Diese Frage kann sich denen stellen, die zwar erkannt haben, was sie alles nicht sind, doch dann mit einem quasi durchsichtigen Nichts dastehen, das – irgendwie unabhängig von allem, was sie nicht sind – auch noch da ist. Ganz abgesehen davon, dass das nicht sehr befriedigend ist und in keinster Weise dem entspricht, wie die Erleuchtung immer beschrieben wird, ist es auch sehr verunsichernd. Man hat das Gefühl, dass einem der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, ohne dass etwas Reales an seine Stelle tritt.

Gleich vorweg kann ich alle beruhigen: Das ist nicht das Ende des Weges. Vielmehr ist es unbedingt notwendig, weiter zu forschen, um den Weg wirklich zu beenden.

Heute geht es also um die Frage: Ist dieses Nichts (oder Etwas), was ich sein soll, überhaupt real?

Zitat aus dem Essay Identifikation vom Februar 2012:

Der Wahrheitssucher ist auf der Suche nach sich selbst. Die östlichen Mystiker und Weisen, insbesondere das Vedanta, weisen ihn darauf hin, dass er etwas anderes ist als er annimmt, dass er sich also mit etwas identifiziert, was er nicht ist. Da fast alle Menschen diese Fehlidentifikation miteinander teilen, sind es immer nur wenige, die anfangen, sie zu hinterfragen. Zu diesen wenigen gehören die Leser dieser Essays.

Ein Sucher, der weiß, dass das, was er sucht, nicht irgendwo anders in Zeit und Raum ist, sondern sein eigentliches Selbst, ein solcher Sucher geht so vor, dass er alles aussortiert, was nicht er selbst ist. Logischerweise kann am Ende dieses Prozesses nur das übrig bleiben, was sich unter all seinen irrigen Vorstellungen verbirgt, denn sein wahres Selbst ist ja immer schon da.

Um seine irrigen Vorstellungen als solche erkennen zu können, muss er wissen, durch was sie sich auszeichnen. Auch hier beginnt man mit einer Negativ-Definition: Was kann ich nicht sein? Wieder liefert einfache Logik die Antwort: Alles, was Objekt meiner Wahrnehmung ist, kann nicht ich selbst sein, weil ich immer das Subjekt bin, welches ein Objekt wahrnimmt. 

Der Schlüssel liegt also im Unterscheiden zwischen Subjekt und Objekt. Was ist „Ich“ und was ist „Nicht-Ich“? Nun, Objekte zu finden, ist leicht. Ich setze meine fünf Sinne ein und sehe, höre, spüre, rieche und schmecke eine Vielfalt von Objekten. Wenn ich meinen Mind hinzuziehe, dann erschließt er mir noch weitere Objekte: Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Erkenntnisse. All dies kann ich wahrnehmen, also kann es nicht „ich“ sein. Es handelt sich um Objekte meiner Wahrnehmung.

Es lohnt sich, hiermit ein wenig zu experimentieren: Bin ich mein Körper? Bin ich meine Gefühle? Bin ich meine Gedanken? Logischerweise nicht, denn all dies kann ich wahrnehmen.  

Das wird allerdings kaum jemanden davon überzeugen, dass er weder Körper, noch Gefühle, noch Gedanken ist.

Warum nicht? Zwei Antworten:

1. Wenn man sich seit Millionen von Leben mit Körper, Gedanken und Gefühlen gleichgesetzt hat, dann wird man nicht in der Lage sein, allein aufgrund einer logischen Überlegung damit aufzuhören. Somit sind wir wieder bei der Identifizierung angelangt. Die Identifizierung mit dem, was wir nicht sind, ist extrem hartnäckig – weil sie seit Urzeiten ein- und ausgeübt wurde.

2. Diejenigen, die nur erkennen, was sie alles nicht sind, landen in einer Art Wüste, in einer öden Leere. Aus welchem Grund landen wir in der Wüste? Weil wir uns auf diese Weise als bloßes Negativum definieren. Doch etwas in uns weiß: Der Mensch ist kein Negativum. Auch wenn er weder Körper, noch Geist, noch sonst irgendetwas Wahrnehmbares ist, so ist er doch unzweifelhaft da. Was auch immer er sein mag: Er ist. Deshalb lassen wir uns so lange nicht von unserem logischen Gedankengang überzeugen, wie wir nicht das Wissen erlangen, auf welche Weise wir „da“ sind – obwohl wir all das nicht sind, was wir immer dachten: Körper, Energien, Gefühle, Gedanken usw.

An den letzten Absatz möchte ich mit diesem Essay anknüpfen. Viele Sucher haben zwar verstanden, dass sie nicht das sein können, was Objekt ihrer Wahrnehmung ist, aber es stellt sie nicht zufrieden, es macht sie nicht glücklich. Warum nicht? Weil es sie dazu verdammt, ihr weiteres Leben als Negativum zu bestreiten, was eine äußerst unerfreuliche Daseinsweise ist.

Deshalb möchte ich denjenigen, die zwar wissen, was sie alles nicht sein können, aber nicht verstehen, was sie denn stattdessen sind, ein paar Brücken bauen. Zunächst einmal ist es unendlich wichtig anzuerkennen:

Ich bin da.

 

Schon im allerersten Essay vom November 2010 hieß es:

Ich habe einen Körper, ich habe Energie, ich habe Gedanken, ich habe Gefühle – und während ich all dies habe, bin ich. Mal habe ich viel Energie, mal wenig, mal bin ich gesund, mal krank, mal fühle ich Liebe, mal ist mir alles egal, mal denke ich nach, mal bin ich frei von Gedanken im Tiefschlaf. All diese Zustände passieren mir. Aber wer oder was dieses „Ich“ ist, dem sie passieren, weiß ich nicht. Nur eins ist unleugbar: Auch wenn ich nicht weiß, wer oder was ich bin, so weiß ich doch, dass ich bin.

Die Logik sagt mir, dass ich etwas anderes sein muss, als diese Zustände – nämlich ein gewisses ungreifbares Sein, das sich stets gleich bleibt. Doch selbst meine logische Einsicht überzeugt mich nicht automatisch davon, dass ich weder Körper, noch Energie, weder Handlungen, noch Gedanken oder Gefühle bin. Denn abzüglich Körper, Energie, Handlungen, Gedanken oder Gefühlen – was soll denn da übrig bleiben?!

 

Noch einmal: Auch wenn ich nicht weiß, wer oder was ich bin, so weiß ich doch, dass ich da bin.

Es ist eben zweierlei:

  1. Ich weiß nicht, wer oder was ich wirklich bin, denn alles, was ich immer dachte, dass ich es bin, habe ich als Objekt entlarvt.
  2. Aber ich weiß, dass ich da bin. Das ist eine unverrückbare Tatsache, denn sonst könnte ich diese ganzen Überlegungen ja gar nicht anstellen.

 

Was bedeutet das nun? Es bedeutet: Alles, was ich als Objekt entlarvt habe, ist unzuverlässig. Es kommt, es verändert sich, es verschwindet wieder. Mein jetziger Körper ist ein ganz anderer als der, den ich als Kind hatte oder als der, den ich im hohen Alter haben werde, er verändert sich ununterbrochen. Auch meine Energie, meine Gedanken und Gefühle, meine Handlungen, ganz abgesehen von der äußeren Welt – alles verändert sich ständig.

Das Vedanta spricht dem, was sich verändert, die Realität ab – selbst wenn es real zu sein scheint. Darunter fällt alles, was wir als Objekt unserer Wahrnehmung erkannt haben. Aber das Vedanta stellt auch fest:

Es gibt etwas, das sich nie verändert, und das ist real.

 

Wer oder was bin ich?

Betrachten wir noch einmal die oben erwähnte Unterscheidung zwischen all den von mir wahrgenommenen Objekten und mir selbst, dem Subjekt, das sie wahrnimmt.

Ich setze also meine Sinne ein und nehme eine Menge von Objekten wahr: Alles, was ich sehen, hören, empfinden, schmecken und riechen kann, ist Objekt meiner Wahrnehmung. Dann setze ich noch meinen Mind ein und ziehe aufbauend auf den Sinneswahrnehmungen meine Schlüsse. Und auch diese Schlussfolgerungen nehme ich wahr; auch sie sind Objekte meiner Wahrnehmung.

Aber ich – ich, das Subjekt, das alles wahrnimmt – ich bin nicht Objekt meiner Wahrnehmung. Dennoch bin ich da.

Weil ich jedoch keine Ahnung habe, was dieses ungreifbare Ich sein soll, lasse ich es einfach unbeachtet und konzentriere mich auf die greifbaren Objekte. So macht es jeder. Das ist ein großer Fehler.

Denn auf dieses ungreifbare Ich zielt die Frage ab: „Wer oder was bin ich?“

Diese Frage zielt ja nicht auf all das, wofür ich mich ohnehin schon immer gehalten habe, da habe ich ja schon Antworten. Die Frage „Wer oder was bin ich?“ zielt genau auf das, was ich eben nicht näher bestimmen kann und was mir daher unbekannt ist – obwohl ich nie ohne es war.

 

Doch egal, wie unwissend ich sein mag, eins kann ich mit Sicherheit sagen:

Das, was alles wahrnimmt, ist da.

Und nicht nur das: Es ist immer da.

Und es ist auch immer gleich.

Nur das von ihm Wahrgenommene verändert sich ständig.

 

Ich muss erst einmal nicht wissen, was dieses Ich ist. Doch wenn ich verstanden habe, dass ich das Wahrnehmende (und nicht das Wahrgenommene bin), dann kann ich diese drei Aussagen machen:

Ich bin da.

Ich bin immer da.

Ich bin immer gleich.

Und meine mit Ich: mich, das Wahrnehmende, das Subjekt.

Die Objekte dagegen sind mal da, mal nicht, und sie bleiben sich nie ganz gleich.

 

Wie gesagt, aus der Sicht des Vedanta heißt es:

Weil die Objekte so sind, können sie nicht real sein.

Da das Vedanta glücklicherweise nicht den Standpunkt vertritt, dass alles, was es gibt, irreal ist, stellt sich die berechtigte Frage: Was ist denn dann real?

Die Antwort: Ich.

Nur ich, das Subjekt, bin real – und zwar, weil ich so bin, wie ich bin, nämlich: immer und in jeder Wahrnehmung unleugbar da und immer dasselbe.

 

Selbst wenn du also noch nicht weißt, was du genau bist:

Anerkenne dein Dasein als Realität.

Anerkenne dein von allen Objekten entkleidetes Selbst als real.

Du kannst es jederzeit überprüfen und verifizieren:

Bin ich da? Klar, wer sonst stellt diese Frage!

 

Was heißt das?

Zuallererst sage dich los von der unlogischen Vorstellung, du seist ein Objekt deiner Wahrnehmung. Und dann bleib bei dir als Subjekt, auch wenn du noch keine Ahnung hast, was dieses Subjekt sein soll. Lass dich nicht ablenken von den vielen Objekten, die sich dir ständig präsentieren. Im Gegensatz zu dir, dem Subjekt, sind sie flüchtig. Stehe dazu, dass du das Subjekt bist und als solches real, ja, wenn du dem Vedanta vertraust, das einzig Reale überhaupt.

 

Auf alle weiteren, noch unbeantworteten Fragen gibt es schlüssige Antworten.

Es gibt auf die Frage „Wer bin ich wirklich?“ eine schlüssige Antwort.

Es gibt auf die Frage „Was genau ist das Subjekt?“ eine schlüssige Antwort.

Es gibt auf die Frage „Wenn ich, das Subjekt, real bin, dann gilt das ja für jeden anderen auch. Was bedeutet das?“ eine schlüssige Antwort.

Es gibt auf die Frage „Wieso erscheint mir alles andere als real, obwohl es das nicht ist?“ eine schlüssige Antwort.

Es gibt auf die Frage „Wie kann es sein, dass ich mich nicht erkenne, obwohl ich doch immer schon das bin, was ich bin?“ eine schlüssige Antwort.

Es gibt auf die Frage „Wie erkenne ich, was ich wirklich bin, obwohl der Mind, der es erkennen muss, auch Objekt meiner Wahrnehmung ist?“ eine schlüssige Antwort.

Und das sind nur einige wenige der zahllosen Fragen, die im menschlichen Mind aufkommen können. Jede denkbare Frage wird im Vedanta schlüssig beantwortet, denn die Lehrtradition hat sich stets ernsthaft mit den Einwänden, Fragen und Zweifeln der Sucher auseinandergesetzt, damit deren Buddhi sich vollkommen in das hinein entspannen kann, was sie als wahr erkennt.

 

Ein Tipp

Auf dieser Seite findest du mittlerweile 87 Essays, die sich diesen Fragen widmen. Weil es sich beim Vedanta jedoch um einen methodischen Erklärungsweg handelt, können die einzeln herausgegriffenen Themen der Essays nur begrenzt Klarheit schaffen. Dennoch erfüllen sie einen Zweck, denn immerhin wird auf diese Weise deutlich, dass es Erklärungsansätze gibt, die in unserer westlichen Kultur nicht vorkommen. Und vielleicht weckt das in dir die Lust, dich näher mit dem Advaita Vedanta zu beschäftigen.

 

Ein Anfang wäre, dich dem Thema Subjekt–Objekt von mehreren Seiten zu nähern. Hier alle Essays, in denen es darum geht:

2-12 Identifikation

6-11 Meditation

8-17 Spirituell oder Wahrheitssucher?

10-18 Bin ich, was ich suche?

05-19 Spirituelle Erfahrungen und die Wahrheitssuche