… ist Dharma – so heißt es im Veda und damit auch im Vedanta. Wer sehnt sich in unsicheren Zeiten wie diesen nicht nach etwas, was trägt? Dharma zu verstehen und integriert zu haben, ist also gerade in Krisenzeiten außerordentlich wichtig.
Deshalb werden alle Vedanta-Lehrer immer wieder über Dharma sprechen, denn Krisenzeiten sind unausweichlich im Leben, und wer keine eindeutige dharmische Ausrichtung gefunden hat, läuft Gefahr, an ihnen zu scheitern. Sein Mind liegt im Streit mit sich, Gott und der Welt und wird daher keinen Frieden finden.
Auf dem Weg der Erkenntnis ist es grundlegend, Dharma in seinem ganzen Facettenreichtum zu verstehen. Weil Dharma so viele Facetten hat, wird es mehrere Essays dazu geben. Ich möchte nicht zu viele Gesichtspunkte in ein einziges ellenlanges Essay packen. Besser ist es, wenn man sich jedem einzelnen Essay eingehend widmet, die Argumentation nachvollzieht und die Anregungen gegebenenfalls umsetzt. 1
Wer wissen will, wer oder was er in Wahrheit ist, dessen höchstes Ziel ist Moksha. Dazu gehören all die, die das Vedanta studieren. Sie allerdings haben nicht nur dieses höchste Ziel, sondern auch einen höchsten Wert, und das ist Dharma. Dharma hat in unterschiedlichen Zusammenhängen viele Bedeutungen. Hier geht es zunächst einmal um dharma purushartha, also den Wunsch, ein guter Mensch zu sein, das Ziel, sich selbst im Spiegel in die Augen schauen zu können:
Dharma bedeutet:
Ich behandle andere so, wie ich behandelt werden möchte,
und ich behandle niemanden so, wie ich nicht behandelt werden möchte.
Bis hierhin können wahrscheinlich alle nur zustimmend nicken – in der sicheren Überzeugung, diesem Wert meistens gerecht zu werden.
Nun ist es aber so, dass jeder Handlung eine bestimmte Einstellung zugrunde liegt. Es ist zweifellos schon mal gut, wenn man dharmisch handelt, selbst, wenn man im Innern ganz anders denkt oder fühlt. Aber kein Mensch kann seine innere Haltung stets und ständig vor anderen zu verbergen. Sie wird sich zeigen, egal, wie sehr man sich bemüht, ihr keinen Ausdruck zu geben. Wenn die Haltung hinter dem Verhalten nicht ebenfalls dharmisch ist, ist Dharma lediglich ein Konzept. Es gründet auf Unterdrückung und nicht auf einem echten Verständnis für Dharma.
Das heißt, dharmisches Verhalten muss auf einer dharmischen Einstellung beruhen. Wir formulieren die obige Maxime entsprechend um und sagen statt „Ich behandle andere so, wie auch ich behandelt werden möchte, und ich behandle niemanden so, wie auch ich nicht behandelt werden möchte“
Dharma bedeutet:
Ich schaue auf jeden so, wie ich mir wünsche, dass er/sie auf mich schaut,
und ich schaue auf niemanden so, wie auch ich nicht betrachtet werden möchte.
Zwei Komponenten haben sich verändert:
- Aus Behandeln wird Betrachten – aus äußerer Aktivität wird also innere Einstellung. D.h. egal, was ich letztlich tue, ich gehe grundsätzlich erst einmal davon aus, dass jemand gute Absichten hat. Denn genauso möchte ich auch von anderen betrachtet werden. Ich möchte nicht, dass andere mich argwöhnisch beäugen, sondern ich möchte, dass sie davon ausgehen, dass ich ihnen gut gesonnen bin oder zumindest keine Absicht habe, ihnen zu schaden. Wenn ich so auf andere schaue, dann bin ich grundsätzlich offen und freundlich. Dazu muss ich meinen gesunden Menschenverstand nicht ausschalten. Und natürlich kann ich mich von etwas abgrenzen, was nicht zu mir passt. Es ist nicht adharmisch, sich höflich aus einem Kontakt zurückzuziehen. Doch ein dharmischer Mensch wird niemanden verurteilen; er weiß, jeder ist genau so, wie er sein kann. Könnte er anders, wäre er anders.
- Aus „andere“ wird „jeder“. D.h. ich mache keine Ausnahmen. Egal, ob mir das Aussehen, das Auftreten, der Beruf, die Partei, die Art zu sprechen usw. von jemandem gefällt oder missfällt: Ich bleibe bei meinem Grundsatz, erst einmal zu erwarten, dass dieser Mensch gute Absichten hat. Auch hier heißt es nicht, sich blauäugig und einfältig durchs Leben zu träumen, sondern jeden erst einmal mit Offenheit und Freundlichkeit zu betrachten. Auch hier gilt (siehe oben): Dazu muss ich meinen gesunden Menschenverstand nicht ausschalten. Und natürlich kann ich mich von etwas abgrenzen, was nicht zu mir passt. Es ist nicht adharmisch, sich höflich aus einem Kontakt zurückzuziehen. Doch ein dharmischer Mensch wird niemanden verurteilen; er weiß, jeder ist genau so, wie er sein kann. Könnte er anders, wäre er anders.
Eine dharmische Haltung zeigt sich dadurch, dass du hinter all deine Reaktionen, Gedanken, Gefühle, Analysen und Überzeugungen, die der Maxime
„Ich schaue auf jeden so,
wie ich mir wünsche,
dass er auf mich schaut,
und ich schaue auf niemanden so,
wie auch ich nicht angesehen werden möchte“
entgegenstehen, ein ganz großes Fragezeichen setzt. Und zwar immer.
Das ist eigentlich schon genug. Sofern du ausreichend Unterscheidungsfähigkeit hast, wirst du täglich über viele deiner Reaktionen stolpern, wo dieses Fragezeichen hingehört.
Und warum war das noch mal wichtig? Was bringt mir eine dharmische Haltung?
Dharma ist das, was trägt – was gerade in Krisenzeiten wichtig ist,
denn:
Dharma ist das, was trägt – ohne Dharma keine Gelassenheit,
Dharma ist das, was trägt – ohne Dharma keine Frustrationstoleranz (siehe Essay Frustrationstoleranz),
Dharma ist das, was trägt – ohne Dharma keine Selbstbeherrschung,
Dharma ist das, was trägt – ohne Dharma kein Vertrauen (siehe Essay Vertrauen),
Dharma ist das, was trägt – ohne Dharma keine eindeutige Ausrichtung auf dein höchstes Ziel, Moksha.
All diese Eigenschaften zusammengenommen, tragen dich durch Krisenzeiten. Stell dir vor: eine Krisenzeit ohne Gelassenheit, ohne Frustrationstoleranz, ohne Selbstbeherrschung, ohne Vertrauen, ohne eindeutige Ausrichtung auf Moksha –- wie wäre das?
Und spiel es für dich durch, damit du es wirklich verstehst:
Wieso verleiht mir eine dharmische Haltung Gelassenheit?
Wieso verleiht sie mir Frustrationstoleranz?
Wieso verleiht sie mir Selbstbeherrschung?
Wieso verleiht sie mir Vertrauen?
Wieso verleiht sie mir eine eindeutige Ausrichtung auf Moksha?
Hier noch ein viertes Mal die dharmische Haltung:
Dharma bedeutet:
Ich schaue auf jeden so, wie ich mir wünsche, dass er/sie auf mich schaut,
und ich schaue auf niemanden so, wie auch ich nicht betrachtet werden möchte.
Wenn du den Zusammenhang zu Gelassenheit, Frustrationstoleranz, Selbstbeherrschung, Vertrauen und einer eindeutigen Ausrichtung auf Moksha nicht sehen kannst, frag mich. Ich werde es erklären.
Fußnote: