Das ganze Leben ist eine Abfolge von Erfahrungen: körperliche, emotionale, geistige, spirituelle – wobei letztere bei den spirituellen Suchern hochbegehrt sind. Spirituelle Erfahrungen können in ihrer Tiefe, Schönheit und Erhabenheit tatsächlich umwerfend sein. Sie können den Sucher in eine vollkommen andere Dimension befördern und sein Welt- und Selbstbild auf wunderbare Weise erweitern und wandeln.
Und nun kommt Advaita Vedanta und schert alle Erfahrungen über einen Kamm, sogar die allereindrucksvollsten – indem es sagt, bezüglich der Wahrheitssuche verdient keine einzige Erfahrung besondere Aufmerksamkeit. Warum nicht?
Gehen wir das Thema mal positiv an, denn spirituelle Erfahrungen sind auch wertvoll. Also: Was ist ihr Wert? Ihr Wert besteht in der Erweiterung der bisherigen Perspektive. Denn wer davon ausgeht, dass die eigene Sicht eins zu eins die Realität des Lebens abbildet, der wird nicht in der Lage sein, etwas zu erkennen, das die Grenzen der eigenen Sicht sprengt. Für die meisten Menschen auf diesem Planeten, die die Wahrheit gar nicht finden wollen, ist dies kein Problem. Aber es ist ein großes Hindernis für die Wahrheitssucher, denn die Wahrheit über dich selbst und das Universum tut genau das: Sie sprengt die Grenzen der bisherigen Sicht. Insofern erfüllen spirituelle Erfahrungen einen Sinn. Sie dienen der Motivation des Wahrheitssuchers.
Aber sie können dem spirituellen Sucher auch eine Falle stellen, und leider laufen die allermeisten geradewegs hinein in diese Falle – indem sie die Erfahrung, die sie hatten, schon für das ersehnte Ziel der Suche halten. Weil diese Erfahrungen so besonders sind, meint man, der einzige Fehler bestehe darin, dass es einem nicht gelingen will, die Erfahrung aufrecht zu erhalten und für immer in ihr zu bleiben. Und diese Vorstellung ist ein fataler Irrtum, denn sie hält den Sucher in einer Endlosschleife gefangen. Weshalb endlos? Weil jede Erfahrung zeitlich begrenzt ist und unter keinen Umständen für immer aufrechterhalten werden kann. Wenn man es dennoch versucht, wird man es entweder bis in alle Ewigkeit versuchen oder man wird irgendwann resigniert aufgeben.
Alles, was kommt, wird auch wieder gehen – spätestens mit dem Tod ist es vorbei. Das ist eine Grundregel des Lebens. Und wer die Wahrheit sucht, der möchte sich nicht mit etwas zeitlich Begrenztem zufrieden geben – mit dem man ja ohnehin tagtäglich zu tun hat. Vielmehr sucht man nach dem, was niemals wieder vergeht.
Logisch bedeutet das: Man sucht sein wahres Selbst. Denn das wahre Selbst ist das einzige, was nicht aufrechterhalten werden muss. Ja, gar nicht aufrechterhalten werden kann. Warum nicht? Weil es das wahre Selbst ist, also das, was man jetzt schon ist und von allem Anfang an war – allein die Erkenntnis fehlt einem noch. Und da das wahre Selbst niemals einen Anfang hatte, hat es auch kein Ende.
Objekte
Zurück zu den Erfahrungen. Im Vedanta geht es nicht um sie. Warum nicht? Weil man stets Objekte erfährt. Auch dein Körper und physiologische Vorgänge, dein Denken und Fühlen – alles ist Objekt deiner Erfahrung.
Dem Vedanta jedoch geht es um die Suche nach dem, was du in Wahrheit bist, also nach dem Subjekt. Insofern ist alles, was Objekt ist, uninteressant, denn es kann sich nicht um das Gesuchte handeln.
Was wissen wir noch über Erfahrungen? Sie sind spezifisch, mal dies, mal jenes betreffend; sie sind zeitlich und örtlich begrenzt, und sie verändern sich ständig.
Der feine Unterschied
Um dem wahren Selbst auf die Spur zu kommen, analysiert Vedanta das Phänomen Erfahrung noch genauer und macht eine interessante Entdeckung, nämlich dass jede Erfahrung eigentlich aus zweierlei besteht:
zum einen aus dem jeweiligen Objekt, das man erfährt, und zum zweiten aus dem Wissen: Ich bin da.
Dies beides voneinander unterscheiden zu können, erfordert ein sehr feines Unterscheidungsvermögen oder, wie wir sagen würden: eine scharfe Buddhi, die man im Vedanta-Studium entwickelt. Ohne das „Ich bin da“ hätte man gar keine Erfahrungen, der Ich-Bezug muss zwingend mit dabei sein. Das „Existenzprinzip“ liegt all deinen Objekt-Erfahrungen zugrunde, denn eine inexistente Erfahrung ist gar keine Erfahrung.
Beim Sehen, Fühlen, Handeln geht es immer um etwas, was du nicht bist, da es Objekt deiner Wahrnehmung ist. Sogar wenn du sagst „ich lebe“, sprichst du tatsächlich über deinen Körper, der Objekt deiner Wahrnehmung ist. In der Aussage „Ich bin da“ dagegen kommt überhaupt kein Objekt vor.
Das Wissen „Ich bin da“ bleibt sich außerdem immer gleich, egal welche Objekterfahrung es begleitet. Es unterscheidet sich grundlegend von ihr, denn es verändert sich nie. Es ist weder zeitlich noch örtlich begrenzt, sondern jederzeit und an jedem Ort dasselbe.
Entscheidend für die Suche nach dem wahren Selbst ist: Bei diesem „Ich bin da“, „ich existiere“ geht es um dich. Das heißt, wir haben das Subjekt gefunden. Dass dieses „Ich bin da“ jede Objekt-Erfahrung erst möglich macht, bedeutet nichts anderes als: Alles Erlebbare hängt an deiner Existenz. Also wirklich und wahrhaftig alles.
Unglaublich, aber logisch: Wenn Du sagst „ich bin da“ sprichst du über dich als reines Existenzprinzip, das tatsächlich all deinen Erfahrungen erst ihre Existenz verleiht.
Das „Ich bin da“ kann auch nicht negiert werden, denn wenn du sagen würdest „ich bin nicht da“ beweist du allein dadurch schon wieder deine Existenz.
Das Existenzprinzip ist also dasselbe wie das, was du wirklich bist: Du bist reines Sein.
Bloß reines Sein??!
Okay, nun könnte man erleichtert aufatmen, denn man hat doch endlich die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ gefunden. Aber, wie die meisten bestätigen werden, ist das nicht die Reaktion auf die obige Analyse – selbst wenn sie einem einleuchtet. Sie mag ihre Logik haben, aber es stellt einen überhaupt nicht zufrieden, sich als reines Sein zu definieren – es sei denn, man hat bereits die vollständige Selbsterkenntnis erlangt. Jeder andere wird es vorziehen, sein wahres Selbst als das zu betrachten, was in den großartigen spirituellen Erfahrungen aufscheint: endlose Stille, endloses Entzücken, endlose Ekstase, endlose Glückseligkeit, endloser Frieden – selbst wenn sich die erhoffte Endlosigkeit dieser Erfahrungen immer wieder als Irrtum herausstellt.
Was sagt uns das? Zum einen zeigt die Reaktion auf das farblos daherkommende reine Sein, dass man ganz bestimmte Erwartungen darüber hat, wie es ist, wenn man die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ gefunden hat. Es zeigt, dass noch einige Entwicklungen notwendig sind, bis man die obige Antwort in ihrer ganzen großartigen Tragweite wertschätzen kann. Zum zweiten, und das ist viel wichtiger, ist unsere Reaktion ein Hinweis darauf, dass die Antwort „Ich bin reines Sein“ noch unvollständig ist.
Die Upanishaden sind die Quelle, wenn du wissen willst, was du wirklich bist. In ihnen geht es allein um diese Frage. 1 Sie sagen: Du bist deiner wahren Natur nach Atman bzw. Brahman und definieren dies als Reines Sein-Reines Bewusstsein-Grenzenlosigkeit.
Solange du nicht all diese Aspekte als dein wahres Selbst erkannt hast, ist die Erkenntnis zwar richtig, aber unvollständig. Das heißt, wenn du der obigen Analyse folgen kannst, nimm sie ernst! Tu sie nicht ab, nur weil sie nicht deiner Erfahrungswelt entspricht. Sie hat ihre Gültigkeit und ist ein Sprungbrett hin zur vollumfänglichen Erkenntnis, die dir die Ewigkeit erschließt – welche du in den Objekt-Erfahrungen vergeblich suchst.
Die Vollendung
Allein die Erkenntnis „Ich bin tatsächlich reines Sein-reines Bewusstsein-Grenzenlosigkeit“ ist das, was alle spirituellen Erfahrungen, und seien sie noch so großartig, als irrelevant entlarvt – weil nur das, was du wirklich bist, ewig ist. Du bist es jetzt, du warst es immer schon, du wirst es immer sein. Solange du das nicht als deine Wahrheit erkannt hast, bleibst du auf der Suche.
Aber mach kein Drama draus. Sei froh darüber, dass deine Buddhi dich nicht zur Ruhe kommen lässt, wenn diese Erkenntnis noch fehlt. In der Inkarnation als Mensch 2 hast du die einzigartige Chance, die Erkenntnis zu erlangen. Suche nicht nach einer Abkürzung, indem du spirituellen Erfahrungen auf den Leim gehst oder an Ideen über die Erleuchtung festhältst, die gar nicht stimmen können.
Du bist als Mensch geboren worden – der erste Segen. Du trägst den Wunsch nach Moksha in dir – der zweite Segen, und wenn du darum bittest, wirst du einen Lehrer finden, mit dem du ans Ziel der Suche gelangst – der dritte Segen.
Du hast die allerbesten Voraussetzungen, da du bereits die ersten beiden Segen empfangen hast. Jetzt vertraue dich dem Leben an – das dir geschenkt wurde, um deine Erkenntnis zu vollenden.
Fußnoten:
- Das Selbststudium der Upanishaden ist allerdings kontraproduktiv. Es ist so gut wie unmöglich, dass du dadurch das ersehnte Wissen erlangst, es sei denn, du kannst sehr gut Sanskrit und kennst dich aus mit dem Mimamsa, der Wissenschaft von der korrekten Interpretation vedischer Texte. Wenn das nicht der Fall ist, brauchst du einen Vedanta-Lehrer.
- Siehe Essay Der dreifache Segen.