Zufriedenheit ist ein wünschenswerter Zustand, jedenfalls für die meisten jenseits der 30. Um Zufriedenheit herzustellen, wendet man im Allgemeinen das Patentrezept der Wunscherfüllung an, das sich jedoch stets nach einer Weile als unzuverlässig herausstellt. Erfüllte Wünsche bewirken oft tatsächlich eine Art Frieden, aber dieser Frieden nutzt sich über kurz oder lang ab, und ein neuer Wunsch fängt an, für Unfrieden zu sorgen.
Aus dieser Erfahrung heraus, entsteht in einigen das Ideal der Wunschlosigkeit. Wunschlosigkeit wird damit zum neuen Patentrezept zur Herstellung von Zufriedenheit. Viele haben sich schon darin versucht, die meisten allerdings vergeblich, denn es scheint in der Natur des Menschen zu liegen, Wünsche zu haben. Tatsächlich wirken viele Wunschlose ein wenig blutleer, und kaum jemand möchte sein wunschgeplagtes Leben gegen eine solche Leblosigkeit eintauschen.
Ein friedvolles Leben
Wenn man regelmäßig diese Essays liest oder einen Advaita-Lehrer hat, dann weiß man um das Schlüsselwort „Identifikation“. Man weiß, ein Leben ohne Handlung ist nicht möglich. Und es sind die Wünsche, die einen zum Handeln bewegen. Um es noch einmal zu wiederholen: Wünsche sind kein Problem. Auch Handlung ist kein Problem. Beides gehört notwendig zum Leben dazu. Niemand muss seine Wünsche aufgeben.
Doch Identifikation mit Wünschen oder mit Handlungen gehört nicht notwendig zum Leben dazu. Sie ist ein Problem. Dabei geht es vor allem um die Identifikation mit dem Ergebnis der eigenen Handlungen. Natürlich möchte man, dass die Handlung eine Wunscherfüllung bewirkt. Doch Identifikation bedeutet mehr, nämlich dass man nicht damit leben kann und will, sollte die Wunscherfüllung ausbleiben.
Spirituell orientierte Menschen versenken sich gerne in Meditation, in Andacht, Gebet oder ins Lesen inspirativer Texte und gelangen dadurch zu mehr Frieden. Dieser Friede klingt, wie die Zufriedenheit, nach der Übung ab, allerdings wird er, wenn die spirituellen Übungen längerfristig praktiziert werden, den Hang zur Identifizierung schwächen.
Auf diese Weise ist es tatsächlich möglich, ein recht friedvolles Leben zu führen. Es ist weder leblos noch blutleer, sondern einfach, natürlich und heiter. Man erlebt Höhen und Tiefen, aber ohne Identifikation mit ihnen, verlieren sie ihre Macht.
Wer auf äußeren Erfolg aus ist, empfindet so etwas vielleicht als zu wenig inspirierend, aber für alle anderen, ist es ein schönes Ideal. Insbesondere spirituelle Sucher schätzen sich oft glücklich, wenn sie in ihrem Leben irgendwann an einen Punkt kommen, wo das Leben durchweg freundlich und friedvoll verläuft.
Um es in der Sprache der Gunas auszudrücken: Man hat sich über das anstrengende Rajas-Tamas-Wechselbad erhoben und badet stattdessen in den reinen klaren Gewässern von Sattvaguna. Ab und zu kommt es noch zu Durchbrüchen von Rajas oder Tamas, aber sie sind kurzlebig und relativ selten. (Über die Gunas kann man hier noch mal nachlesen: Gewebe der Schöpfung – Gunas, Essay 7-2014).
Jenseits von Sattvaguna
Doch ist für spirituelle Sucher viel mehr möglich als bloße Zufriedenheit – wenn sie es denn anvisieren würden. Das tun viele jedoch nicht. Sie geben sich mit dieser sattvischen Haltung zufrieden, und falls sie jemals auf der Suche nach Erleuchtung waren, so haben sie sie aufgegeben oder vergessen.
Interessanterweise passiert das nicht, während Rajas und Tamas einem das Leben schwer machen. Denn Leidensdruck erzeugt den Wunsch nach Veränderung und auch die nötige Energie dafür. Sollte man also bereits nach Lösungen auf der spirituellen Eben suchen, wird man dabei bleiben, solange man noch Frustrationspotential hat. Doch je mehr man ins relativ friedliche Sattvaguna eintaucht, desto höher die Wahrscheinlichkeit, sich mit dem Gegebenen zufrieden zu geben
Man driftet relativ friedlich durchs Leben hindurch und irgendwann (hoffentlich) relativ friedlich aus dem Leben heraus. „Ja, und … kann man da sagen, ist doch toll! Warum soll man denn mehr wollen?!“ Niemand muss mehr wollen. Nur: Man schöpft seine Möglichkeiten nicht aus.
Dazu kommt, dass selbst der sattvischste aller sattvischen Menschen, wenn er ehrlich in sich hineinschaut, erkennt, dass es da eine kleine anhaltende Anspannung gibt, ein kaum spürbares und doch vorhandenes „es ist noch nicht rund, da ist noch mehr“. Da diese Empfindungen schwach sind und nicht ständig nach Aufmerksamkeit schreien, ist es möglich, sie zu ignorieren. Aber man kann sie nicht zum Verschwinden bringen – es sei denn, man macht sich klar, dass es etwas gibt, dass den Zustand der Zufriedenheit, den man erlebt, transzendiert. Und dass man, um echten Frieden zu finden, die Illusion aufgeben muss, Zufriedenheit sei bereits das Ende der Fahnenstange. Dem folgt dann automatisch die Suche nach dem, was denn nun wirklich das Ende der Fahnenstange ist.
Zufriedenheit ist relativer Frieden. Wer mehr möchte als relativen Frieden, muss sich aus dieser Zufriedenheit herauslösen – was nicht einfach ist, denn sie ist angenehm, angenehmer als das Leben, das die meisten Menschen auf dieser Welt führen.
Um sich darüber hinausbewegen zu wollen, muss man wissen, dass es sich lohnt. Was also ist das Potential, das mit bloßer Zufriedenheit nicht ausgeschöpft wird? Was ist jenseits des relativen Friedens noch möglich? Die Antwort ist leicht: absoluter Friede.
Aber ist der wirklich so verlockend? Einigen Suchern klingt absoluter Friede nach einem Synonym für Tod. Man könnte es auch profaner ausdrücken: gähnend langweilig. Hier kommen wir wieder zu dem, was ich vorletzten Essay behandelt habe (6-2015, „Das Ich aufs Spiel setzen?“), denn für das separate Ich ist mit dem absoluten Frieden wirklich kein Blumentopf zu gewinnen. Wem das hier nicht einleuchtet, dem empfehle ich unbedingt, das Juni-Essay noch einmal zu lesen.
Absoluter Friede
Was ist absoluter Friede wirklich? Absoluter Friede ist hundertprozentig unerschütterlich. Nichts, gar nichts, kann ihn uns nehmen. Tatsächlich gibt es absoluten Frieden nicht in Form einer Erfahrung oder eines Zustandes, den wir erleben können. Wäre es so, dann wäre er vergänglich und damit relativ.
Relativer Frieden, Zufriedenheit, ist da anders, er kommt und geht, ist mal mehr da, mal weniger. Zufriedenheit ist erlebbar – ein Zustand, den das separate Ich erlebt. Dieser Friede ist somit getrennt vom Ich, das ihn erlebt, und kann ihm jederzeit wieder abhanden kommen. Dagegen ist absoluter Friede vom wahren Selbst nicht zu trennen, beides ist identisch. Das wahre Selbst IST absoluter Friede; so unbegrenzt in Zeit und Raum das wahre Selbst ist, ebenso unbegrenzt in Zeit und Raum ist auch der absolute Friede. Wer dies wirklich erkannt hat, der findet nicht den Schatten eines Zweifels in sich, daran dass der Weg komplett ist und dass nichts, gar nichts, mehr fehlt. Diese vollkommene Gewissheit ist absoluter Frieden.
Warum schreibe ich dies? Ich wende mich an all diejenigen, die die Hoffnung aufgegeben haben, den Weg jemals zu beenden. Es stimmt: Relativer Friede ist definitiv schon fast das beste, was es gibt. Aber eben nur fast. Er ist nicht das allerbeste. Und das Allerbeste ist möglich! Allerdings hat das Allerbeste seinen Preis, und der besteht darin, sich aus der Sackgasse des relativen Friedens herauszubewegen.
Im Advaita Vedanta gilt die Fixierung auf den Zustand relativen Friedens, relativen Glücks, als letztes Hindernis auf dem Weg der Wahrheitssuche. Selbst der fortgeschrittenste Yogi, der in der Lage ist, sich immer wieder in Glückseligkeitszustände1 zu versetzen, ist Opfer dieser letzten Fixierung. Nicht anders diejenigen, die ein breites sattvisches Fundament erreicht haben, von dem aus sie denken, fühlen und agieren. Um ein bekanntes Bild zu gebrauchen: Sie bauen sich ein Haus ganz am Ende der Brücke, weil es dort so schön ist, statt die Brücke bis zum Ende zu überschreiten und ganz auf die andere Seite zu gelangen.
Dieses Haus am Ende der Brücke zu verlassen, kostet Überwindung. Denn ab sofort spürt man wieder ständig das leise Ziehen, die kleine Anspannung, von der ich oben gesprochen habe, die einem sagt, dass man noch nicht am Ende des Weges angelangt ist. Und oft spürt man noch etwas: Hilflosigkeit. Denn man hat sich auch deshalb mit dem relativen Frieden abgefunden, weil man nicht wusste, wie man darüber hinausgehen sollte.
Wer als einzige Methoden die oben angeführten Übungen hat, kann nur bis zum relativen Frieden kommen. Wie schon oft erwähnt, bereiten solche Methoden den Boden für die eigentliche Arbeit, die im Advaita Vedanta darin besteht, sich um Erkenntnis zu bemühen. Und zwar unter Anleitung eines lebenden Menschen, der diese Erkenntnis schon hat. Es geht nicht darum, einen Zustand herzustellen, sondern darum zu erkennen, dass man das, was dieser Zustand nur reflektiert, bereits ist: absoluter Friede. Diese Erkenntnis ist möglich, und wer sich den Luxus der Sehnsucht nach der Wahrheit wieder gönnt, dem werden sich neue Türen zu ihr öffnen.
Fußnote: