Wie um alles in der Welt kommt der Mensch eigentlich auf die Frage „Wer bin ich?“ Ist es nicht klar, wer man ist? Schließlich habe ich einen eigenen Namen, ein Geburtsdatum, eine Adresse, einen individuellen Körper, eine individuelle Art zu denken, eine individuelle psychologische Struktur, individuelle Vorlieben und Abneigungen usw. Auf dieser Erde gibt es weder in der Vergangenheit, noch in der Gegenwart, noch in der Zukunft einen anderen Menschen mit genau dieser Kombination, die mich ausmacht. Da haben wir doch die Antwort! Wonach fragen denn die Leute eigentlich, wenn sie die Frage „Wer bin ich?“ stellen?

Viele wissen es selbst nicht so genau, sie spüren nur, dass die obigen Kennzeichen nicht alles sein können. Und dieses Gespür wird durch die Aussagen der Schriften der Himalaja-Religionen 1 bestätigt; sie beschreiben das wahre Selbst als etwas ganz anderes als das, was sich durch individuelle Charakteristika auszeichnet. Vielmehr sprechen sie von einem Selbst, das eins ist (und nicht viele), ewig (und nicht zeitlich), absolut (und nicht relativ), und welches das Viele, Zeitliche, Relative durchzieht.

Doch wer die Wahrheit dieser Aussage erkennen und seine Definition als begrenztes Individuum hinter sich lassen möchte, steht vor einer nahezu unlösbaren Aufgabe. Selbst wenn er sich täglich eingehend der Frage widmet, wer er denn nun eigentlich ist, wird er allergrößte Schwierigkeiten haben, sie letztgültig zu beantworten. Allzu übermächtig ist die Unwissenheit über seine wahre Natur. Alle Menschen kommen mit dieser Unwissenheit auf die Welt und die meisten werden diese auch unwissend wieder verlassen. Wo findet man nur den Schlüssel, um sich von dieser grundlegenden Unwissenheit zu befreien?!

Advaita Vedanta hat hierzu zweierlei zu sagen

  • Nachdem ich zur Kenntnis genommen habe, was die Vedanta-Schriften als wahres Selbst definieren, geht es in erster Linie darum, das, was ich normalerweise für mich selbst halte, damit abzugleichen. Es geht darum, meine Vorstellungen systematisch zu hinterfragen und alle falschen Definitionen konsequent hinter mir zu lassen.
  • Um das zu tun, brauche ich jemanden, der diesen Erkenntnisprozess erfolgreich absolviert hat – also einen Lehrer, der erkannt hat, wer er wirklich ist, und der in der Lage ist, mir dabei zu helfen, es ebenfalls zu erkennen.

Zwar ist es unerlässlich, wenigstens irgendwoher die Information zu bekommen, was das wahre Selbst eigentlich ist. Damit sich dieses Wissen aus zweiter Hand jedoch in ein Wissen aus erster Hand verwandelt, brauche ich Unterstützung. Die Unwissenheit darüber, wer wir in Wahrheit sind, ist grundlegend. Sie verfestigt sich Laufe unseres Lebens immer mehr, denn unser Mind identifiziert sich zunehmend mit dem, was wir nicht sind. Die Wahrscheinlichkeit, sich auf der Suche nach dem wahren Selbst in unsere tief eingefahrenen Identifikationen zu verfangen, ist extrem hoch – jedenfalls wenn man sich allein auf den Weg macht. Deshalb braucht der Sucher auf dem Weg der Erkenntnis einen Lehrer.

Wie aber findet man einen Lehrer? Im Vedanta heißt es, wer wirklich bereit ist für einen Lehrer, der wird einen finden. Und woran erkenne ich, wie bereit ich bin? Die Frage „Wer bin ich?“ muss wichtig sein, ja, sie muss brennen; der Wunsch zu erkennen, wer ich wirklich bin, muss mir mehr bedeuten als die meisten anderen Dinge in meinem Leben oder sogar mehr als ALLES andere. Wenn das der Fall ist, werde ich die richtigen Schritte tun und einen Lehrer zu finden.

Was aber, wenn ich noch nicht soweit bin? Auch dann kann ich etwas tun, denn wenn ich noch nicht soweit bin, brauche ich offensichtlich noch mehr Vorbereitung. Tatsächlich gibt es insbesondere im Westen recht viele Sucher, die nicht vorbereitet genug sind. Einige von ihnen wissen sogar schon, wer sie wirklich sind, aber ihr Wissen ist instabil, weil ihnen ein solides Fundament fehlt. An diesem Fundament zu arbeiten, lohnt sich also immer. Zwar ist auch diese Arbeit effektiver, wenn sie von einem Lehrer begleitet wird, aber wenn man keinen hat, muss man sich halt alleine daran machen. Wie sieht diese Arbeit aus?

Im Advaita Vedanta unterscheidet man zwei Wege, den Weg des Handelns (Karma Yoga) und den Weg der Erkenntnis (Jnana Yoga). Allein der Weg der Erkenntnis führt zur Erleuchtung, während der Weg des Handelns den Boden bereitet für den Weg der Erkenntnis. Karma Yoga bereitet auf Jnana Yoga vor (spricht man wie spanisch mañana, ohne ma). Für Jnana Yoga braucht man notwendigerweise einen Lehrer, Karma Yoga kann man auch alleine üben.

Karma Yoga

Im Juli-Essay 2011 habe ich begonnen, dazu etwas zu schreiben. Jetzt möchte ich genauer ausführen, was Vedanta eigentlich unter Karma Yoga versteht.

„Karma“ ist Sanskrit und heißt übersetzt Handlung, Aktion, Tat. Es geht im Karma Yoga darum, mit einer bestimmten Einstellung zu handeln. Auch auf diese habe ich schon öfter hingewiesen, allerdings nie explizit. 2

Um als Karma Yoga bezeichnet werden zu können, müssen Handlungen den folgenden drei Kriterien genügen:

  1. Karma Yoga erfüllt seinen Sinn nur, wenn alles, was man tut, sich letztlich am Ziel Moksha ausrichtet und nicht an den Zielen Sicherheit oder Wohlgefühl (siehe Essay 4/2012).
  2. Ausschlaggebend für Karma Yoga ist bei jeglichen Handlungen die folgende Haltung: Ich tue, was ich tun kann und weiß, dass das Ergebnis meiner Handlung nicht in meiner Hand liegt (siehe letztes Essay). Das heißt, dass ich zwar von meinen Handlungen überzeugt, aber nicht mit ihnen identifiziert bin.

Hierzu gehört im Vedanta notwendig das Göttliche. Das Göttliche ist nichts anderes als die Gesamtheit aller natürlichen Gesetze und Ordnungen und ihr nahtloses Ineinandergreifen. Man nennt es Ishvara. Karma Yoga bedeutet: Ich handle nach bestem Wissen und Gewissen und überlasse das, was dabei rauskommt, Ishvara.
Ethisches Handeln, wobei die Ethik sich nach einem relativ einfachen Grundmuster richtet: Ich handle so, wie ich gerne behandelt werden möchte und ich handle nicht so, wie ich selbst nicht behandelt werden möchte. Dieses Grundmuster nennt man Dharma und man geht davon aus, dass Dharma universell ist. Da niemand gerne verletzt wird, sollte man zum Beispiel darauf achten, niemanden zu verletzen. Da niemand gerne betrogen wird, sollte man niemanden betrügen usw. Selbstverständlich muss man im Einzelfall den kulturellen, gesellschaftlichen und individuellen Kontext berücksichtigen, aber mit dieser Faustregel kommt man schon recht weit.

Wer beginnt, einen Karma Yoga-Lebensstil zu kultivieren, dessen Geist klärt sich, er entwickelt Gelassenheit, Selbstbeherrschung, Vertrauen – alles Charakteristika, die man braucht, um den Weg der Erkenntnis zu gehen.

Vorschläge

Zwar bezieht sich Karma Yoga auf jegliches Tun; es gibt jedoch einige Handlungen, die den Karma Yogi besonders dabei unterstützen, eine charakterliche Struktur zu entwickeln, welche ihm im Jnana Yoga helfen wird. Hier eine kleine Auswahl:

Verschiedene Formen der Meditation helfen in unterschiedlicher Weise. Da es ja um die Vorbereitung des Suchers geht, ist hier allein von der Meditation mit Objekt die Rede, siehe das Essay 6/2011, das das Thema Meditation bereits behandelt.

Einige Meditationsformen helfen, sich zu entspannen und bringen den Mind zur Ruhe – eine notwendige Voraussetzung für die Erkenntnisarbeit. Verbunden mit Entspannung ist ein Gefühl der Erweiterung, das wertvoll ist, weil es die Identifikation mit unserer eigenen kleinen Ego-Welt lockert. Andere Meditationsformen helfen, den Mind zu fokussieren, zum Beispiel die Konzentration auf den Atem oder ein Mantra, Rezitationen oder das Ausführen von Ritualen. Der Mind als Hauptinstrument der Erkenntnisarbeit wird auf diese Weise diszipliniert und widerstandsfähig gemacht gegen unnötige Ablenkungen. Meditation kann auch die Form einer Kontemplation über ein bestimmtes Thema, einen Wert o.ä. annehmen.

Was hilft mir noch bei der Vorbereitung auf den Erkenntnisweg?

Die so genannten fünf Opfer – das klingt dramatischer als es ist. Tatsächlich geht es darum, sich Tag für Tag in Hingabe für etwas Größeres zu öffnen:

1. dem Göttlichen
2. den Weisen
3. den Vorfahren
4. den Mitmenschen
5. anderen Lebewesen und der Umwelt.

Was kann ich dem Göttlichen, Ishvara, also der Gesamtheit aller wirksamen natürlichen Gesetze und Ordnungen geben? Eigentlich nichts außer Dankbarkeit. Mir täglich ein wenig Zeit für diese Dankbarkeit zu nehmen, gehört ebenfalls zu einem vom Karma Yoga durchzogenen Lebensstil.

Was kann ich den Weisen geben? Ich wertschätze die Weisen, indem ich ihre Schriften lese und darüber reflektiere.

Was kann ich den Vorfahren geben? Fürsorge, falls sie noch am Leben sind und ebenfalls Dankbarkeit, denn ohne sie wäre ich nicht hier. Selbst wer ein schwieriges Verhältnis zu Eltern und Großeltern hat, verdankt ihnen zumindest das Leben. 3 Jeder kann selbst entscheiden, wie er/sie dieser Dankbarkeit Ausdruck verleihen möchte.

Was kann ich den Mitmenschen geben? Was kann ich anderen Lebewesen und der Umwelt geben? Der Zugang zu diesen beiden Punkten wird westlichen Lesern leicht fallen. Jegliche Form von gesellschaftlichem Engagement, Tierschutz, Naturschutz, Umweltschutz – all dies gehört zu einem Karma-Yoga-Lebensstil. Ich kann Zeit, Freundlichkeit, meine Fähigkeiten oder Geld geben. Auch Nachbarschaftshilfe, die Bepflanzung meines Balkons, das Füttern der Vögel im Winter, Mülltrennung usw. gehören hierzu.

Wer sein Leben genauer betrachtet, wird erkennen, dass er bereits viele dieser „Opfer“ bringt – und falls nicht, ist es relativ leicht, sie ins eigene Leben einzubauen.

Ansonsten sind der eigenen Kreativität keine Grenzen gesetzt, denn wie gesagt, kommt es vor allem auf die Haltung an, mit der man etwas tut, und weniger auf das Tun selbst. Je mehr meine Handlungen den drei obigen Kriterien genügen, desto mehr prägt Karma Yoga mein Leben; je mehr Karma Yoga mein Leben prägt, desto mehr Grundlagen habe ich für Jnana Yoga und desto wahrscheinlicher ist es, dass ich einen geeigneten Lehrer finde, um meine Erkenntnisarbeit sinnvoll zu unterstützen.

Fußnoten:

  1. Kurz für alle der Himalaja-Region entsprungenen spirituellen Richtungen (im Gegensatz zu den monotheistischen abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam).
  2. Hinweise zum Thema Karma Yoga finden sich in den Essays Was kann ich tun?, Die Wahrheitssuche und die ZeitHingabeAltern und  Logisch und Psychologisch.
  3. Aus diesem Grunde legt auch Bert Hellinger in der Familien-Aufstellungsarbeit Wert darauf, dass man sich vor den Vorfahren verneigt.