Das berühmte Hier und Jetzt erscheint vielen geradezu als Synonym für Erleuchtung; das Bemühen, ins Hier und Jetzt zu kommen, spielt daher auf dem spirituellen Weg oft eine herausragende Rolle.
Das Hier und Jetzt ist tatsächlich eine entspannende Sache, insbesondere für alle, die zu den im letzten Essay beschriebenen Kontrollmustern neigen. Und das sind wie gesagt die meisten Menschen. Yoga-Übungen, Meditation, Waldlauf, Konzentriertes Arbeiten und Lernen, Malen, Musizieren, Tantra und vieles andere mehr hilft, die eigene Aufmerksamkeit ins Hier und Jetzt zu verlagern. Dies ist auf dem spirituellen Weg sehr wichtig, denn im Hier und Jetzt gibt es kaum oder keine Gedankenaktivität und daher auch keine Sorgen oder Entscheidungsnöte. Daher ist der Mind relativ still und ein solchermaßen beruhigter Mind ist der Erkenntnis der Wahrheit sehr dienlich –er ist einfach nicht dauernd mit Angelegenheiten beschäftigt ist, die für die Erkenntnis der Wahrheit bedeutungslos sind.
Die eigene Aufmerksamkeit ins Hier und Jetzt zu verlagern, ist also eine spirituelle Übung, die zur Vorbereitung auf die Suche nach der Wahrheit – oder diese begleitend – äußerst sinnvoll ist. Daher auch die große Bedeutung, die auf den östlichen Wegen der Meditation zukommt.
Allerdings ist es durchaus nicht immer sinnvoll, den Verstand aufs Hier und Jetzt zu fokussieren. Den im vorletzten Essay beschriebenen Loslassern, beispielsweise, nützt es gar nichts. Aber auch viele andere profitieren nicht zu allen Zeiten und unter allen Umständen von einer Ausrichtung aufs Hier und Jetzt. Wenn die Ausrichtung nämlich zur Fixierung wird, dann entsteht Stillstand – ganz abgesehen von der unausweichlichen Frustration des Übenden, weil der Mind sich nicht dauerhaft irgendwohin richten lässt. Eine Fixierung aufs Hier und Jetzt kann ebenso zur Sackgasse werden wie die Fixierung aufs Loslassen[1], auf Stille[2], auf Meditation[3] und vieles andere mehr.
Nicht umsonst gilt im Advaita Vedanta das Rajoguna als dem Tamoguna überlegen. Rajoguna ist zukunftsorientiert, aber es ist eindeutig besser, überhaupt irgendetwas zu tun, als in Bewegungslosigkeit zu verharren, die tamasische Tendenz. Zweifellos ist man im tamasischen Zustand im Hier und Jetzt, aber es ist ein relativ unfruchtbarer Zustand und nicht zu vergleichen mit dem Sattvaguna, das dem Rajoguna übergeordnet ist (siehe das Essay über die Gunas: Gewebe der Schöpfung – Gunas).
Je nachdem, von welcher Mind-Ebene man ins Hier und Jetzt „geht“, stellt sich dieses unterschiedlich dar und ist vor allem unterschiedlich hilfreich für den Wahrheitssucher. Der Loslasser beispielsweise, der zwanghaft im Hier und Jetzt ist und dem das Moment „Vorsorge“ völlig fehlt, profitiert davon, seinen Blick auf die Zukunft zu lenken. Die Zukunft im Blick zu haben, hat nämlich einiges für sich. Wenn man in der Lage ist, negative Zukunftsmöglichkeiten wahrzunehmen, dann kann man sich rechtzeitig darum kümmern, dass sie einem selbst und anderen nicht allzu sehr schaden. Und wenn man positive Zukunftsmöglichkeiten vor Augen hat, dann wirkt das enorm motivierend und beschert einem den Mut und die Freude daran, Situationen zu verbessern.
Es gibt Menschen, die zwar gesammelt und achtsam und offensichtlich in der Gegenwart sind, die aber irgendwie langweilig wirken. Oder Menschen die ganz im Hier und Jetzt sind, sich dabei jedoch ständig nur um sich selbst drehen. Oder Menschen, die gelassen und liebevoll im Jetzt ruhen, denen aber eine gewissen Wachheit oder Klarheit fehlt. Oder Menschen, die ihr Leben total gut auf die Reihe kriegen, weil sie immer alles im Blick haben und auch sofort angehen, mit denen man aber doch lieber nicht tauschen möchte, weil einem das einfach zu anstrengend wäre.
Alle diese Menschen sind auf ihre Weise im Hier und Jetzt, und doch fehlt allen irgendetwas – was uns vermuten lässt, dass sie wahrscheinlich noch auf dem Weg und nicht etwa am Ende des Weges angelangt sind. Auf jeden Fall verkörpern sie nicht das, was man sich durch die Ausrichtung aufs Hier und Jetzt erhofft. Das bedeutet, dass es offensichtlich nicht wirklich das Hier und Jetzt ist, das man anstrebt, selbst wenn man es so nennt. Was man anstrebt, ist „ein Leben in der Zeitlosigkeit“. Tatsächlich ist das Jetzt das, was der Zeitlosigkeit am nächsten kommt. Aber das Jetzt ist vorstellungsmäßig immer noch zwischen Vergangenheit und Zukunft angesiedelt, während die Zeitlosigkeit alle drei Konzepte – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft –transzendiert.
Daher ist es nicht ganz richtig zu sagen, der Erleuchtete sei immer im Jetzt. Richtig ist, dass er in der Zeitlosigkeit lebt. Genauso wenig ist er immer im Hier – er ist jenseits von Raum und Zeit.
Die Ausrichtung auf das Hier und Jetzt ist in bestimmten Stadien der Suche und für bestimmte Menschen eine nützliche Übung. Aber es ist ein Irrtum zu glauben, dass man durch die Ausrichtung aufs Hier und Jetzt die Erleuchtung auslösen kann. Man versetzt lediglich den Mind in einen entspannteren Zustand, was das Erkennen dessen, was man in Wahrheit ist, erleichtert. Die Fokussierung aufs Hier und Jetzt ist kein Patentrezept, an das sich jeder immer und unter allen Umständen zu halten hat. Vielmehr kann eine Fixierung aufs Hier und Jetzt die oben beschriebenen Hier-und-Jetzt-Zustände festzementieren, die die spirituellen Entwicklung und Erkenntnis blockieren und einen auch sonst im Leben irgendwie blutleer und flügellahm macht. Manche, die seit vielen Jahren auf einem spirituellen Weg sind, fühlen sich mittlerweile geradezu depressiv, weil sie ohne es so benennen zu können, wie gefangen im Hier und Jetzt sind.
Sie brauchen genau das Gegenteil von einer Ausrichtung aufs Hier und Jetzt.: Sie brauchen eine Zukunftsperspektive. Diese besteht in zweierlei: zum einen muss man erkennen, dass die eigene Praxis, wie immer sie geartet ist, einen offensichtlich nicht mehr weiterbringt. Man muss also bereit sein, sie in Dankbarkeit loszulassen. Zum zweiten, und das ist unabdingbar: Man muss bereit sein, nach etwas Besserem Ausschau zu halten, und das heißt, sich noch einmal auf die Suche machen. Möglichst mit Entdeckerfreude, in Eigenverantwortung, Unterscheidungsfähigkeit und der Zuversicht, dass das gesuchte Bessere ganz bestimmt irgendwo auf einen wartet.