Seitdem die Kirchen an Einfluss verloren haben, ist die Demut aus der Mode gekommen. Wahrscheinlich wissen viele Menschen gar nicht mehr genau, was Demut eigentlich ist. Und man wird so gut wie nie jemanden hören, der einen anderen wegen dessen oder deren außerordentlicher Demut preist.

Demut in der monotheistischen Welt hieß, dass sich der Mensch Gott unterordnete. Daraufhin kristallisierten sich in den gesellschaftlichen Hierarchien immer mehr Stellvertreter Gottes heraus, denen man mit Demut begegnen musste. Es begann im klerikalen Umfeld – Papst, Abt, Priester, Mönch – und setzte sich dann im weltlichen Bereich fort – König, Adlige, Bürgermeister, Vorgesetzte – bis hinein in die Familien – Ehemann, Vater, Eltern usw.

Insofern ist es ganz gut, dass die alte Vorstellung von Demut nahezu ausgestorben ist, denn Demut war eine Verhaltensauflage, die vor allem Frauen, Kinder und Dienende zu erfüllen hatten. Unabhängig von den Umständen sollten sie sich beugen und ihre eigenen Vorstellungen und Bedürfnisse prinzipiell denen anderer unterordnen.

Dies ist nicht die Haltung, die ich hier aus der Sicht des Advaita Vedanta beleuchten möchte. Demut bedeutet eigentlich, sich in einem größeren Zusammenhang zu sehen und dementsprechend zu handeln – was voraussetzt, dass man diesen Zusammenhang als größer anerkennt. Größer als was? Größer als das eigene kleine Ich mit seinen eigenen kleinen Anliegen. Allerdings macht es einen Riesenunterschied, ob man den einen großen Gott, an den man erst mal glauben muss, als das Größere betrachtet oder etwas, was man mit einigermaßen gesundem Menschenverstand als größeres Ganzes erkennt und anerkennt.

Interessanterweise ist Demut im Kommen, auch wenn man sie noch nicht so bezeichnet. Stimmen, die dem Menschen Demut abverlangen angesichts von etwas, was nun mal wirklich größer ist als er, sind noch nicht sehr machtvoll, aber es scheinen mehr zu werden.

Globalisierung ist eine größere Ganzheit der heutigen Zeit. An einen allmächtigen Gott musste man glauben, an die zunehmende Vernetztheit verschiedenster Bereiche nicht. Dennoch, da ja niemand das globale Ganze wirklich durchschaut, vermischen sich auch hier Fakten und Fiktion. Zudem waren in der Vergangenheit die Rollen klar verteilt: Auf der einen Seite der allmächtige Gott, auf der anderen Seite der ohnmächtige Mensch, dem die Demut verordnet wurde, durch die er die Gnade Gottes zu erlangen hoffte. Dagegen gibt es in der Vernetzung aller mit allen keine vorgefasste  Hierarchie – was bewirkt, dass sich tendenziell jeder im Krieg gegen jeden befindet, um die Rolle eines Mächtigen zu erhaschen und nicht in der Rolle eines Ohnmächtigen zu landen.

Zunehmende Umweltprobleme, die gezwungenermaßen auch international in den Fokus rücken, machen uns zudem auf die Natur als alle verbindende größere Ganzheit aufmerksam. Allerdings ist die Natur nicht offensichtlich als eine größere Macht. Sie lässt, ganz im Gegenteil, erst einmal alles mit sich machen – wodurch eher die Natur in der Rolle des Demütigen (und Gedemütigten!) landet und nicht der Mensch. Wie das längerfristig aussieht, ist eine andere Frage, aber der Horizont der meisten Menschen ist leider zu begrenzt, um längerfristig zu denken.

Fazit: Scheinbar entsteht Demut nur durch Unterdrückung, Gewalt oder Tricks und ist keine dem Menschen eigene Haltung, wenn er es irgendwie vermeiden kann.

Umlernen

Hier möchte ich gerne auf das Essay „Das größere Ganze“ verweisen, und bitte Euch, es noch mal durchzulesen.

Darauf aufbauend stelle ich fest: Man kann die Bereitschaft zur Demut lernen. Nicht nur in Indien, sondern in vielen Kulturen und vor allem bei allen Völkern, die sich eingebunden in natürliche Kreisläufe sehen, ist Demut viel selbstverständlicher als bei uns. Und Demut hat es an sich, dass sie sich, wenn sie in einem Bereich da ist, auch in vielen anderen Bereichen zeigt. Denn, wer einmal einen Sinn dafür entwickelt hat, dass er/sie eingebunden in etwas Größeres ist, der erkennt und achtet dieses Prinzip in den unterschiedlichsten Zusammenhängen.

Was aber, wenn man es nicht gelernt hat? Wer in einer Gesellschaft von Einzelkämpfern aufgewachsen ist, wird einige Zeit brauchen, um die Haltung gewohnheitsmäßigen Kämpfens abzulegen. Aber es ist möglich. Die im oben erwähnten Essay beschriebene Meditation unterstützt einen dabei. Wenn sie dich Tag und Nacht begleitet, wird sich dein Lebenskampf allmählich in Lebensfreude verwandeln:

Willkommens-Meditation

Wer sich täglich eine bestimmte Zeit lang in dieses indische Lebensgefühl hineinfindet, in dem alles achtens- oder verehrenswert ist, wird merken, wie die gewohnten inneren Begrenzungen anfangen sich aufzulösen. Alles gerät ins Fließen, das eigene Ich verliert seine zentrale Bedeutung und nichts muss mehr genauso sein, wie man es sich vielleicht vorgestellt hatte. Die Daseinsweise wird entspannter, der Blick auf die Welt und das eigene Leben wird freundlicher und Vertrauen wächst.

Bei dieser Meditation geht es nicht nur darum, alles hinzunehmen, die Antwort ist kein ergebenes „Was soll man machen, so ist es halt“. Das ist nur der Anfang. Dann erst kommt das Entscheidende: Alles so wie es ist, willkommen zu heißen. Während der Übung  ist die Antwort auf alles, was geschieht, ein Lächeln – vielleicht sogar ein fröhliches, vergnügtes.

Dies ist übrigens kein Rezept, unerwünschte Situationen zu umgehen. Sie werden sich weiterhin ereignen. Aber wer sagt denn, dass man sie missmutig, sorgenvoll, empört oder verletzt besser handhabt, als mit einem inneren Lächeln und dem Wissen, dass auch sie zum größeren Ganzen dazugehören?

Im Vedanta ist das ganze Leben Ausdruck des Göttlichen. Eine demütige Haltung macht einem das Leben nicht schwerer, sondern leichter. Man hört endlich auf, dem Leben ständig etwas Bestimmtes abringen zu wollen – was ja ohnehin nie wirklich klappt. Stattdessen nimmt man das an, was es einem schenkt und macht das Beste draus.

Den Kampf aufzugeben, bedeutet, die Vorstellung von Getrenntheit aufzugeben. Das ist noch nicht die höchste Erkenntnis, und man sollte sich weiter um sie bemühen. Aber solange man sie noch nicht hat, erleichtert es einem das Leben ungemein, wenn man es so lieben und wertschätzen kann, wie es nun mal ist.