Frieden und Freiheit scheinen zusammen zu gehören. Jedenfalls finden wir Freiheit in Kombination mit Unfrieden nicht besonders erstrebenswert. Genau so wenig wertschätzen wir Frieden in Kombination mit Unfreiheit. Wir wollen beides zusammen und zwar möglichst viel von beidem. Aber wie kann man Frieden und Freiheit herstellen? Um diese Frage zu beantworten, lohnt es sich, herauszufinden, wie diese beiden Werte zueinander in Beziehung stehen und womit man am besten beginnt, wenn man sie herstellen will.

Zweierlei Freiheit

Freiheit ist ein hoher Wert, besonders in unserer westlichen Kultur. Das war nicht immer so und ist auch nicht automatisch in allen Kulturen der Erde so. Freiheit ist also ein relativer Wert, auch wenn wir dazu neigen, ihn für einen absoluten Wert zu halten.

Auch fürs Advaita Vedanta gibt es nichts Erstrebenswerteres als Freiheit. Man nennt diese Freiheit Moksha oder Jivanmukti, und sie zu erlangen ist tatsächlich der Sinn des Lebens: Moksha/Jivanmukti ist das höchste Ziel für jeden, der das Vedanta studiert. Doch ist damit etwas komplett anderes gemeint als das, was die heutige westliche Welt unter Freiheit versteht.

Für die westliche Welt bedeutet Freiheit größtmögliche individuelle Freiheit. Das vom Advaita Vedanta angestrebte Moksha dagegen ist die Freiheit vom Individuellen, nicht des Individuellen. Das wahre Selbst ist immer schon frei von der Illusion des individuellen Ichs. Moksha bedeutet, sich endgültig auf die Seite des wahren Selbst zu stellen, statt in der Identifikation mit dem individuellen Ich zu verbleiben.

Aber ob man nun versteht, was Moksha ist oder nicht, eins ist sicher: Der Wert Moksha, die Freiheit vom Individuellen, hat mit dem westlichen Wert, der Freiheit des Individuellen, nichts zu tun. Denn wer das Individuelle hinter sich lassen will, für den ist die Freiheit des Individuellen natürlich kein Wert, und umgekehrt, wer individuelle Freiheit hochhält, hat kein Interesse an der Überwindung des Individuellen. Der Vergleich dieser beiden Freiheitsmodelle führt uns also nicht weiter.

Daher nähern wir uns dem Thema auf andere Weise und bleiben erst einmal beim Vertrauten, dem, was jeder von uns kennt, was jeder liebt und wovon er oder sie so viel wie möglich haben möchte: individuelle Freiheit. Der Wert „individuelle Freiheit“ lässt sich subsumieren unter: „Ich darf sagen und tun, was ich will – auch wenn es vielleicht falsch oder dumm ist.“ Diese Freiheit bedeutet also eigentlich, so viele Freiheiten zu haben, wie möglich. Warum? Man nimmt an, dass sie einem Frieden verschaffen werden, Zufriedenheit und Glück.

Dharma

Betrachten wir nun im Vergleich zum Wert der individuellen Freiheit – nein, nicht das ominöse Moksha – sondern den Wert von Dharma. Dharma ist und bleibt höchster Wert im Vedanta, den auch der hochhält, der Moksha bereits erlangt hat.

Über Dharma gibt es mehrere Essays, und wer nicht mehr genau weiß, was es damit auf sich hat, wird sich nach dem Lesen dieser drei wieder erinnern:

Dharma und Moksha

Das, was trägt

Erfüllung finden

Dharma hat mehrere Bedeutungen, ich beziehe mich hier auf die gängigste: Ethik. Dharma oder Ethik ist weitgehend kulturübergreifend und kann durch das einfache „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“ auf den Punkt gebracht werden. Wozu dient Dharma? Es dient dazu, Frieden in den eigenen Mind zu bringen, einen Frieden, der sich dann auch dem eigenen Umfeld mitteilt.

In der dem Vedanta zugrunde liegenden vedischen Kultur werden eine ganze Reihe von Werten aufgelistet, die das Dharma unterstützen und somit jedem einzelnen spirituellen Sucher dienlich sind. Wir bleiben in unserer Betrachtung also auf der Ebene des Individuellen und vergleichen die Werte der westlichen Kultur mit denen der vedischen Kultur.

In der vedischen Kultur geht es nicht darum, dass der Einzelne tun kann, was ihm/ihr gefällt, sondern dass jeder einzelne sich frei macht von Haltungen, die Frieden verhindern – sowohl individuell als auch gesellschaftlich. Insofern geht es beispielsweise darum, sich frei zu machen

von Arroganz,

von Heuchelei,

von Gewalt in jeder Form,

von Neid und Eifersucht,

von Illusionen,

von Gier,

von der Identifikation mit den eigenen Vorlieben und Abneigungen,

von Ich-Bezogenheit,

von emotionalen Abhängigkeiten,

von einem überreagierenden Mind

usw. usw.

Nun ist es ja nicht so, dass solche Werte nicht auch in der westlichen Kultur geschätzt würden, allerdings ist die Abwesenheit von „individueller Freiheit“ im vedischen Denken bemerkenswert, eben weil sie hier im Westen so enorm wichtig ist. Da es sich, bei den oben genannten, jedoch um Werte handelt, die den Sucher letzten Endes in Richtung Moksha weisen, ist die Abwesenheit von individueller Freiheit folgerichtig: Es geht im Dharma vor allem darum, den Ausdruck des Individuellen so zu verfeinern, dass es mehr und mehr im Einklang mit dem großen Ganzen ist.

Das große Ganze

Mit welchem großen Ganzen soll man in Einklang kommen? Wie man an den oben aufgezählten Werten sieht, spielt das keine Rolle. Genau dort, wo man sich gerade befindet, kann und sollte man diese Werte leben. Das große Ganze fängt da an, wo die Luft meine Haut berührt, und aufhören tut es überhaupt nie, denn wir wissen ja: Das Universum dehnt sich ständig aus. 🙂

Hier im Westen heißt es „Die Freiheit des Einzelnen endet da, wo die Freiheit der anderen beschnitten wird.“ Das hört sich gut und edel an. Allerdings ist diese Aussage nur theoretisch gut und edel. Denn was macht man in der Praxis, wenn das eine Individuum sich durch den Ausdruck dessen, was ein anderes Individuum sagt und tut, in seinen Freiheiten beschnitten fühlt? Und wenn dies auch noch auf Gegenseitigkeit beruht? Eine in sich zerstrittene Gesellschaft wäre die Folge, wenn zu viele Menschen „Ich darf sagen und tun, was ich will“ vertreten. Und wenn sie obendrein die Freiheit der anderen zur Beschneidung ihrer eigenen erklären, facht das die Streitigkeiten nur noch an.

Aber das muss nicht so sein. Mit einem gemeinsamen Wertesystem, dem alle verpflichtet sind, kann man sich „Ich darf sagen und tun, was ich will“ in Kombination mit „Die Freiheit des Einzelnen endet da, wo die Freiheit der anderen beschnitten wird“ leisten. Denn wenn sich alle an gemeinsame Werte halten, ist klar definiert, wo die Freiheit des Einzelnen aufhört und die Freiheit der anderen beginnt. Doch dieses gemeinsame Wertesystem ist bei uns nicht mehr stabil, weil in zu vielen Bereichen der Wert der individuellen Freiheit die anderen Werte entwertet.

Welche Werte? Zum Beispiel alle oben aufgelisteten: Freiheit von Arroganz, Freiheit von Heuchelei, Freiheit von Gewalt in jeder Form, Freiheit von Neid und Eifersucht, Freiheit von Illusionen, Freiheit von Gier, Freiheit von der Identifikation mit den eigenen Vorlieben und Abneigungen, Freiheit von Ich-Bezogenheit, Freiheit von emotionalen Abhängigkeiten, Freiheit von einem überreagierenden Mind usw. usw.

Es sind solche Werte, die Frieden schaffen. Ohne sie, ohne das Dharma, wird der Wert der individuellen Freiheit nur Streit und Spaltung hervorbringen.

Frieden

Warum und wie schaffen diese Werte Frieden? Weil sie dem Individuum die Verantwortung übergeben: Jede/r Einzelne ist aufgerufen, diese Werte zu leben. Das erfordert Selbstreflektion, Objektivität und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber und zeigt sich im Mut zur Demut denen gegenüber, die diese Werte leben. Geht es dagegen vorrangig um individuelle Freiheit, dann kann diese einem entweder schon zur Verfügung stehen, oder man muss sie sich erkämpfen. D.h. solange alles gut läuft, und jeder ausreichend individuelle Freiheiten hat, herrscht so etwas wie Frieden. Wenn diese Freiheiten jedoch vermindert werden, entbrennt sofort Kampf und Streit, weil jeder sich aufgerufen fühlt, seine individuelle Freiheit zu behaupten. Ich erinnere nur an die Schlachten um Toilettenpapier, Dosensuppen und Haferflocken in westlichen Supermärkten zu Beginn der Pandemie.

Wir meinen, dass das normal ist. Ist es aber nicht. Wenn sich jeder als höchste Werte die erwähnten dharmischen Werte auf die Fahnen geschrieben hätte, dann gäbe es bei Einschränkungen der individuellen Freiheit eine andere, reifere und überlegtere Reaktion. Man könnte sich die Beschränkungen anschauen und darüber nachdenken, ob der Wunsch, sie außer Kraft zu setzen berechtigt ist oder ob er vielleicht auf Arroganz (ich weiß es aber besser) beruht oder auf Illusion (ist doch alles komplett unnötig), auf Gier (ich brauche dies oder das einfach) oder auf einem überreagierenden Mind (das macht mir Panik, ich bin empört, ich muss mich wehren, egal wie). Davon, dass die Identifikation mit den eigenen Vorlieben und Abneigungen eine Rolle spielt, kann man ohnehin schon mal ausgehen.

Diejenigen mit diesen Werten werden natürlich nicht automatisch zu Heiligen. Dennoch, je mehr Menschen bereit wären, das Dharma zur Leitschnur ihres Lebens zu machen, desto einfacher wird es für alle, es ebenfalls zu tun. Deshalb das (unrealistische) Szenario von einer Gesellschaft, in der das Dharma allgemeinverbindlich ist. Dieses umfasst noch ein paar mehr als die erwähnten Werte, nur, wie gesagt, individuelle Freiheit ist nicht dabei.

Kurze Erinnerung: Das Dharma ist kein exotisches Wertesystem. Es bedeutet: Behandle andere so, wie du behandelt werden möchtest und nicht so, wie du nicht behandelt werden möchtest. Alle Werte, die diese Haltung unterstützen, gehören zum Dharma.

Freiheit und Vedanta

Im Vedanta betrachtet man Freiheit aus einer grundlegend anderen Perspektive: Der Mensch hat nur begrenztes Wissen, das heißt, es obliegt grundsätzlich seiner Verantwortung, sich im Ausdruck seines freien Willens zurückzuhalten. Er sollte seinen freien Willen jeweils denen unterordnen, von denen er dazulernen kann. 1 

Was bedeutet das für den Einzelnen? Der Mensch wird erst einmal aufgefordert, seine grundlegende Begrenztheit anzuerkennen, und daher immer in Betracht zu ziehen, dass der Ausdruck seiner individuellen Freiheit schädlich sein könnte – für ihn selbst und/oder für andere. Und sich dann umzuschauen nach Menschen, die es vielleicht besser wissen und von ihnen zu lernen. Doch wie findet der Einzelne, in seinem begrenzten Wissen, solche Menschen? Wieder hängt alles am Dharma. Denn nur die, die das Dharma leben, also die oben aufgezählten Werte umsetzen, nur sie sind vertrauenswürdig. Nicht jedoch der, der vor allem einen Wert kennt „meine individuelle Freiheit“ – ein Wert, der ohne die anderen, nur Kampf und Streit hervorbringt.  

Nun zu den Lesern dieser Seite: Die Wahrheitssucher sind nicht auf dieser Welt, um die Welt zu verbessern. Das heißt, es ist nicht ihre Aufgabe, die Erosion der gemeinsamen Werte in unserer Gesellschaft zu beheben. Sich selbst jedoch an diese Werte zu halten, sie zu verinnerlichen, sie zu leben, wird nicht nur ihnen, sondern wird auch ihrer Umgebung dienen.

Während sich im Westen alles um das individuelle Ich dreht, geht es im vedischen Denken immer darum, dieses Ich in Harmonie mit etwas Größerem zu bringen und den Menschen letztlich, am Ende des Weges, über alle Begrenzungen des Individuellen hinauszuweisen. Erst das Wissen um die Einheit allen Seins ist echte Freiheit und wahrer Frieden.

Fazit: Sowohl in der Gesellschaft als auch im individuellen Mind ist es notwendig, zuerst Frieden zu schaffen und dann erst individuelle Freiheit. Denn wenn man es umgekehrt versucht und mit der individuellen Freiheit beginnt, hat man die Chance auf Frieden verspielt. Warum? Frieden in der Gesellschaft schafft man durch ein allgemeinverbindliches Wertesystem im Sinne des Dharma. Frieden im eigenen Mind schafft man ebenfalls dadurch, dass man sich diesem Wertesystem verschreibt.

Nur in dem Maße, wie solch ein Wertesystem vorhanden ist, kann individuelle Freiheit sich entfalten, ohne dass der Frieden in der Gesellschaft oder im eigenen Mind auf dem Spiel steht. Und für die Wahrheitssucher gilt: Nur in dem Maße, wie das Dharma im eigenen Mind etabliert ist, stellt sich auch die höchste Freiheit, Moksha/Jivanmukti ein.

Weitere Essays zum Thema:

Mut zur Demut

Frei sein

Das Ich aufs Spiel setzen

So alt wie das Universum

Fußnote:

  1. Swami Paramarthananda auf die Frage “What is freedom in Vedanta”: Human being has free will, choice, that means because the human being has limited knowledge, he is advised to submit his free will to an appropriate guide. His responsibility is self-restraint in operating his free will.