Moksha – Freiheit

Moksha, die Erkenntnis dessen, was er in Wahrheit ist, macht den Menschen frei, und Freiheit ist für viele ein äußerst verlockendes Ziel. In diesem Essay will ich weniger darauf eingehen, wie man Moksha erreicht, denn das ist im Wesentlichen Thema aller Essays. Hier geht es vielmehr um den Versuch einer Antwort auf die Frage, die meine Schüler immer wieder stellen: Und wie ist das dann?

Die Erkenntnis dessen, was man wirklich ist, verändert die eigene Sicht. Worauf? Auf alles. Warum? Weil sie eine nie dagewesene Erkenntnis ist, ist auch das, wie man mit ihr aufs Leben schaut, nie da gewesen. Es ist komplett neu und anders als alles, was man bis zu diesem Zeitpunkt kannte.

Es ist aber nicht deshalb neu und anders, weil es noch nie da war. Die Erkenntnis ist neu, nicht aber das, was ich erkenne. Das, was ich erkenne, war schon immer da und geht nie verloren. Es ist ewig.

Plötzlich oder schrittweise?

Ist es eine plötzliche oder allmähliche Erkenntnis? Die Antwort: Nicht „oder“, sondern „und“. Das heißt, es ist eine allmählich immer deutlicher werdende Erkenntnis, die Wahrheit kristallisiert sich immer klarer heraus. Und es gibt einen Punkt ohne Rückkehr, der einmalig ist – nur in dem Sinne könnte man sie als plötzlich bezeichnen.

Da der Perspektivwechsel schon lange im Gange ist, wird dieser Punkt nicht immer als Punkt ohne Rückkehr erkannt – was ihm überhaupt keinen Abbruch tut. Irgendwann wissen wahrscheinlich die meisten: Seitdem bin ich komplett frei. Doch diesen Zeitpunkt zu erkennen, ist vollkommen unerheblich.

Denn es geht um die „Freiwerdung“, und diese beginnt lange, lange vorher. Weil die Erkenntnis allmählich ist, ist auch der Perspektivwechsel allmählich. Zuerst verlagert sich die Identität weg von Wünschen, Hoffnungen, Anliegen, die sich alle um das drehen, worum es nicht geht, hin zu einer klaren Prioritätensetzung: Ich will Moksha und werde alles einsetzen, um mich als das zu erkennen, was ich bin.

Erst wenn diese Priorität da ist, intensiviert sich das Teaching, und man entschließt sich, darauf zu vertrauen, dass es dieses Teaching ist, was Moksha möglich macht. Man geht davon aus: Wenn ich mich diesem Teaching aussetze und Zeit und Energie hineingebe, dann verlagert sich meine Identität mehr und mehr weg vom separaten Ich, hin zum wahren Selbst – bis zu dem Punkt, wo sie sich komplett ins wahre Selbst hinein auflöst. Hierüber gibt es einige Essays und auch jede Menge Essays über die neuen Perspektiven, die sich einem auf dem Weg eröffnen.

Doch die Essays können das Teaching nicht ersetzen. Wie im letzten Monat beschrieben, folgt das Teaching einem System, es ist eine Methodologie. Die Essays sind nur Momentaufnahmen, inspirierend, doch Moksha bringen sie einem nicht. Es ist das Teaching, das den Prozess der Freiwerdung in Bewegung bringt und in Bewegung hält. Wie lange? Bis Moksha da ist.

Die Früchte der Erkenntnis

Sobald die Erkenntnis komplett ist, stellen sich auch die Früchte der Erkenntnis ein. Und was heißt komplett? Komplett heißt, die Erkenntnis ist auf zwei Ebenen da: intellektuell und emotional. Intellektuelle Klarheit ist ein: Ich weiß genau, was ich bin – außer manchmal, momenteweise, in bestimmten Situationen. Die intellektuelle Erkenntnis ist also keine bloße Theorie, aber sie ist noch nicht stabil.

Das liegt daran, dass die Erkenntnis die emotionale Ebene noch nicht durchdrungen hat. Intellektuell ist man schon frei, aber emotional noch nicht. Die vollständige emotionale Klärung erfolgt also nach der intellektuellen Erkenntnis. Erst durch die emotionale Klärung wird die Erkenntnis in jeder Lage bestehen bleiben, egal, wie schwierig eine Situation sein mag. Dabei bemisst sich die Schwierigkeit individuell. Für den einen mögen bestimmte Menschen schwierig sein, für den anderen Krankheit, für einen dritten Misserfolg oder Ablehnung. Was immer es ist, der Prozess, der noch nötig ist, heißt Nididhyasana und ist, bis auf sehr wenige Ausnahmen, für alle Menschen unumgänglich, damit die Erkenntnis komplett wird.

Welche Früchte?

Es gibt unendlich viele wundervolle köstliche Früchte, die Moksha mit sich bringt. Hier möchte ich zwei dieser vielen Früchte herausgreifen, die ich für besonders kennzeichnend halte, und die sich oft auch schon deutlich bemerkbar machen, bevor der Nididhyasana-Prozess komplett abgeschlossen ist: die Freiheit von Angst und die Freiheit von Wünschen. Beide hängen ursächlich zusammen, denn wenn man keine Wünsche mehr hat, hat man auch keine Angst mehr, dass etwas passiert, was den eigenen Wünschen zuwiderlaufen würde. Durch Nididhyasana wird sich die Freiheit von Angst und von Wünschen noch vertiefen und am Ende in kompletter Freiheit von beidem münden.

Freiheit von Angst ist dabei für die meisten ein einleuchtender Bonus, den sie lieber heute als morgen erleben möchten. Ganz anders verhält es sich mit der Freiheit von Wünschen. Die Vorstellung von Wunschlosigkeit ist oft behaftet mit der Vorstellung von Freudlosigkeit und Farblosigkeit. Man meint, das Leben werde dann eintönig, saft- und kraftlos, die eigene Gefühlslage trocken, stumpf und gleichgültig, das eigene Verhalten passiv, schwunglos und ohne Engagement.

Wünsche sorgen doch dafür, das sich etwas bewegt, sie bringen Abwechslung ins Leben! Man glaubt, dass wenn Wünsche verschwinden, die Lebendigkeit an sich verschwindet.

Andererseits möchte jeder nichts lieber als wunschlos glücklich sein. Gleich vorweg: Um diese Art der Wunschlosigkeit geht es.

Warum also halten die meisten an ihren Wünschen fest? Der Grund ist ein Mangel an Vertrauen und daher ein Mangel an Hingabe. Die Vorstellung hinter dem Festhalten ist so:

Wenn ich nichts mehr wünsche, dann werde ich auch nichts mehr dafür tun, dass meine Wünsche in Erfüllung gehen. Und wenn ich nichts mehr tue, dann werden sie auch nicht in Erfüllung gehen.

Tatsächlich handelt es sich also gar nicht um ein Festhalten an den eigenen Wünschen, sondern um ein Festhalten an deren Erfüllung. Genau diese Haltung verändert sich mit Moksha.

Der Mind des Erleuchteten

Der Mind dessen, der die höchste Freiheit erlangt hat, dieser Mind hat weiterhin Wünsche. Wenn man gut vorbereitet ist, dann werden diese Wünsche relativ frei von Egoismus und von Fixierungen sein. Hier lohnt es sich, im Essay 9/2017 noch mal über die Fixierungen zu lesen, die jeglicher Erkenntnisfähigkeit der Buddhi einen Riegel vorschieben können (siehe Buddhi-Fitness-Training) und daher die Erkenntnis meist ohnehin verhindern.

Dass der Mind weiterhin Wünsche hat, bewirkt, dass auch der Erleuchtete handelt, denn es ist richtig, dass es die Wünsche sind, die für Bewegung im Leben sorgen. Wünsche sind so lange da, bis das Leben zuende ist, denn sie sind Teil vom individuellen Karma-Paket, das jeder mit ins Leben bringt (siehe Essay 11/2011, Karma). Dieses so genannte Prarabdha-Karma ist im Leben jedes Lebewesens wirksam.

Der Mind des Erleuchteten hat also weiterhin Wünsche. Aber er weiß ohne jeden Zweifel, dass das, was sein Mind produziert, mit ihm selbst nicht das Geringste zu tun hat. Da steigt vielleicht der eine oder andere Wunsch im Mind auf, man nimmt ihn zur Kenntnis, und wenn man es für richtig hält, handelt man nach ihm. Doch was immer dann passiert, es ist in Ordnung, d.h. es ist vollkommen in der Ordnung, von der man sich ungetrennt weiß. Vielleicht macht man noch weitere Versuche, den Wunsch zur Erfüllung zu bringen, aber auch dann ist damit keine Anspannung verbunden, weil keine Fixierung.

Wer weiß, was er wirklich ist, ist zuhause in dem, was absolut wahr ist, in der absoluten Realität. Es gibt aber auch eine relative Realität, und dazu gehört das Körper-Geist-System, das normalerweise nach der höchsten Erkenntnis weiterlebt. Nach der Erkenntnis glaubt man zwar nicht mehr an diese relative Realität, aber sie präsentiert sich einem, und das relative Körper-Geist-Wesen geht mit der relativen Realität um.

Gleichzeitig weiß der Erleuchtete, dass das, was dieses relative Körper-Geist-Wesen erlebt, wie es handelt, was es fühlt und denkt, bestimmt ist vom Prarabdha-Karma. Auf der relativen Ebene hat man alles erreicht, was es zu erreichen gibt; man ist am Ende der spirituellen Suche angekommen. Auf der absoluten Ebene gibt es nichts zu erreichen, weil alles da ist, reinste Fülle, Überfluss und das Ganze ewig. In tiefstem Frieden lässt man sich innerlich in das hineinfallen, was man ist, und schaut sich an, wie der Film des eigenen Prarabdha-Karmas zu Ende geht. Vielleicht ist der Film noch lang oder nur ganz kurz, vielleicht ist es ein Drama oder die Handlung plätschert beschaulich vor sich hin, vielleicht ist es ein Abenteuerfilm oder eine Komödie, vielleicht gar ein Krimi oder Kriegsfilm – alles ist möglich. Doch der, der dem Film zuschaut, ist frei vom Film und weiß um sich als reines Sein-reines Bewusstsein-Grenzenlosigkeit.