenig Platz haben, liegt darin begründet, dass wir mit Moksha nach etwas suchen, was man weder herstellen muss, noch herstellen kann. Warum nicht? Weil es eine bereits bestehende Tatsache ist. Moksha bedeutet Freiheit. Jeder Mensch ist bereits frei. Wovon frei? Frei von jeglichem Mangel, frei von jedem Unglück, frei von allen Begrenzungen, frei von sämtlichen Ängsten, ganz und gar, zu allen Zeiten und unter allen Umständen frei.

Dies ist zwar nicht die Erfahrung der meisten, aber eine Erfahrung ist kein Kriterium für Realität. Dass Sonne oder Mond auf- oder untergehen, ist zwar unsere Erfahrung, aber wir wissen, dass die tatsächlichen Verhältnisse anders sind.   

Wenn wir uns unfrei fühlen, kann das bedeuten, dass wir unfrei sind. Muss es aber nicht. Dass wir Moksha, die Freiheit, nicht erfahren, bedeutet eben nicht, dass wir tatsächlich unfrei sind. Es bedeutet vielmehr, dass uns das Wissen um unsere Freiheit fehlt. Wir übersehen die Freiheit, die uns innewohnt, und hoffen, dass wir sie durch Freiheiten außerhalb unserer selbst, erlangen können. Menschen, die Moksha erlangen wollen, machen sich demzufolge auf die Suche nach etwas, was eigentlich schon da ist.

Diese Information ist wichtig, denn nur mit ihr wird klar, wie man vorgehen muss, um ans Ziel der Suche zu kommen. Wäre die Freiheit tatsächlich nicht bereits da, müsste man etwas tun, um sie zu erlangen. Gehört dir die Freiheit aber bereits, dann musst du nichts tun. D.h. du musst nirgendwo hin oder sie irgendwie herstellen. Du musst nur verstehen, dass sie dir bereits innewohnt. Moksha erlangst du weder durch Handeln, noch durch besondere Erfahrungen, sondern durch Verstehen.

Und um etwas zu verstehen, hilft dir keine Poesie. Jeden Abend voller Rührung und Hingabe „Der Mond ist aufgegangen“ zu singen, wird dir nicht helfen zu erkennen, dass der Mond weder je auf- noch je untergegangen ist. Dazu brauchst du jemanden, der dir erklärt, wieso deine Erfahrung nicht den Tatsachen entspricht und was es tatsächlich mit dem Mondaufgang auf sich hat.

Erfahrungen und Emotionen sind eine große Bereicherung für unser Leben. Doch um eine Erkenntnis zu erlangen, helfen sie dir nicht. Eine Erkenntnis erfordert die Fähigkeit zu nüchterner Analyse – auch und gerade diese eine außerordentliche Erkenntnis dessen, was du in Wahrheit bist.

Fühlen und Verstehen

Wir haben einerseits die Welt der Emotionen, zu der etwa folgende Begriffe passen:

Substantive wie Mysterium, Inbrunst, Seligkeit, Überschwang, Ergriffenheit, Eintauchen, Tiefstes, Höchstes u.ä.

Adjektive wie mystisch, erlaucht, erhebend, romantisch, poetisch, magisch, verklärt, berauschend, unergründlich, überwältigend, großartig, hinreißend u.ä.

Andererseits die Welt der Kognition, also die Welt des Verstehens, Erkennens, Wissens – verbunden mit folgenden Begriffen:

Substantive wie Logik, Klarheit, Eindeutigkeit, Analyse, Schlussfolgerung, Klärung, Kenntnis, Erkenntnis, Wissen.

Und die dazu gehörenden Verben wie analysieren, schlussfolgern, klären, verdeutlichen, erfassen, wissen, verstehen, erkennen, begreifen, aber auch lernen, studieren, überprüfen, vergleichen, unterscheiden, differenzieren u.ä.

Würden wir eine Umfrage machen, egal ob bei spirituell orientierten oder rationalen Menschen, würden mit Sicherheit die meisten die emotionalen Begriffe mit Spiritualität assoziieren und so gut wie niemand die kognitiven Begriffe.

Aber genau hier ordnet sich Advaita Vedanta ein. Ja, auch im Vedanta haben Emotionen einen Platz und finden Ausdruck durch Dankbarkeit, Gebet, Hingabe, Mitgefühl usw., aber für sich genommen, wird dies niemanden ans Ziel bringen. Denn das Ziel ist nun mal ein Erkenntnisziel, und die Erkenntnis ist kein Gefühl und keine Erfahrung. Sie ist mental. Sie findet im Mind statt.

Wenn du dich selbst erkennen willst, brauchst du die Bereitschaft, deine kognitiven Fähigkeiten wertzuschätzen, sie zu optimieren und für deine Erkenntnissuche einzusetzen. Denn:

Die Erkenntnis deines wahren Selbst

 ist kein Gefühl und keine Erfahrung.

Sie ist mental.

Aber sie ist keine Theorie. Sie ist das Erkennen einer Wahrheit, die die meisten Menschen konstant übersehen. Wenn man diese Wahrheit jedoch aufhört zu übersehen, dann kann man nie mehr an ihr vorbei. Das Wissen bleibt nicht mental, denn die Erkenntnis deckt das auf, was existentiell ist. Dieses einzigartige existentielle Wissen bleibt bestehen.

Doch weil dieses Wissen einzigartig ist, kann man es sich vor der Erkenntnis unmöglich vorstellen. Das ist der Grund, warum es im Advaita Vedanta ohne einen Guru nicht geht – der/die das Wissen hat und es gemäß der Lehrtradition vermitteln kann.

Der Segen

Da man sich weder den Erkenntnisprozess noch das Wissen selbst vorstellen kann, macht man sich ersatzweise alle möglichen Vorstellungen davon. Die Erwartung einer möglichst spektakulären mystischen Erfahrung ist das häufigste Hindernis. Sie sorgt dafür, dass man immer wieder an dem vorbeischaut, worauf es ankommt. Es ist sogar möglich, dass jemand die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ längst hat. Aber diese kommt dermaßen unscheinbar daher, dass einige die Antwort, die sie haben, gar nicht wertschätzen können.

Wer weiter auf etwas ganz Besonderes wartet, der wird das wahrhaft Besondere nicht erkennen können. Daher sind emotionale Bezeichnungen kontraproduktiv. Sie verfestigen nur die falschen Vorstellungen, die die meisten spirituellen Sucher ohnehin schon haben.

Die Erkenntnis ist eine Erkenntnis von etwas, was du dein ganzes Leben lang schon „erfährst“. Dies ist keine neue Erfahrung, es ist tatsächlich die einzige Erfahrung, die ohne Anfang und ohne Ende ist. Denn die Erkenntnis ist die Entdeckung von etwas, was immer schon da war. Du verstehst mit der Erkenntnis nur die außerordentliche Bedeutung dieser Erfahrung, die dich stets begleitet hat.

Und erst, indem du das, was du erkannt hast, in vollem Umfang anerkennst und für dich beanspruchst, wird es dir auch in vollem Umfang zur Verfügung stehen. Oder, um es dann doch mal poetisch auszudrücken, erst dann wird es dich in vollem Umfang segnen.

Fußnote:

  1. Als ich 2010 begann, die Essays zu schreiben, habe ich das Wort Erleuchtung häufig verwendet. Zum einen wollte ich einen Paradigmenwechsel hinsichtlich dieses Phänomens herbeiführen. Denn die Leser/innen, die ich damals im Blick hatte, waren sich sicher, dass Erleuchtung etwas ist, was nur ganz besonderen Menschen zuteilwird.

    Advaita Vedanta ist jedoch für jede/n da. Niemand muss besonders sein, außer in dem Sinne, dass er sich für etwas interessiert, was den meisten Menschen unwichtig ist. D.h. zunächst einmal musste ich den Begriff Erleuchtung von seinem elitären Nimbus befreien, bevor ich ihn nach und nach durch weniger mystifizierende Begriffe ersetzen konnte. Mittlerweile benutze ich lieber Sanskritworte wie Moksha oder Jivanmukti, die – zumindest für uns – frei von emotionaler Ladung sind.

    Der zweite Grund für die Verwendung des Begriffs „Erleuchtung“ war, dass dieser Ausdruck hier am gebräuchlichsten ist. Daher verwende ich ihn hin und wieder immer noch.