Spirituellen Suchern ist dieser Satz wahrscheinlich schon öfter begegnet. Und er hört sich ja auch so richtig romantisch an, so poetisch und so wahr! Aber wer seine Bedeutung wirklich versteht, ist entweder erleuchtet oder er bekommt Gänsehaut, ob der Ungeheuerlichkeit dieser Aufforderung.

Da ich nicht davon ausgehen kann, dass die Mehrzahl der Leser erleuchtet ist und den Satz unmittelbar versteht, richte ich mich in diesem Essay an die anderen: diejenigen, die sich des Ernstes der Aussage noch gar nicht bewusst sind, sowie die, die erschrocken darauf reagieren und das Thema möglichst gleich wieder unter den Tisch fallen lassen möchten.

Ich fange mit den romantischen Schwärmern an. Ja, richtig, der Satz ist wahr. Aber was heißt das? für dich?! Es ist ja eine Aufforderung an dich: Stirb du, bevor du stirbst.

Logischerweise kann es sich nicht zweimal um dasselbe „du“ handeln, was da angesprochen wird, denn keiner stirbt zweimal hintereinander. Was soll da also sterben, bevor was stirbt? Okay, wer ein erfahrener spiritueller Sucher ist, weiß die Antwort darauf natürlich auch: Das Ego soll sterben, bevor der Körper stirbt.

So, und hier beginnen die Missverständnisse. Jeder ist sich darüber im Klaren, was passiert, wenn der Körper stirbt. Aber das Ego? Wie funktioniert das Sterben des Egos? Und was das Ego eigentlich ist, darüber haben ohnehin die wenigsten eine klare Vorstellung.

Deshalb landen wir bei dieser Analyse erst einmal ganz woanders als dort, wo wir begonnen haben, nämlich beim Ego. Nun gibt es zu diesem Thema schon ein anderes Essay, und damit dieses Essay nicht überdimensional lang wird, bitte ich euch, euch das andere Essay zuerst durchzulesen: Das Ego – das Ich – das Selbst

Und da ich weiß, dass nicht alle Leser den Aufforderungen eines Autors folgen, hier die Kurzfassung: Das Ego ist nicht die Schurkeninstanz in unserem Innern, die anderen das Leben zur Hölle macht. Sondern: Das Ego ist die Grundidentifikation von „mir als einem von allem anderen getrennten Ich“. Das Ego ist also das, womit jeder Normalsterbliche sich durchs Leben schlägt, seine Persönlichkeit.

Zurück zur Aussage: Stirb, bevor du stirbst. – Das heißt: Das, womit du, seit du denken kannst, Tag für Tag durch´s Leben navigierst, soll sterben. Zum Zeitpunkt deines Todes, also, wenn der Körper stirbt, dann soll das schon gestorben sein.

Wie romantisch ist das?!

Der Dreh- und Angelpunkt eines jeden Menschenlebens, die eigene Persönlichkeit, soll sterben, bevor der Körper in seine Bestandteile zerfällt.

Wie poetisch ist das?

Es ist weder romantisch noch poetisch. Aber es ist wahr.

Wenn man allerdings nicht versteht, warum es sinnvoll sein soll, dass die Persönlichkeit vor dem Körper stirbt, dann ist es einfach nur eine blödsinnige Aussage.

Und ab hier geht es auch um die, denen der Satz „Stirb, bevor Du stirbst“ zunächst einmal Angst macht.

Tod und Sterben …

… ist etwas, was es vom Standpunkt des Advaita Vedanta gar nicht gibt. Es gibt nur Transformation. Sowohl im Grobstofflichen wie im Feinstofflichen geht die Materie immer nur über in einen anderen Zustand, aber sie verschwindet nie. Selbst wenn das ganze Universum vorübergehend unmanifest wird, was gemäß dem Hinduismus irgendwann passieren wird, und auch schon oft passiert ist, geht die Materie nur vorübergehend in einen unmanifesten Zustand über. Und manifestiert sich dann irgendwann von neuem.

Nun, wenn man sich von der materiellen Ebene löst, dann gibt es ja gemäß dem Advaita Vedanta immer noch etwas – nämlich das wichtigste von allem, das, woran alles andere hängt: Sein-Bewusstsein-Grenzenlosigkeit. Aber auch das stirbt nicht, ja es geht noch nicht einmal durch verschiedene Zustände. Es ist das, was jeder Wahrheitssucher als seine wahre Natur erkennen will. Denn es ist das Einzige, was wirklich da ist, unwandelbar und ewig, und das bedeutet, es kann einem nie wieder abhanden kommen. Es ist auch gar nichts Neues, sondern ­– bislang unerkannt – war es schon immer da. Es ist durch und durch zuverlässig und daher vollkommen in Frieden.

Zwei Ichs

Stellen wir jetzt diese beiden Ichs einander gegenüber:

A – das, womit du, seit du denken kannst, Tag für Tag durch Leben navigierst, der dir bekannte Dreh- und Angelpunkt deines Lebens, die eigene Persönlichkeit: das von allem anderen getrennte Ich.

B – Reines Sein-Reines Bewusstsein-Grenzenlosigkeit, das Einzige, was wirklich da ist, unwandelbar und ewig, durch und durch zuverlässig und daher vollkommen in Frieden. Auf Sanskrit heißt es Atma, das wahre Selbst.

Wahrscheinlich ist A als vertrautes Prinzip den meisten doch sehr viel näher als das irgendwie abstrakte B, egal wie frei und friedvoll es sein mag.

B mag ein gewisses Sehnen im Herzen wecken. Aber ob das reicht, um A einfach mir nichts dir nichts, hinter sich zu lassen, ist zweifelhaft.

Insofern sollte man die Aussage „Stirb, bevor du stirbst“ ein bisschen realistischer betrachten. Es braucht tatsächlich Jahre oder Jahrzehnte, bis die Buddhi so fein und scharfsinnig unterscheiden kann, dass sie B eindeutig A vorzieht und nicht umgekehrt.

Dennoch lohnt es sich, sich dem Thema jetzt zu stellen. Schließlich wird definitiv irgendwann der Zeitpunkt kommen, wo einem keine Wahl mehr bleibt. Nur wer sich bis dahin eindeutig auf B ausgerichtet hat, der hat mit dem Tod auch eine Chance auf B.

Und wie sieht diese Chance aus? Die, die der Erkenntnis ihrer selbst als Reines Sein-Reines Bewusstsein-Grenzenlosigkeit schon sehr nahe gekommen sind, sie können auch im Sterbeprozess endgültig frei werden. Und denen, die noch am Anfang stehen, wird in einer zukünftigen Inkarnation all das, was sie schon erkannt haben, zugute kommen.

Im Leben befreit – Jivanmukti

Aber man muss ja nicht warten, bis der Tod vor der Tür steht, zumal man nie so genau weiß, wann das sein wird und ob man dann noch genug Zeit hat, sich um die Erleuchtung zu kümmern.

Betrachten wir daher den dir bekannten Dreh- und Angelpunkt deines Lebens noch einmal genauer: die eigene Persönlichkeit, das von allem anderen getrennte Ich. Was bedeutet das Festhalten an dieser Persönlichkeit? Es bedeutet vor allem ein gewisses Gefühl von Unzufriedenheit, von „es fehlt was“, von „ich will noch etwas erreichen“, denn die Persönlichkeit ruht nie vollkommen in sich selbst. Warum nicht? Weil sie eben nicht alles ist, sondern bestenfalls Teil von etwas Größerem. Und wenn doch einmal ein Gefühl vollkommener Zufriedenheit entsteht, dann wird es sich über kurz oder lang wieder verabschieden. Warum? Weil jede Persönlichkeit sich ständig verändert und Gefühle, Zustände und Gedanken ständig kommen und gehen.

Die Persönlichkeit wird nie frei werden. Nie.

Wenn du jedoch die Chance hast zu erkennen, dass du gar nicht dieser sich ständig verändernde, von allem anderen getrennte Teilaspekt bist sondern etwas viel Besseres – dann wäre es doch wirklich schade, diese Erkenntnis vor dem Tod des Körpers nicht zu erlangen!

Stirb, bevor du stirbst bedeutet, die vertraute Identität als Strebender, als Wünschender, als Hungernder, als Dürstender, als Suchender, als Bettler, einzutauschen gegen das Wissen, dass du das Einzige bist, was wirklich da ist, unwandelbar und ewig – das wahre Selbst.

Was du aufgibst, ist Hoffen und Wollen, Fürchten und Sorgen, Verlangen und Begehren, Planen und Abzielen, Erwarten und Fordern, Kämpfen und Ringen, Sich Mühen und Jagen. Was du erlangst, ist immerwährende Gegenwart, Frieden, wunschloses Glück.

Das Leben in dieser Erkenntnis ist ein Segen: jeder Tag, jede Minute, jede Sekunde. Nichts fehlt. Reine Fülle. Ewige Freiheit.

Du kannst diese Erkenntnis erlangen.

Allerdings nur, wenn du bereit bist, zu sterben, bevor du stirbst.