Unsere Sprache hat sich aus unserer Weltsicht entwickelt, und da wir die Sprache ständig verwenden, bestärkt sie diese Weltsicht ständig und trägt dazu bei, dass wir bei ihr bleiben – selbst, wenn sie möglicherweise falsch ist. Wir kommen gar nicht auf die Idee, sie in Frage zu stellen.

Doch genau das ist ja immer wieder Thema auf diesen Seiten: die eigene Weltsicht in Frage zu stellen. Advaita Vedanta postuliert schließlich, dass alles, was es gibt, in Wahrheit reines Sein – reines Bewusstsein – Grenzenlosigkeit ist, und dass man diese Tatsache erkennen kann. Wer diese Erkenntnis für möglich hält und verstanden hat, dass es nichts Lohnenderes gibt, als sie zu erlangen, beginnt damit, seine bisherigen Vorstellungen zu hinterfragen, um dadurch die Wahrheit zu ergründen.

Und wie ich bereits im Essay „Die Kunst der weisen Worte“ erwähnt habe, ist die Analyse von Sprache und Sprechen einer der Schlüssel, die im Advaita Vedanta verwendet werden, um dem eigenen Irrtum auf die Spur zu kommen. Hier noch mal der Irrtum:

Statt zu wissen, dass du und alles andere ein Einziges (b)ist,

formlos, alles durchdringend und vollkommen frei,

statt dessen hältst du dich für

ein von allem anderen getrenntes Wesen,

begrenzt in Zeit, Raum und Fähigkeiten

und abhängig von allen möglichen Gegebenheiten auf dieser Welt.

Letzteres ist deine Erfahrung, ersteres ist erst einmal nur eine Hoffnung oder eine Ahnung, und es erfordert die ganze Methodologie des Advaita Vedanta, um dich in die Lage zu versetzen, diese Ahnung in Verstehen und Wissen zu verwandeln.

Das Schöne ist, dass sich am Ende sogar der eklatante Widerspruch zwischen Erfahrung und Wissen auflösen wird. Aber zunächst einmal gilt es, die irrtümlichen Vorstellungen als Irrtum zu entlarven.

Befassen wir uns also ein wenig mit Grammatik – nicht gerade das Steckenpferd der meisten. Doch, was eine Sprachanalyse über unsere Weltsicht aussagt, ist beachtenswert, auch für Wahrheitssucher.

Die Haupt- und die Nebensache

Wenn wir etwas genauer beschreiben wollen, nutzen wir Adjektive, vorzugsweise solche, die darauf hinweisen, woraus es gemacht ist. Im Deutschen ergibt sich daraus oft ein zusammengesetztes Wort, z.B. hölzerner Tisch (Holztisch), steinerne Mauer (Steinmauer), gläserne Flasche (Glasflasche) usw. Bei solchen zusammengesetzten Worten kommt immer zuerst das Adjektiv, dann das Substantiv.

Das Substantiv ist die Hauptsache an der Aussage, daher wird es auch Hauptwort genannt. Das Adjektiv, auch Eigenschaftswort, weist nur auf eine Eigenschaft des Substantivs hin, es ist daher weniger wichtig. Ohne das Substantiv würde das Adjektiv wenig aussagen, da es dann nicht zugeordnet werden kann.

Bei dem Satz „Ich sitze am Holztisch“ könnte man das „Holz-“ weglassen. Es wäre grammatisch immer noch ein Satz mit einer sinnvollen Aussage – sie wäre nur weniger genau als mit dem Adjektiv „hölzern“.

Aber umgekehrt kann man den Tisch nicht weglassen. Man hätte bestenfalls ein „Ich sitze am Holz“ und schlimmstenfalls ein „Ich sitze am hölzernen“. Letzteres wäre grammatisch nicht einmal ein Satz.

Das heißt, unsere Grammatik sagt: Auf das Substantiv kommt es an, eben auf das Hauptwort.

Was hat echte Substanz?

Vedanta bestreitet nicht die Nützlichkeit der Grammatik für unsere Alltagswelt. Doch was die Wahrheit angeht, behauptet Vedanta das Gegenteil, nämlich, dass das kleine bescheidene Adjektiv die Substanz ist, und das dicke behäbige Substantiv in Wahrheit ganz und gar substanzlos. Es schmückt sich mit fremden Federn.

Wie kommt Vedanta zu einer so ungeheuerlichen Behauptung? Schließlich scheinen sich alle Sprachen einig darüber zu sein, dass es umgekehrt ist1.

Ein Substantiv suggeriert, dass das Wort eine Substanz beschreibt: Tisch, Mauer, Flasche. Zunächst würde das auch niemand in Frage stellen, schließlich sieht man die Gegenstände deutlich vor sich und kann sie sogar wiegen und anfassen.

Doch, was man sehen, wiegen und anfassen kann, ist nicht der Tisch oder die Mauer oder die Flasche. Was man sehen, wiegen und anfassen kann, ist das Holz des Tisches, sind die Steine der Mauer, ist das Glas der Flasche. Der Holztisch wäre gar nicht da ohne die Holzsubstanz, die das Adjektiv anzeigt. Wenn man der Steinmauer die Steine wegnimmt, gibt es keine Steinmauer mehr. Und wo ist die Glasflasche ohne Glas? Die Substanz des Substantivs ist nicht seine eigene, sondern verbirgt sich in dem Adjektiv. Wir sagen, ein Substantiv ist eigentlich nur Name und Form.

Vedanta geht weiter und sagt, dass ausnahmslos jedes Objekt auf dieser Welt so ist: ohne eigene Substanz. Tisch, Mauer oder Flasche tun nur so als wären sie Substanzen. Und sogar das, was ihnen zugrunde liegt, also Holz, Stein, Glas besteht nicht aus sich selbst, sondern wiederum aus anderen Substanzen. Alles ist nur zusammengesetzt aus anderen Substanzen, die dann ebenfalls keine eigene Substanz aufweisen, sondern wieder aus anderen Substanzen bestehen. Ich habe dies im Essay „Ist die Welt eine Illusion?“ am Beispiel des Autos ausgeführt.

Dieses Prinzip lässt sich nicht nur auf leblose Gegenstände anwenden, sondern auch auf Menschen, Tiere, Pflanzen, Götter. Denn aus der Sicht des Vedanta besteht das, was wir bei den Lebewesen und uns selbst sehen, anfassen und wiegen können, aus grobstofflicher und feinstofflicher Materie – die denselben Prinzipien unterliegt wie die genannten Gegenstände, also ohne eigene Substanz und vergänglich ist.

Doch wie alle Besucher dieser Seite wissen, geht Vedanta nicht davon aus, dass alles auf dieser Welt bloße Materie ist. Da ist noch ein zweiter Faktor im Spiel – der tatsächlich der alles entscheidende ist, weil er alles Sicht-, Anfass- und Wiegbare überhaupt erst möglich macht. Was für ein Faktor ist das?

Hier sind wir wieder bei dem oft erwähnten „reinen Sein-reinen Bewusstsein-Grenzenlosigkeit“ angelangt.

Alles hat Sein

Ich gehe erst einmal auf den ersten Aspekt ein, das reine Sein, und komme damit zu einer weiteren Sprachverwirrung.

Das Verb „sein“ hat im Deutschen verschiedene Formen und ist dadurch für diejenigen, die mit Grammatik wenig vertraut sind, oft nicht sogleich zu erkennen. Im Folgenden die Gegenwartsformen des Verbs „sein“: bin, bist, ist, sind, seid.

Das bedeutet, in all diesen Verbformen verbirgt sich das Verb „sein“. Wenn wir also sagen, „Das Sofa ist da“, könnte man das auch als ein „Das Sofa hat Sein“ bezeichnen. Dadurch wird deutlicher, dass das Verb Sein mit im Spiel ist.

Erweitern wir dies und sagen, „Alles auf der Welt ist da“. (Denke kurz darüber nach, damit du hinter dieser Aussage stehen kannst. Sie ist logisch, denn wenn es nicht da wäre, könnten wir nicht sagen, „alles auf dieser Welt“. Also: Ist es dir wirklich klar, dass ausnahmslos alles auf dieser Welt da ist?)

Nun formulieren wir den Satz nach dem obigen Schema um, damit das Wort „Sein“ darin auftaucht: Also, „Alles auf der Welt hat Sein“.

Das Verb „sein“ (oder „bin, bist, ist, sind, seid“) macht aber immer nur Sinn, wenn es mit etwas verknüpft ist:

Das Sofa ist da. Der Apfel ist da. Die Straße ist da.

Anders ausgedrückt:

Das Sofa hat Sein. Der Apfel hat Sein. Die Straße hat Sein.

Warum machen wir das?

Vedanta sagt, dass die Formen wie Sofa, Apfel, Straße, Tisch, Mauer, Flasche, Holz, Stein, Glas, und auch du und ich – dass all diese Formen aus zweierlei bestehen: dem Name-Form-Aspekt, was der materielle Aspekt ist, und dem Seins-Aspekt, was der immaterielle Aspekt ist.

Wie wir oben gesehen haben, ist der materielle Aspekt, also die angebliche Substanz, in Wirklichkeit gar keine Substanz. Tatsächlich ist es der Seins-Aspekt, der die eigentliche Substanz ist. Nur ist sie halt keine materielle Substanz. Aber sie ist das, was allem zugrunde liegt, der alles entscheidende Faktor, der alles Sicht-, Anfass- und Wiegbare überhaupt erst möglich macht. Denn Sein ist die Vorbedingung, ohne dass etwas Sein hat, wäre es ja nicht da.

Das Sein muss jedoch mit einer Form verknüpft sein, damit es wahrnehmbar wird. Dann ist es kein reines Sein mehr, sondern sozusagen „gepantschtes“ Sein, mit etwas anderem versetztes Sein.

Denn Sein an sich, reines Sein, können wir nicht wahrnehmen. Trotzdem ist es da.

Und Sein ist ein von Formen unabhängiges Prinzip. Sobald eine Form sich verändert, geht das Sein sozusagen mit. Die Mauer hat Sein. Genauer gesagt: Die Steine haben Sein. Sie werden zerschlagen. Schutt hat Sein. Schutt zerfällt. Sand hat Sein. Sand vermischt sich mit Erde. Erde hat Sein. Aus der sandigen Erde erwächst ein Grashalm. Gras hat Sein – usw. usf.

Die mit Sein verbundenen Formen können Dinge oder Lebewesen sein, ebenso wie alles, was existiert, alles, was da ist, alles was Sein (geliehen) hat, also auch Gedanken, Gefühle, Konzepte, Zustände, Situationen.

All dies sind nur Ausdrucksformen von reinem Sein.

Verkehrte Welt

Zurück zur Sprache.

Wir sagen: Das Sofa, der Apfel, die Straße, der Tisch, die Mauer, die Flasche, das Holz, der Stein, das Glas, all das ist da, du bist da, ich bin da.

Vedanta sagt, diese Aussagen sind glatt an der Realität vorbei. Die Realität ist genau anders herum. Logisch wäre es daher zu sagen:

Sein sofat, Sein apfelt, Sein straßt, Sein tischt, Sein mauert, Sein flascht, Sein holzt, Sein steint, Sein glast, Sein (dein Name klein geschrieben mit hinten einem –t dran), Sein sitarat.

Das bedeutet nicht, dass man jetzt die Regeln der Sprache umwerfen muss. Man muss sich nur über die tatsächlichen Verhältnisse klar sein, während man sich weiterhin so ausdrückt, wie es üblich ist.

Und was sind noch mal die tatsächlichen Verhältnisse?

Alles Wahrnehmbare ist bloß Name und Form,

doch es hat keine eigene Substanz.

Aber es ist unbestreitbar da.

Also hat es Sein.

Alles hier hat Sein.

Sein ist die eine nicht-materielle Substanz,

die allem gleichermaßen zugrunde liegt –

ohne sie wäre nichts da.

Fazit ist, dass das, was wir normalerweise für verlässlich halten, eigentlich nichts als Name und Form ist. Das heißt nicht, dass es nichts Verlässliches gibt. Es gibt etwas absolut Verlässliches; es ist immer da und überall, das reine Sein. Doch es wird stets übersehen, weil wir uns zu sehr von Namen und Formen beeindrucken lassen. Da das verlässliche eine Sein immer und überall ist, ist es das, was allen Namen und Formen Sein verleiht, also auch dir.

Reines Sein ist also deine wahre Natur. Du bist nicht Name und Form, sondern vielmehr das, was allen Namen und Formen ihr Sein verleiht.

Hiermit sind wir wieder beim „reinen Sein-reinen Bewusstsein-Grenzenlosigkeit“ angelangt. Was noch offen ist, sind die anderen beiden Aspekte, Bewusstsein und Grenzenlosigkeit. Darauf werde ich jetzt nicht eingehen, denn ich glaube, dass die meisten Leser mit dem Nachvollziehen der Überlegungen in diesem Essay sowie in den anderen, auf die ich unten verweise, völlig ausgelastet sind. 🙂

Hier ein Verweis auf drei Essays, die ich dir im Zusammenhang mit diesem Essay empfehle: Die Kunst der weisen Worte 4-2019; Bin ich real? 8-2019; Ist die Welt eine Illusion? 9-2012

Fußnote:

  1. Ich wäre sehr daran interessiert, wenn jemand ein Gegenbeispiel hätte, also eine Sprache, bei der es richtig herum funktioniert!