Teil 1
Das Virus
Wir befinden uns seit mehr als einem Jahr in einer zunehmend unplanbaren Phase des Lebens. So jedenfalls empfinden viele den Kontrollverlust im bislang gut sortierten1 Deutschland. Tatsächlich erscheint diese Phase nur deshalb so unplanbar, weil wir aus einer außergewöhnlich langen Phase vermeintlicher Planbarkeit unversehens in diese Pandemie hineinkatapultiert wurden, die alle Pläne über den Haufen warf und wirft.
Man kann natürlich behaupten, dass es nicht die Pandemie ist, die die Pläne über den Haufen warf, sondern die hysterischen Leute, die Politiker, die Wissenschaftler, die Überalterung, die Covidioten, die EU, Bill Gates oder was immer. Doch selbst all dies gehört mit zu dieser besonderen Zeit. All diese intelligenten oder dummen, konstruktiven oder destruktiven Kräfte wurden durch die Pandemie losgetreten und entfalten mit ihr ihre besondere Wirkung. Wir mögen das bedauern oder begrüßen – das Gesamtpaket ist eine Tatsache des Lebens, nicht mehr und nicht weniger. Und das auch, wenn man meint, es gäbe gar keine Pandemie.
Planbarkeit ist Anti-Life. Das Leben ist so angelegt, dass es unsere Pläne ständig durchkreuzt. Nicht, weil ihm daran gelegen wäre, uns unglücklich zu machen, sondern weil seine Gesetzmäßigkeiten so komplex sind, dass unser beschränkter Geist gar nicht alle mit einplanen kann. Nicht einmal ein Hochleistungscomputer wäre dazu in der Lage. Denn auch er ist nur Teil des Lebens und nicht das Leben selbst.
Dennoch fällt es den meisten Menschen schwer, mit nicht planbaren Situationen umzugehen. Wenn man sich die Reaktionen auf das Unplanbare anschaut, fällt auf, dass sie viel damit zu haben, die Begrenztheit des eigenen Wissens zu akzeptieren. Die wenigsten können Unwissenheit aushalten – schon gar nicht in einer Gesellschaft wie der unseren, in der jeder ständig mit Informationen und vermeintlichen Informationen über alles und jedes versorgt ist. Daraus hat sich die Vorstellung entwickelt, dass jeder jederzeit alles Wissen zur Verfügung hat und daher auch in der Lage ist, intelligente und valide Schlüsse zu ziehen.
Das allerdings ist ein Irrglaube. Wäre es so, gäbe es keine Schulen, Ausbildungen, Universitäten, keine Fachbereiche, Unterfachbereiche usw. usf. Jeder, wirklich jeder Mensch auf dieser Welt, kann beherzt davon ausgehen, dass ihm das meiste Wissen auf dieser Welt fehlt. Das ist eine einfache Tatsache, die für viele schwer zu verkraften ist.
Tatsachen anerkennen
„Ich weiß, dass ich nicht weiß“
Tatsächlich ist es die schwierigste Aufgabe, die man einem modernen Menschen abverlangen kann: Akzeptiere deine Unwissenheit als Fakt. Oder die noch schwierigere Variante: Akzeptiere die grundlegende Unwissenheit aller als Fakt. Die eigene Unwissenheit zu akzeptieren, bedeutet allerdings nicht, es dabei zu belassen. Doch wenn man versucht, sich und anderen weiszumachen, man wüsste bereits Bescheid, dann wird man sich nicht als jemanden begreifen können, der in einem Lernprozess steckt. Und wenn man außerdem meint, die anderen müssten über die Unwissenheit erhaben sein, denn neigt man dazu, die anderen zu bekämpfen, statt sich dem eigenen Lernfortschritt zu widmen.
Nun befinden wir uns zur Zeit in der außergewöhnlichen Situation, die jedem, ob er will oder nicht, tagtäglich vor Augen führt, dass kein einziger heute lebender Mensch genau weiß, wie man mit einer Pandemie umgeht. Und wahrscheinlich gab es auch noch nie einen, der es wusste, allein schon deshalb, weil die Welt nie zuvor so vernetzt war, dass sich eine Pandemie diesen Ausmaßes überhaupt hätte entwickeln können.
Wenn alle Menschen zumindest diese eine Tatsache anerkennen würden, wären wir schon sehr viel besser dran. Denn dann wären sich alle klar darüber, dass sich die gesamte Menschheit gerade in einem gigantischen Lernprozess befindet. Bitte sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: in einem gigantischen Lernprozess. Und du bist Teil davon!
Das taucht diese Zeit in ein ganz anderes, positives, hoffnungsvolles Licht. Es eröffnet neue Perspektiven, auch wenn sie noch unbekannt sind. Es duftet mehr nach Abenteuer, Forschen und Entdecken und klingt weniger nach Kriegsgeheul gegen das Virus und/oder gegen die Beschränktheit der „anderen“.
Als Menschen haben wir die wunderbare Fähigkeit dazuzulernen. Auch wenn wir niemals alles wissen werden, lohnt es sich, verstehen zu wollen und die Umstände, welcher Art auch immer sie sind, zu nutzen, um sich weiterzuentwickeln. Im Falle der Pandemie müssen wir dabei nicht unbedingt die medizinischen, wirtschaftlichen oder sozial-psychologischen Hintergründe ergründen wollen. Das kann dazu gehören, doch viel wichtiger ist es, neue Möglichkeiten zu entdecken, die sich aus der veränderten Lage ergeben und neue Fähigkeiten zu entwickeln, um die Situation besser zu bewältigen.
Lernen und verstehen zu wollen, ist der auch Schlüssel für alle, die sich fürs Vedanta interessieren. Sie macht aus einem spirituellen Sucher einen mumukshu, einen, der Moksha will. Und was für ein Moksha? Das Moksha der Upanishaden, das in der Selbsterkenntnis besteht – die sich einem durch den Erkenntnisweg offenbart, um den es dem Advaita Vedanta geht. Nur wer lernen will, verstehen will, erkennen will, ist ein Kandidat für diesen Weg und wird die Erkenntnis erlangen.
Die Gunas
Um dem Rest des Essays folgen zu können, bitte unbedingt auf die angegebenen Essays zurückgreifen, die die verwendeten Begriffe genauer erläutern.
Analysieren wir zunächst einmal genauer, wie wir Menschen versuchen, eine Situation des Nicht-Wissens zu bewältigen.
Strategie Nr. 1: Verdrängen
Strategie Nr. 2: Beschuldigen
Strategie Nr. 3: Aushalten
Strategie Nr. 4: Lernen
Die erste entspricht von den Gunas 2 her einer tamasischen Haltung, die zweite einer rajasischen und die letzte einer sattvischen. Die dritte ist eine Mischung aus allen Gunas, wobei das individuelle Mischungsverhältnis bestimmt, wie erfolgreich sie ist.
Zuerst die tamasische Lösung, Strategie Nr. 1:
Man versucht, das Problem so gut es geht, zu verdrängen und sich möglichst bequem in den gegebenen Umständen einzurichten.
Genau so geht übrigens die Mehrheit der Menschen mit der Tatsache um, dass sie nicht wissen, wer sie sind. Sie wählen Strategie Nr. 1, d.h. sie bleiben lieber bei der Version ihrer selbst, die alle anderen auch vertreten – ich bin Körper/Mind – und fragen nicht weiter.
Strategie Nr. 2, die rajasische Lösung: Diejenigen, denen die Verdrängung der Problematik nicht gelingt, müssen mit stärkeren Geschossen auffahren. Sich ihr Nicht-Wissen über das Virus einzugestehen, ist auch für Rajas-betonte Menschen keine Option, aber sie finden sich nicht mit Situationen ab. Als geborene Kämpfer finden sie Schuldige, um ihrer uneingestandenen Verunsicherung Herr zu werden. Was nützt ihnen das?
- Man hat etwas Fassbares (Menschen, Außerirdische, Fabelwesen), in das man alles Mögliche hineinprojizieren kann – was immer noch besser ist als ein unsichtbares winziges Etwas, dessen Eigenschaften niemand wirklich kennt und das sich obendrein ständig unvorhersehbar verändern kann. Vorteil: Ich weiß, womit ich es zu tun habe und was ich bekämpfen kann.
- Oft findet man auch Mitstreiter oder zumindest Leidensgenossen, die sich dieselben Schuldigen ausgesucht haben, was tröstlich ist. Vorteil: Ich bin nicht mehr allein.
- Man gehört zu der Elite, die das ganze perfide Spiel derer durchschaut haben, die das Virus in die Welt gesetzt haben, oder die finstere Motive haben, wenn sie es so bekämpfen, wie sie es tun; dies stärkt das angeschlagene Selbstwertgefühl. Vorteil: Ich weiß es besser als die große Masse.
Auch bezogen auf die Unkenntnis über das eigene wahre Selbst gibt es diese zweite Strategie. In jedem Mensch rumort eine Ahnung davon, dass mit der eigenen Körper-Mind-Identifikation irgendetwas nicht stimmen kann. Man weiß nur nicht, was das sein könnte und kennt keinen kreativen Weg. Tatsächlich ist das, was man als untergründig nagendes Gefühl von „Irgendetwas fehlt“ erlebt, ähnlich ungreifbar wie dieses Virus. Daher wird normalerweise die Verdrängungs-Strategie gewählt.
Doch die Menschen, die ihre Frustration über das „Irgendetwas fehlt“ nicht verdrängen können, sind mit sich selbst im Unfrieden. Allerdings wissen sie nicht, wie sie in sich selbst Frieden finden können, und so bestimmen sie Situationen und Menschen, die sie für den erlebten Unfrieden verantwortlich machen. Sie wählen die Strategie Nr. 2: Beschuldigen.
- Erlangen sie dadurch Frieden? Nein, aber wenn man etwas Fassbares als Verursacher des verspürten Unfriedens benannt hat, verschafft dies eine gewisse Erleichterung: Das Problem ist meine Ehe oder die Nachbarn oder die Umstände in meiner Kindheit. Vorteil: Ich weiß jetzt, womit ich es zu tun habe und was behoben werden muss, damit ich endlich Frieden finde. Man hat also die Lösung in die Zukunft verschoben. Und wie wir wissen, wird, selbst wenn man dadurch kurzzeitig Frieden erlangt, dieser schon bald vom zugrunde liegenden Mangelgefühl abgelöst werden, welches sich dann flugs einem anderen vermeintlichen Verursacher zuordnet.
- Auch hier findet man vielleicht Verbündete, die sich dasselbe Schuldige ausgesucht haben. Vorteil: Ich bin nicht mehr allein.
- Das Ich weiß es besser als andere trifft in dieser Hinsicht weniger zu.
Die dritte Strategie ist (hinsichtlich der Pandemie) die verbreitetste. Glücklicherweise, denn wären Strategie 1 (Verdrängung) und 2 (Schuldzuweisung) in der Summe stärker als die dritte, ginge es allein um Emotionen – egal wie gut diese als intellektuelle Argumente getarnt sind. Und wie wir wissen, ist die Lernfähigkeit des emotionale Minds (manas) äußerst beschränkt. Das liefe auf Anarchie hinaus. Jeder würde nur noch seinen eigenen raga/dveshas 3 folgen, ohne jede Einsicht in größere Zusammenhänge und ohne jede Be-Achtung des Dharma.4
Bei der dritten Strategie dagegen sind alle Gunas mit im Spiel, wodurch keins das eigene Handeln komplett bestimmt. Hinsichtlich sattva guna mag das bedauerlich sein, doch relativ reines sattva guna ist ohnehin selten. Stattdessen regt man sich mit Strategie Nr. 3 manchmal auf (rajoguna), beruhigt sich dann wieder (tamoguna), erhebt sich über die eine oder andere Identifikation (sattvaguna) und wartet ab. Manchmal diszipliniert man sich (rajoguna), dann wieder vergisst man alle Vorsichtsmaßnahmen (tamoguna) und hin und wieder lernt man etwas dazu (sattvaguna). Aus dieser Mischung erwächst eine recht gute Frustrationstoleranz, d.h. raga/dvesha hält sich in Grenzen, so dass man größere Zusammenhänge und das Dharma be-achten kann.
Für praktische Belange ist das genug, in der Pandemie sind wir darauf angewiesen, dass die meisten Menschen diese Strategie verfolgen. Was zum Glück der Fall ist.
Hinsichtlich der Antwort auf die Frage „Wer bin ich wirklich?“ ist Strategie Nr. 3 ebenfalls unterstützend, allerdings wird man die Frage auf diese Weise nicht beantworten können, denn dazu muss man willens und in der Lage sein zu lernen, also neues Wissen zu erwerben, zu verarbeiten, zu behalten und daraus logische Schlüsse zu ziehen.
Kommen wir also zur vierten Strategie: Lernen – willens und in der Lage sein, neues Wissen zu erwerben, zu verarbeiten, zu behalten und daraus logische Schlüsse zu ziehen.
Fehlendes Wissen ist unangenehm, also versucht man mit dieser Strategie, Unwissen durch Wissen zu ersetzen. Mit einem Wort: Man lernt dazu. Auch wenn man vielleicht nicht sicher ist, ob und wo man in einer schwierigen Situation brauchbare Antworten findet, man sucht sie und bleibt dran, selbst wenn es schwierig sein sollte. Das ist eine sattvische Haltung, egal, ob bezogen auf die Pandemie oder die offene Frage nach der eigenen wahren Natur.
Wer bis hierhin gelesen hat, kann jetzt erst mal eine kleine Pause einlegen, um die Inhalte zu durchdenken, den Verweisen auf andere Essays zu folgen und zu eigenen Schlüssen zu kommen.
Doch wir sind noch nicht am Ende. Zwar ist eine sattvische Haltung eindeutig die beste, sie lässt sich jedoch nur aufrechterhalten, wenn der Mind in einer ganz bestimmten Verfassung ist.
Damit dieses Essay nicht zu lang wird, gibt es den letzten Teil erst in einer Woche für all die, die neugierig sind, wie die vierte und letzte Strategie funktionieren kann.
Fußnoten:
- Doppeldeutigkeit beabsichtigt
- Essay: Gewebe der Schöpfung
- Essay: Buddhi-Fitness-Training und Essay: Die Quelle der Freude
- Essay: Das, was trägt und Essay: Erfüllung finden