Vor einem Jahr habe ich das Essay „Wer regiert den Mind?“ geschrieben. Das heutige Essay schließt daran an, und ich empfehle unbedingt, das Ursprungsessay nochmals zu lesen, Wer regiert den Mind? Außerdem gibt es zwei weitere Essays, die man kennen sollte, um das heutige gut zu verstehen: Hingabe und Logik und Die Gunas.

Auf dem Weg

Im Leben eines jeden (unerleuchteten) Menschen ist es der Mind, der den Ton angibt. Da man sich für ein von allem getrenntes Wesen hält und somit immer irgendetwas fehlt, gibt es auch immer irgendetwas zu erreichen. Die sich ergebenden Ziele werden mit Hilfe der Mindfunktionen verfolgt, das ist bei jedem so. Und je nach innerer Reife basieren die Ziele entweder auf Manas, dem emotionalen Mind, und dem leidvollen Wechselspiel von Rajo- und Tamoguna. Vielleicht überwiegt aber auch die Buddhi, mit ihrer Klarheit, Wachheit, Weisheit, und ihren sattvischen Zielen von Rückzug, Stille und Raum für Spiritualität.

Jeder spirituelle Weg kann nur dann erfolgreich gegangen werden, wenn im Mind die Buddhi regiert und nicht der wankelmütige emotionale Mind. Für den Erkenntnisweg gilt dies in besonderem Maße, denn nur mit der der Buddhi eigenen Unterscheidungsfähigkeit kann man die Erkenntnis erlangen. Daher wird im Vedanta viel Zeit und Energie in die Entwicklung einer erkenntnisfähigen Buddhi investiert. Begleitend dazu werden auch einige Manas-Eigenschaften – Hingabefähigkeit, Dankbarkeit und Mitgefühl – hoch geschätzt und gefördert. Jeder, der den Erkenntnisweg geht, entwickelt auf diese Weise mehr sattvaguna und ist immer weniger von rajo- und tamoguna bestimmt.

Die eigenen  Ziele und die Motivation, sie zu erreichen, sind folglich eher sattvischer Natur. Das bedeutet, dass man vor allem Raum für seinen spirituellen Weg haben möchte, es sei denn, dringende dharmische Angelegenheiten verlangen Aufmerksamkeit – wobei man dafür sorgen wird, dass diese nicht überhand nehmen.

Hinsichtlich des dharma gibt es basierend auf der vedischen Kultur einige nicht verhandelbare Werte, die nur diejenigen außer Acht lassen dürfen, die in ihrem Leben gar keine anderen Ziele und Werte mehr haben als den eigenen spirituellen Weg – oder, falls dieser Weg hinter einem liegt, das Vermitteln und Weitergeben der erkannten Wahrheit an die, die sie erkennen wollen. Nicht verhandelbar ist zum Beispiel die Fürsorge für die eigenen Kinder und Eltern. Einige dharmische Selbstverständlichkeiten werden zudem oft gar nicht erwähnt, zum Beispiel die Hingabe an den Guru und das Göttliche, die auch bei denen niemals endet, deren Suche nach der Wahrheit zur Erfüllung gekommen ist.

Die Buddhi, und damit sattvaguna müssen also im eigenen Mind dominant sein, damit man überhaupt ans Ziel der Suche kommen kann. Für alle, die die Erkenntnis erlangt haben, ergibt sich eine weiterführende Frage. Denn wenn die spirituelle Suche am Ende angelangt ist, lautet die Frage nicht mehr „Wer regiert den Mind?“, sondern „Wer regiert eigentlich, wenn der Mind nicht mehr regiert?“

Nach der Erkenntnis

Damit die Erkenntnis der höchsten Wahrheit stattfinden kann, muss die Buddhi überwiegen, doch ist die individuelle Mischung von Buddhi und Manas durch die Erkenntnis nicht automatisch außer Kraft gesetzt. Was außer Kraft gesetzt ist, ist die Identifikation damit. Das bedeutet, dass der Mind nach und nach aufhört, das Leben in Eigenregie managen zu wollen. Die Umstellung kann, je nach Ausgangslage, einige Zeit dauern – vielleicht Monate, bei den meisten sind es eher Jahre.

Und dann? Der, der erkannt hat, lebt ja weiter, agiert ja weiter, denkt ja weiter. Das bedeutet, der Mind ist und bleibt aktiv. Die Frage ist nur, was treibt ihn an, wenn sogar sattvische Motive keine Rolle mehr spielen?

Die Vorstellung, man müsse sich antreiben, damit im Leben etwas passiert, ist ein grundlegender Irrtum. Tatsächlich entfaltet sich das Leben so, wie es sich entfaltet, auch ohne einen Antreiber. Der innere Antreiber ist ja nichts anderes als das separate Ich mit seinem angestrengten Bemühen, die gefühlte Unvollständigkeit endlich zu vervollständigen. Wenn diese Vorstellung aus dem Spiel ist, dann geht dem inneren Antreiber die Luft aus.

Solange die Identifikation mit einem von allem getrennten Ich besteht, ist der innere Antreiber vorhanden. Zwar ist für alle, die sich in Richtung sattvaguna bewegen, „Loslassen und Mitfließen“ ein durchaus erstrebenswertes Ziel. Doch können auch sie diesen Zustand immer nur zeitweilig erreichen. Manche sind besser darin, manche weniger gut, aber für niemanden mit einer Ich-Identifikation sind Loslassen und Mitfließen das Natürlichste von der Welt – so wie für den, der diese Ich-Identifikation nicht mehr hat.

Wer die Erkenntnis erlangt, wird sogleich feststellen, dass der innere Antreiber rapide an Einfluss verliert. Da sich jedoch die eigenen Mindmuster nicht sogleich verändern, wird Manas möglicherweise Zweifel anmelden, ob tatsächlich alles seine Richtigkeit hat. Nicht zuletzt haben die vielen Wünsche, Ziele, Ideen, die einen zuvor motiviert haben und die durch sie entstehenden Handlungen das Leben aufregend und bunt gemacht. Es gab halt immer irgendeine Karotte vor der Nase, die dafür gesorgt hat, dass es nicht langweilig wird.

Auch ohne Identifikation kann es im Leben hoch hergehen, allerdings fehlen die damit normalerweise verbundenen Adrenalinschübe. Und ohne diese Adrenalinschübe (positiver und negativer Art) scheint Manas das Interessante, Abwechslungsreiche und Bunte des eigenen Lebens nicht mehr erkennen zu können und beginnt, sich zu langweilen.

Ohne Ich-Identifikation läuft alles, so wie es eben läuft, inklusive der eigenen Handlungen, die man ausführt oder nicht ausführt. Das Leben entfaltet sich auf seine eigene Art, und man selbst weiß sich als ein notwendiger Teil davon. Schließlich ist alles im Leben bestimmt von den Gunas bzw. den 5 Elementen, und das eigene Körper-Mind-System bildet da keine Ausnahme. Also sind es allein die Gunas/5 Elemente, die „handeln“, nicht man selbst. Und wer ganz in der Erkenntnis angekommen ist, ist sich über diese Tatsache durch und durch im Klaren – und zwar immer. Das ist es, was ich mit dem Satz „Moksha ist nie endender freier Fall“ gemeint habe. Wer darum weiß, weiß sich sicher und getragen – was soll da noch Adrenalinschübe auslösen? 1

Wie gesagt, es gibt fast immer eine Übergangsphase bis die eigenen Denkgewohnheiten sich an die neue Ausgangslage gewöhnt haben. Doch ohne die neue Ausgangslage können stets nur Zustände relativen Loslassens, relativen Mitfließens und damit relativen Friedens erreicht werden. Dagegen sorgt die neue Ausgangslage, also die vollständige Erkenntnis, für unaufhörliches Loslassen, immerwährendes Mitfließen, dauerhaften Frieden, ohne dass man sich ständig darum bemühen müsste. Was jetzt dran ist, ist vor allem den im Westen konditionierten Menschen so fremd, dass sie einfach nicht darauf kommen: Wenn du die höchste Erkenntnis erlangt hast und zweifelsfrei weißt, dass das, was du bist, ungetrennt von allem anderen ist, ja, alles andere überhaupt erst möglich macht, wenn du das also weißt, dann ist der Kampf endgültig vorbei. Du nimmst jeweils den Platz ein, den das Leben dir zuweist, und füllst ihn so gut wie möglich aus. Du begreifst dich als Dienende oder Dienenden. Wem dienst du? Dem Leben selbst, Ishvara, dem großen Ganzen – mühelos und in vollkommenem Frieden.

Fußnote:

  1. Essay Frei Sein!